Der Giftheiner

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der Giftheiner
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

KARL MAY
DER GIFTHEINER

ERZGEBIRGISCHE

DORFGESCHICHTE

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 43

„AUS DUNKLEM TANN“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1334-1

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

Der Giftheiner

Der Vogelsteller

Das alte Lied

Der Teichbauer

Zwei Werbungen

Das Gift

Eine Schlittenfahrt

Weihnachtsfrieden

Der Giftheiner
Der Vogelsteller

Es war ein wunderschöner Frühlingsmorgen, so warm und so sonnig, wie nur selten einer im Gebirge. Der freundliche Sonnenstrahl trank die glänzenden Tautropfen von den jungen Pflanzenspitzen und ließ die Nebelballen in wunderlichen Gestalten von Tal zu Berg steigen. Die schon längst aus dem Süden zurückgekehrten befiederten Sänger des Waldes hatten ihr Frühkonzert begonnen und ließen sich in ihrem fröhlichen Gezwitscher durch den Mann, der am Rand der Waldwiese an einem Baum lehnte, nicht stören. Er achtete ihrer ja auch nicht, sondern schaute so ernst und gedankenvoll in die blaue Ferne, als ob die Nähe mit ihrem blühenden, duftenden und jauchzenden Leben für ihn nicht vorhanden sei.

Doch ja, sie schwiegen plötzlich; er hatte seine Stimme erhoben und ließ ihren herrlichen Tenor mit einer Fülle ertönen, die die Vögel verstummen ließ und wie heller Glockenklang über die Wipfel des zur Tiefe sich senkenden Waldes hinflutete.

„So schwer wie der Fichtelberg

Ist mir das Herz,

Und so hoch wie der Fichtelberg

Wächst mir der Schmerz.

Es fließt von dem Fichtler

Manch Wasser ins Meer

Und kommt dann im Regen

Und Tau wieder her.“

Die Vögel fielen am Schluss der Verse beifällig und mit verdoppeltem Eifer in ihre Weisen; er schien es nicht zu hören. Er sah auch nicht, dass ein anderer sich ihm näherte und lauschend hinter ihm stehen blieb.

„Ich stand auf dem Fichtelberg,

Gab ihr die Hand;

Sie ging von dem Fichtelberg

Fort in das Land.

Nun fällt von dem Fichtler

Manch sehnender Blick

Und bringt aus der Fern doch

Nur Tränen zurück.“

„Bravo, bravissimo!“, ließ sich der unbemerkte Horcher jetzt hören. „So eine Stimme wie dem Giftheiner seine gibt’s net wieder, so weit der Fichtler schaut, und so schöne Reim bringt erst recht gar niemand net fertig. Die Liebste ist ihm ausgerissen und hat ihm die Treu gebrochen; darum singt er nun den Fichtelberg an und weint Honig dazu. Warum weinst net Schwefelsäure oder Salpeterwasser? Das wär doch besser zu brauchen!“

Der Sänger hatte sich ihm zugewandt und, ohne eine Miene zu verändern, ihn aussprechen lassen. Dann aber fasste er ihn mit einem unerwarteten Griff bei der Brust, drückte ihn an den Stamm des nächststehenden Baumes und bearbeitete seine Wangen so kräftig mit der flachen Rechten, dass der Schall der Streiche weithin vernehmbar war.

„So, da hast’s Geld für deine schöne Red, Kartenbalzer! Ist’s genug, oder willst du noch mehr?“

Die Ohrfeigen waren so überraschend schnell und ohne alle vorhergehende Einleitung über den Getroffenen hereingebrochen, dass er gar keine Zeit gefunden hatte, sich auf die Gegenwehr zu besinnen. Er schien diese auch nicht für ratsam zu halten, denn kaum fühlte er sich von der starken Faust, die ihn gehalten hatte, befreit, so wich er, die Hände an das erglühte Gesicht legend, behutsam um einige Schritte zurück.

„Was tust mit mir, Giftheiner?“, sprudelte er hervor. „Vergreifen tust dich an mir? Das soll dir vergolten werden; merk dir die Schläg!“

„Da gibt’s net viel zu merken. Kannst sie ungezählt bekommen, so oft du’s nur begehrst. Wenn du Appetit darauf hast, so darfst nur den Namen sagen, mit dem du mich vorhin gerufen hast.“

„Ist das etwa net der Richtige für dich, he? Wer hat denn dem Kantor das böse Zeug ins Gesicht gegossen, sodass es ihm fast ganz weggefressen worden ist? Vom Himmel ist’s doch wohl net herabgeregnet, und es hat sich ja herausgestellt, dass du am Tag vorher in der Apothek gewesen bist!“

„Kartenbalzer“, entgegnete der andere ruhig, aber mit funkelnden Augen, „ich will’s net so machen wie du und deine Spießgesellen, dass ich die Schuld auf jemand werf, dem ich doch nix beweisen kann; aber ich sag dir, die Sonn’ bringt’s schon noch an den Tag, wer’s getan hat, und dann wird auch der Zahlaus net auf sich warten lassen. Es sagen viele Leut, du seist der schlechteste Kerl weit und breit im Land herum, ich aber weiß dies besser: net die Bosheit, sondern der Leichtsinn hat dich verführt und ins Unglück gebracht. Doch merk, der Leichtsinn ist gefährlicher als die Bosheit und kann net wie sie gebessert werden, denn ihm fehlt der feste Halt dazu. Dir geht das Wasser schon bis an den Mund und wird noch vollends über dir zusammenschlagen, wenn der liebe Gott nicht auf ganz besondere Weis’ Erbarmen mit dir zeigt. Das Aug’, von dem die Bibel spricht und das dich ärgert, muss heraus und unschädlich gemacht werden, sonst gibt’s keine Rettung mehr für dich. Geh fort, Balzer; du hast mir nix als Übles zugefügt, aber wenn ich dran denk, was du warst, und dich jetzt grad wie den armen Sünder vor mir seh, so kannst mich fast dauern!“

Es war so, wie die letzten Worte sagten. Der Angeredete stand mit niedergeschlagenen Augen vor dem Sprecher, und die Röte, die sich von den Wangen bis über seine Stirn verbreitete, hatte wohl außer der empfangenen Züchtigung auch noch eine andere, eine innere Ursache. Aber wie ihm vorher der Mut zur Gegenwehr entgangen war, so fehlte er ihm auch jetzt zur ehrlichen Selbsterkenntnis, und bei der Erinnerung an die Vergangenheit bäumte sich der falsche Stolz in ihm empor.

„Was ich gewesen bin, das brauchst mir net zu sagen! Der Teichbauer war ich, wenn du nix dagegen hast, und den Teichhof hab’ ich vertrunken und verspielt, net aus Leichtsinn, wie du meinst, sondern weil ich’s grad so und net anders gewollt hab’. Und daran ist weiter niemand schuld als du! Du hast mir die Alwin’ abspenstig gemacht, und mir ist nachher alles gleich gewesen. Aber bekommen hast sie doch net, obgleich du schier durch Himmel und Höll gedrungen bist, und durch das Giftwasser ist’s denn gar aus geworden. Das Aug’ reiß ich mir deinetwegen noch lang net heraus, Heiner, und zu erbarmen braucht sich auch niemand über mich; ich werd schon allein mit mir fertig!“

„Das seh ich, und drum bin auch ich nun mit dir fertig! Behüt dich Gott, Balzer!“

„Aber ich noch net mit dir! Meine Rechnung streich’ ich net eher, als bis ich dich net mehr zu sehn vermag. Du hast aus dem Balthasar vom Teichhof den Kartenbalzer gemacht, nun sollst auch merken, dass ich ihn spiel’ bis auf den letzten Trumpf!“

„Spiel fort, Balzer. Wirst net viel Trümpf mehr haben!“

Er nahm den in ein Tuch eingeschlagenen Vogelbauer, der neben ihm gestanden hatte, von der Erde auf und entfernte sich. Der ehemalige Teichbauer blickte ihm finster nach und ballte hinter ihm die Faust.

Heiner schritt über die Wiese und durch den angrenzenden Wald nach einem freien, mit dürrem, vorjährigem Distelzeug bestandenen Platz.

„Pst“, klang es hinter einem dichten Dorngestrüpp hervor; „bleib stehn und rühr dich net!“

Der Angerufene folgte der Weisung und blickte forschend umher. Inmitten der kleinen Lichtung stand ein einzelner Strauch, dessen Zweigspitzen mit Leimruten besteckt waren; der Lockvogel saß am Boden in seinem Käfig, der den Blicken der misstrauischen Beute durch allerlei grünes Blattwerk entzogen war. Eben hatte sich ein Flug von Hänflingen auf dem Buschrand niedergelassen, und der hinter dem Dorngewirr verborgene Vogelsteller lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit den Stimmen der einzelnen Männchen unter ihnen.

„Hörst, Heiner, den da drüben auf der jungen Birk, was der für aan ‚Di — ee — bli — ee‘ hat? Der singt wie aan zweijähriger Alter und ist doch nur aan roter Frühjährling. Den muss ich haben!“

Nach einer kurzen Pause flüsterte er weiter:

„Schau, den dort auf dem Fichtenast, wie weich und zart dem sein klaanes Stimmchen klingt. Der ist vom letzten Herbst, und der Kenner zahlt wohl an die zwanzig Groschen für ihn. Ich muss ihn haben!“

Nach einem längeren Schweigen zeigte er nach der Spitze einer Tanne.

„Alle Wetter, Heiner, ist das aan Schlag, den der da oben hat! Das wird a Stellvogel, der die Flüge aus den Wolken runterzieht. Er ist unter Brüdern seine drei Taler wert; ich muss ihn haben!“

Wieder lauschte er.

„Hörst du was von dem unsrigen? Kaan Laut, net aan einziger Mux ist zu vernehmen. Doch jetzt, jetzt fängt er an. Horch! ‚Cha cha cha di dee, di di diibli — eee, cha cha cha!‘ So ist’s recht. Jetzt müssen sie alle auf die Ruten fallen! ‚Cha cha cha cha di — eee, cha cha — —‘ Was ist denn das? Ist denn der Racker net recht bei Trost? ‚Papp zapp zapp‘ brüllt er, und nun sind sie dort über alle Berge! Anstatt sie fein hübsch anzulocken, warnt er sie. Das ist doch grad zum Närrischwerden!“

 

Er fuhr aus dem Gedorn heraus und auf seinen Vogel zu, nahm den Käfig von der Erde und schüttelte ihn mit grimmiger Gebärde hin und her.

Heinrich oder vielmehr Heiner, wie der Gebirgler diesen Namen gern sich mundgerecht zu machen pflegt, folgte ihm lächelnd bis zu dem Rutenstrauch.

„Lass es gut sein, Vater! Der Vogel hat nix verbrochen; er ist nur gegen seinesgleichen ehrlich gewesen!“

„Aber gegen mich net, der Nixnutz der! Mit wem hat er’s denn zu halten, he, mit mir oder mit dem Vogelzeug? Bei wem steht er denn in Kost und Brot, und von wem bekommt er denn seine Wartung und Pfleg’, wie sich’s schickt und gehört, he? Doch von mir! Ich lieg nun seit vier Uhr auf der Lauer und hab noch nix gefangen, nix, gar nix, auch net einen einzigen Schwanz! Und warum? Entweder, wenn was kommt, so sitzt er drin, putzt sich und hält den Schnabel, oder er schreit ‚zapp, zapp‘ und jagt mir damit den besten Fang vom Busch. Er bekommt alle Tag dreimal frisches Wasser und seinen Rübensame, Lein und Hanf dazu, das grüne Knusperzeug gar net gerechnet; aber den kann ich mit Zervelatwurst, Eierpunsch und Schinkenknochen füttern, er bleibt doch bei seinem ‚Zapp!‘ Das muss anders werden, und er soll a Kur haben, die ihm den Kopf schon zurechtsetzen wird!“

Man sah es dem guten Alten an, dass es mit seinem Drohen nicht gar so schlimm gemeint war, als er tat. Der Ärger stand ihm so drollig zu Gesicht, dass sich über die ernsten Züge Heiners ein helles Lächeln breitete.

„Bei solcher Kost tät ich selber mit. Meinst net, Vater?“

„Sei still, Bub! Pfeifst auch immer anders, als ich will, und denkst allweil nimmer an das, was für uns gut und nötig ist. Fast erst um zwei Uhr war’s, als ich von zu Haus fort bin. Früher, als die Mutter noch lebte, da stand der Kaffee auf dem Tisch, die Frühstücksbemm war eingewickelt, und es gab aan freundlich Wort mit auf den Weg; da stieg sich’s gar lustig den Berg hinan, die Hantierung flog aus der Hand, und wenn ich heim kam, so wusst ich, was ich gefangen hatte. Wie aber ist’s jetzt heut und alle Tag? Von Kaffee kaane Red, von Frühstück kaane Red, von nix net kaane Red. Verdrossen schieb’ ich mich den Berg hinan, und kehr’ ich heim, so hab’ ich nix gefangen und setzt’ mich hin, stopf’ Strümpf oder setzt’ Flicklappen auf die zerrissne Wäsch’. Wo kaane Frau im Hause ist, da gibt’s nur eitel Unordnung und Ärgernis, und kommt dann gar noch so aan verwünschtes ‘Zapp‘ dazu, so ist’s gleich rein aus mit mir. Das muss anders werden! Hast’s gehört?“

„Ja. Aber warum nimmst dir denn kaane Frau, wenn dir’s allein net mehr gefällt?“

„Ich? Wieder heiraten? Bei dir rappelt’s wohl im Kopf! Das müsst wohl auch a schönes Weibsen sein, dem solch ein alter Fink noch gut genug wär, und das Herzeleid will ich meiner braven Alten net im Grab antun, dass ich mich mit meinem grauen Kopf noch gar verschamerier! Du weißt recht gut, wer an der Reih ist schon seit langer Zeit, aber du tust net dergleichen!“

„Ich find kaane, die mir passt, Vater!“

„Sei nur gleich still mit deinem Find und Passt, denn es steckt doch nix dahinter als die leere Ausred! Wer net sucht, der kann auch nix finden, und wer net findet, dem kann auch nix passen. Die Weiber fliegen aanem net wie die gebratenen Tauben in den Mund; möchten’s zwar gern, aber es schickt sich net für sie, und darum muss man doch wenigstens die Hand ausstrecken, wenn man aane haben will.“

Der Alte war auf sein Lieblingsthema gekommen, bei dessen Besprechung er kein Ende fand.

„Ich hab den Stieglitz mitgebracht“, meinte Heiner; „soll ich das Tuch fortnehmen?“

„Ja, ja, komm mir nur schnell mit dem Stieglitz dazwischen, wenn ich von der Frau anfang! Ich will nur lieber gleich den Mund halten und nach Haus gehn; fangen tu ich doch nix, und daheim gibt’s viel zu tun. Zu kehren und zu wischen, die Betten zu machen, einzufeuern und Kartoffeln zu schälen; man weiß vor lauter Arbeit net, wo man anfangen soll, und kommt auch nimmermehr zu End damit. Wo kaane Frau im Haus ist, da gibt’s nur eitel Unordnung und Ärgernis. Ich geh!“

Er nahm den Hänflingsbauer vom Strauch, schlug ein Tuch darüber und schritt brummend davon. Heiner hing den Stieglitz an die Stelle seines pflichtvergessenen Kameraden und nahm dann in dem Versteck seines Vaters Platz. Er hatte weniger auf seine äußere Umgebung als vielmehr auf die Regungen seines Innern Acht. Gerade an einem so wundervollen Frühlingsmorgen wie heute und unter demselben Baum, an dem der Kartenbalzer ihn vorhin überrascht, war das Scheidewort zwischen ihm und der schönen, trügerischen Kantorstochter erklungen. Sein tiefes, treues Gemüt hatte den Verlust nicht zu überwinden vermocht und darum einer zweiten Liebe niemals Raum gegeben. Darüber waren die Jahre vergangen, aber Heilung für das Weh seines Herzens hatten sie ihm nicht gebracht.

Die Stimme des Lockvogels weckte ihn aus seinen Träumen. Ein kleiner Gefangener flatterte ängstlich kreischend mit der anklebenden Leimrute von dem Busch zur Erde nieder. Er sprang auf und eilte hinzu. Die Freude über den Fang ließ ihn das Rauschen eines weiblichen Gewands überhören.

„Du musst doch aan recht böser Mann sein, dass du dem Tierchen net die Freiheit gönnst!“, klang eine sanfte, vorwurfsvolle Stimme neben ihm.

Er drehte sich um und fuhr beim Anblick eines jungen Mädchens wie vor einer Geistererscheinung mit abwehrenden Händen und weit geöffneten Augen zurück.

„Alwin’! Was tust du hier auf dem Fichtler?!“

Sie blickte ihn erstaunt an. „Mein Name ist net Alwin’, sondern Alma! Aber sag, warum erschrickst vor mir?“

„Weil — weil — weil ich dich net kenn’ und auch net gewusst hab’, dass außer mir noch wer zugegen ist.“

„Das sind doch kaane Gründ, sich vor mir so zu entsetzen“, meinte sie, ihn mit großen, braunen Augen prüfend überblickend. „Entweder du bist trotz deiner Körperstärk’ aan furchtsamer Bursch, oder es ist bei dir mit dem Gewissen net ganz richtig. Gib her den Vogel; ich werd’ ihn fliegen lassen!“

Er hatte sich von der bei ihrem ersten Anblick gezeigten Bestürzung erholt und lächelte jetzt über ihre entschiedene Art und Weise, mit ihm fertig zu werden.

„Das geht net so rasch wie du denkst, du klaaner General, du! Wer bist du denn eigentlich, dass du das Befehlen so gut verstehst?“

„Ich bin die Tochter von der neuen Teichbäuerin, die gestern eingezogen ist.“

„Und wie ist denn dein ganzer Name?“

„Alma Jergoff.“

„Das ist doch aan eigenartig’s Wort! Aus welcher Sprache mag’s wohl herkommen?“

„Mein Vater war ein Russ’, und wir haben bisher in Warschau gewohnt.“

„In Warschau? Das ist gar weit von hier. Woher hast du denn da die deutsche Sprach’ gelernt, und noch dazu so, wie wir sie hier im Erzgebirge sprechen?“

„Ich hab’ — ich bin — es war jemand in unserer Familie, der mit mir fast gar net anders geredet hat als eure Mundart. Und wer bist du denn?“

„Ich heiß’ Heinrich Silbermann; mein Vater ist der Vogelhändler unten im Dorf.“

Sie trat schnell einen Schritt zurück und sah ihn mit einem Blick an, aus dem es wie mit mühsam zurückgehaltener Teilnahme und Freude strahlte.

„Der Silberheiner bist, der so schöne Lieder dichten und so prächtig dazu singen kann?“

„Woher hast dieses schon gewusst?“

„Die — es ist — davon bei uns gesprochen worden“, antwortete sie verlegen. „Vorhin stand ich da unten im Grund; weit oben sang aaner zwaa Vers, so schön, so prächtig, dass ich den Atem net hab gehn lassen. Warst das auch?“

„Werd’s wohl gewesen sein.“

„Da dank’ ich dir gar sehr für den Gesang, Silberheiner! Es hat aan Herz und aan Gemüt darin gelegen, dass ich gezwungen bin, dir Abbitt zu tun von wegen dem ‚bösen Mann‘, wie ich dich genannt hab.“ Sie streckte ihm die kleine, feine, weiße Hand entgegen und fuhr dann lebhafter fort: „Aber den Vogel, den musst mir doch zeigen! Oder net?“

„Da schau her! Es ist aan Stieglitz; der Vater will ihn brauchen für die Kanarienheck, und ich werd Freud anrichten, wenn ich ihn bring.“

„Welch aan lieb’s und schön’s Vögele! Aber sieh den garstigen Leim! Geht er auch wieder ab?“

„Freilich muss er wieder herunter! Ich hab’ schon mitgebracht, was ich aufstreichen werd; pass auf! So, da ist er geheilt und kann die Flügel wieder gebrauchen.“

„Und was tust du nun mit ihm? Soll er wirklich in den Käfig kommen?“

„Ja.“

„Aber wenn ich dich nun recht schön bitt’, ihn freizulassen!“

„So kann ich doch net ja sagen. Der Vater ernährt sich von dem Vogelhandel, und wenn er nix fängt, so kann er auch nix verdienen. Er hat die ganze Nacht bis jetzt im Wald gelegen und leer nach Haus gemusst, drum wird er sich freuen, wenn ich was bring, und wenn’s auch aan einzig Stück nur ist.“

„Dann will ich dir den Stieglitz abkaufen!“

„Grad den darf ich nicht verkaufen, weil er zu den Kanarien kommt.“

„Und doch wirst ihn mir ablassen, Silberheiner! Ich geb’ dir dafür, was du verlangst. Bitte, tu es doch!“

Er konnte kein Auge von ihr wenden. War denn ein Traum aus alten, seligen Zeiten über ihn gekommen, der seine Sinne und all sein Denken und Empfinden in süße, zaubrische Fesseln schlug? Diese helle, wohlklingende Stimme, diese tiefen, kristallklaren Augen, dieses warme, unter der Bitte zuckende Händchen, hatte er nicht oft in glücklicher Vergessenheit ihrem Klang gelauscht, hatte er nicht oft minutenlang den liebenden Blick in ihr flutendes Licht getaucht, hatte er sie nicht einst wieder und immer wieder an seine vor Wonne schweigsamen Lippen gedrückt? Wie viel tausendmal hatte seine Hand wie segnend auf diesen vollen, seidenweichen Locken geruht, und doch — doch hatte das alles ein schnelles, jähes Ende genommen! Stand jetzt nach zwanzig Jahren vielleicht die Vergangenheit in verklärter Gestalt vor ihm, um die untergegangene Sonne wieder emporzurufen?

„Wenn ich der Silberheiner bin“, antwortete er endlich, „so bist du wohl die Goldfee, der man nix verweigern darf? Gibst wirklich dafür, was ich verlang’?“

„Ja.“

„Aber ich werd’ von dir kaan Geld fordern, Alma! Die Freiheit ist auch für so aan Geschöpfle mehr wert als kalte, herzlose Münz’.“

„Was willst denn?“

„Aan Kuss ist’s, für den ich dir ihn geb’.“

Eine glühende Röte ergoss sich über ihr Gesicht.

„Silberheiner, das war net gut von dir, das hätt’st net tun solln?“

„Warum net?“

„Weil — weil du dir selbst wehtust hier in meinem Herzen.“

Er verstand ihre Worte nicht; er hielt ihre Hand gefasst und strich ihr mit der Rechten leise und unbewusst liebkosend über die Fülle des seidenweichen Haares.

„Sag schnell, Alma, willst ihn oder net? Ich frag’ net wieder?“

Sie zögerte mit der Antwort; dann hob sie den feucht schimmernden Blick zu ihm empor und entschied: „Es hat mich noch nie ein Mann geküsst, Heiner — auch der Vater net, denn der ist gestorben, noch eh ich auf der Welt gewesen bin, und ich möcht’ auch lieber sterben, als dass ich solch aan — aan — leiden möcht’; du aber sollst den Kuss haben, du allein. Hier, nimm ihn!“

Mit tief gesenkten Wimpern reichte sie ihm die leis zuckenden Lippen dar.

„Alma!“

„Was ist’s? Warum zauderst jetzt?“

Er sah ihr mit einem unbeschreiblichen Blick in das fragende Auge. „Hier hast des Tierle umsonst; ich hab’ zu viel dafür verlangt!“

„Ist’s denn dein Ernst? — So beug dich mal herab zu mir!“

Sie langte an ihm empor, zog seinen Kopf zu sich hernieder und küsste ihn zwei, dreimal auf den Mund.

„Nun sollst ihn grad erst recht haben, und noch mehr obendrein, weil du wieder brav bist! Und weißt, Silberheiner, ich zahl’ damit noch lange net die Schuld, die du zu fordern hast. — Jetzt ist der Vogel mein, und nun soll er auch die Freiheit wieder haben. Da schau, wie lustig er die Schwingen schlägt! Nun flieg’ ich auch davon. Leb wohl, Heiner, und vergiss die Alma net!“

Sie warf das leichte Tuch um die Schultern; es wehte beim Gehen wie Flügelschlag um ihre über die Lichtung dahineilende Gestalt, und noch lange, nachdem sie verschwunden war, stand er unbeweglich und blickte verzückt auf die knospenden Zweige, die sich hinter ihr geschlossen hatten.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?