Das Kafferngrab

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Kafferngrab
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

KARL MAY
DAS KAFFERNGRAB

REISEERZÄHLUNG AUS SÜDAFRIKA

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 23

„AUF FREMDEN PFADEN“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1309-9

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

DAS KAFFERNGRAB

Im schwarzen Erdteil

Sikukuni

Bei den Boeren

Der Boer van het Roer

DAS KAFFERNGRAB
Im schwarzen Erdteil

Wie eine riesige Sphinx, deren Rätsel seit Jahrtausenden ihrer Lösung harren, liegt an der südlichen Spitze der alten Welt und bespült von zwei mächtigen Ozeanen die an Gegensätzen ebenso wie an Geheimnissen reiche Ländermasse von Afrika. Hunderttausende von Quadratmeilen dürsten hier unter dem Fluch der Unfruchtbarkeit oder bilden weite Steppen, deren spärliche Vegetation nur in der feuchten Jahreszeit dem Springbock und den ihm verwandten Arten ein Dasein gestattet. Unzählige Bäche stürzen im Frühjahr donnernd und schäumend zu Tal, um schon nach kurzem im dürren Sand zu versiegen und ihren Lauf mit wüstem Geröll und Steingetrümmer zu bezeichnen; und wo die Gesittung es wagt, den kühnen Fuß auf den widerstrebenden Boden zu setzen, da muss sie sich zum Kampf mit Gewalten rüsten, die über Tod und Verderben gebieten. Und hart neben diesen unfruchtbaren Strecken schafft eine riesige Natur die gigantischsten pflanzlichen und tierischen Erscheinungen des Erdballs. Während die Wüstenglut selbst den Keim des kleinsten Gräschens im brennenden Sand erstickt, treiben nicht weit davon die Massen der ‚heimatlosen Fanna‘ auf den Wassern des Sees; dichte Talebwälder strecken ihre Palmenkronen zum Himmel empor und der mächtige Baobab breitet auf unzerstörbar scheinendem Stamm seine massigen Äste dem flammenden Licht entgegen. Hier vermag man im Tod der Steppe kaum an das Vorhandensein eines niedrigen Insektes oder Wurms zu glauben, und dort schon am Saum der Einöde erschallt die Stimme des Löwen; die Giraffe weidet in den Wipfeln der Bäume und Sträucher; weithin erdröhnt der Boden unter den Tritten des Elefanten und Nashorns, und der Hippopotamus wälzt sich im tiefen Schlamm stehender Gewässer.

Ein Erdteil von der armen Küstenentwicklung Afrikas bietet dem Seefahrer keinen gastlichen Empfang und lässt sich nur unter großen Anstrengungen von der Zivilisation erobern; darum kennen wir Afrika auch heute[1] noch weniger als Amerika und Australien, von deren Dasein keine Ahnung vorhanden war, als die Südküste des mittelländischen Meeres längst einer hohen, leider aber wieder verschwundenen Kultur zu Diensten war. Während in den Meeren der mittleren Zone längst die Wimpel flatterten und zahlreiche Segel, die allerdings nur Küstenfahrzeugen angehörten, sich im Winde blähten, lag der dritte Teil der alten Welt als mythenhafter Koloss zwischen dem Atlantischen und Indischen Ozean und nur spärlich ertönte die Kunde, dass ein kühner Schiffer eine verwegene Fahrt längs seiner Gestade versucht habe.

Dass bereits im Altertum das Südkap von geschichtlichen Völkern gekannt und umfahren worden sei, ist teils lose Vermutung, teils Sage. So glaubte z. B. Kant, nach Buch 1 der Könige, Kap. 22 annehmen zu können, dass zur Zeit des indischen Königs Josaphat die Seereisen vom Arabischen Meerbusen aus um das Kap nach Spanien etwas Gewöhnliches gewesen seien, und Herodot erzählt, dass Karthager, die von dem ägyptischen König Necho gesandt waren, um 610 vor Christus denselben Weg zurückgelegt hätten. Übrigens galt schon ein weiteres Vordringen an der Westküste Afrikas, wie die Fahrt des Karthagers Hanno um 500 vor Christus, obgleich sie doch höchstens bis Guinea ging, als Umschiffung dieses Erdteils. Dass später der Kyzikener Eudoxos von Gabes aus eine Reise um das Kap in den Arabischen Meerbusen gemacht habe, ist eine Fabel.

Es scheint sicher zu sein, dass bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts von Norden aus niemand an und um das Kap gekommen ist. König Johann von Portugal sandte ein kleines Geschwader unter Bartholomäus Diaz aus; dieses umsegelte 1487 auch wirklich das Kap, weiter vorzudringen hinderte jedoch den kühnen Mann eine unter seinen Leuten ausgebrochene Meuterei. Wegen der schrecklichen Stürme, die er am Vorgebirge auszustehen hatte, nannte er es Cabo tormentoso (stürmisches Vorgebirge). König Johann aber änderte diesen Namen in ‚Kap der guten Hoffnung‘, da er nun nicht mehr zweifelte, den Seeweg in das Wunderland Indien gefunden zu haben.

Sein Nachfolger, König Immanuel, schickte eine Flotille von vier Schiffen unter Vasco da Gama aus, um den aufgefundenen Weg weiter zu verfolgen, eine Aufgabe, die dieser berühmte Mann auch wirklich löste. Doch war es den Portugiesen nur um den Weg nach Indien zu tun, um die Südspitze Afrikas kümmerten sie sich nicht.

Erst die Holländer besetzten dieses Land 1600 durch den Seekapitän Van Kisboek und beschlossen, es zu kolonisieren. Die niederländischen Einwanderer, Boeren[2] genannt, warfen die Hottentotten zurück, drangen nach und nach bis zu den Kaffern vor und rangen auch diesen eine Strecke Landes nach der anderen ab. Die Ansiedlung wuchs und erregte den Neid der Engländer, die durch Anwendung aller Mittel die Holländer zu verdrängen suchten und auch nicht eher ruhten, als bis sie 1714 im Pariser Frieden das Land abgetreten bekamen. Dies zog eine Zufuhr englischer Kolonisten nach sich, die die holländischen Boeren in jeder Weise beeinträchtigten, und es entstand zwischen beiden eine Feindseligkeit, die in den Kämpfen der Kolonie mit den Eingeborenen eine sehr bedeutende Rolle spielt.

Während die Eingeborenen des Kaplands dem Europäer bisher als unbefähigte Horden galten, hatte der wütende Kampf zwischen Engländern und Kaffern bewiesen, dass diese keineswegs zu verachtende Gegner waren; und wenn man auch annehmen muss, dass sie wie die Indianer Amerikas an dem grausamen Gesetz zu Grunde gehen werden, das dem Kaukasier die Aufgabe erteilt zu haben scheint, an dem Untergang seiner farbigen Brüder zu arbeiten, so steht zu vermuten, dass der Anwohner der Kalahari sich ebenso wie der Wilde des amerikanischen Westens bis auf das Messer gegen seinen in jeder Beziehung übermächtigen Feind verteidigen wird. Der Tod einer Nation ist niemals ein plötzliches Stürzen in die Vergessenheit, sondern ein gewaltiges Zucken und Ringen, ein allerdings immer schwächer werdendes, aber lange andauerndes Aufbäumen, das in glühendem Hass noch im letzten Augenblick den Feind mit ins Verderben zu ziehen sucht. –

Ich hatte auf einer Reise durch die niederländische Provinz Zeeland eine Familie van Helmers kennengelernt und dort trotz ihrer Armut eine herzliche Gastfreundlichkeit gefunden. Ich erfuhr, dass ein Großohm des Hausvaters nach dem Kap der guten Hoffnung übergesiedelt sei. Man hatte mit ihm und seinem Sohn lange in brieflicher Verbindung gestanden, bis der Sohn mit so vielen anderen Boeren vor den andringenden Engländern über das Drachengebirge gestiegen war, um sich in der jetzigen Kolonie Transvaal ein neues Heimwesen zu gründen. Seit dieser Zeit hatten die Nachrichten aufgehört, doch gedachte die Familie ihrer Verwandten mit lebhafter Anhänglichkeit, und als ich meine Absicht, nach Kapland zu gehen, verlauten ließ, wurde ich mit der Bitte bestürmt, dort womöglich eine Erkundigung nach den Verschollenen einzuziehen. Für den Fall, dass es mir gelingen sollte, diese ausfindig zu machen, wurde mir ein Brief anvertraut, und ich verließ Holland mit dem Wunsch, auf diese Weise den guten Leuten für ihre an mir bewiesene Freundlichkeit dankbar sein zu können.

In Kapstadt angekommen, hatte ich mich einige Zeit dort aufgehalten, war dann nach Nord und West gewandert und besuchte nun das Transvaal-Gebiet, obgleich die damaligen Zustände dort nichts weniger als einladend genannt werden konnten.

Der berühmte Kaffernhäuptling Tschaka, mit Recht der Attila Südafrikas genannt, hatte zahlreiche Kaffernstämme unter seine Botmäßigkeit gebracht und ihnen eine kriegerische Verfassung gegeben, die ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Europäer um das Zehnfache vergrößerte. Sikukuni, sein Bruder, überfiel und tötete ihn, um die Herrschaft an sich zu reißen, und nun begann zwischen ihm und den Boeren eine Reihe von Kämpfen, in denen die Boeren, außerdem noch angefehdet durch die Ungerechtigkeit und Vergewaltigung der englischen Regierung, Wunder der Tapferkeit verrichteten. Später beabsichtigte die Transvaal-Republik den Bau einer Eisenbahn nach der Delago-Bai; da sie aber durch diesen Schienenweg wirtschaftlich unabhängig geworden wäre, so suchte England die Ausführung dieses Plans unmöglich zu machen, indem es den Kaffernhäuptling Sikukuni zum Aufstand gegen die Boeren reizte, ihn mit den dazu nötigen Waffen versah und dann die dadurch geschaffene Lage als Vorwand nahm, ‚zum Schutz des Christentums‘ die Republik zu annektieren. Um diese Zeit geschah, was ich erzähle.

Reisen hierzulande werden gewöhnlich auf Ochsenwagen vorgenommen, doch hatte ich mich aus alter Gewohnheit und um schneller vorwärts zu kommen, beritten gemacht. Neben mir ritt Quimbo, ein Basutokaffer, den ich mir als Führer gemietet hatte. Er hatte lange Zeit auf verschiedenen niederländischen Farmen in Dienst gestanden, war den Weißen freundlich gesinnt und radebrechte das Holländische leidlich. Übrigens bildete er zu Pferd eine ziemlich seltsame Figur. Außer einem kattunenen Schurz, den er um seine Lenden geschlungen hatte, war er vollständig nackt und hatte seinen dunklen, mit starker, eckiger Muskulatur versehenen Körper mit Fett eingerieben, das seine Haut zwar vor den lästigen Stichen der Insekten schützte, leider aber einen so durchdringenden Gestank verbreitete, dass es mich wirklich Überwindung kostete, mit ihm in größerer Nähe als fünfzig Schritte zu verkehren. Das Merkwürdigste an ihm war die Art und Weise, sein Haar zu tragen. Er hatte es nämlich durch tägliche Anwendung von Akaziengummi und jahrelange sorgsame Pflege in eine kompakte Form gekleistert, die seiner Frisur das Aussehen von zwei mit den Sohlen gegeneinander geneigten Pantoffeln gab, deren Absätze die Spitze bildeten, während die Fußhöhlungen nach oben gerichtet waren und von ihm als Aufbewahrungsort von allerlei wertlosen, für ihn aber außerordentlich wichtigen Kleinigkeiten dienten. Die Ohrläppchen waren in seiner Jugend durch angehängte Gewichte so ausgedehnt worden, dass sie an Größe so ziemlich den Ohrlappen eines Neufundländers gleichkamen; und um diese Schmuckstücke praktisch zu verwerten, pflegte er sie des Morgens aufzurollen und in die Höhlung jeder Rolle eine von seinen beiden Schnupfdosen zu stecken. Außerdem trug er an jedem Nasenflügel einen starken messingnen Ring und hatte, jedenfalls eine Erfindung seines eigenen ästhetischen Genies, um den Hals einen breiten Riemen von Sohlenleder geschnallt, an dem zwei sehr umfangreiche Kuhglocken befestigt waren, die er wohl auf einer der oben erwähnten Farmen annektiert hatte. Und dabei nahm er als Reiter ganz dieselbe unbeschreibliche Haltung ein, in der bei herumziehenden Gauklern und Bärenführern der Affe auf dem Kamel zu sitzen pflegt, und wenn er mir während der Unterhaltung ein aufmerksames Gesicht machen wollte, wobei er es allerdings zu einem fürchterlichen Zähnefletschen und einem geradezu sperrangelweiten Aufreißen des breiten Mundes brachte, so hatte er ganz das Aussehen einer zoologischen Spezies, von welcher es schwer zu bestimmen war, ob sie unter die Wiederkäuer, Bulldoggen oder Meerkatzen einzuordnen sei. Bewaffnet war dieses Unikum mit einer schweren, aus Schwarzholz gefertigten Keule, einem fürchterlichen krummen Messer und einem Wurfspeer. Ob er diese gefährlichen Geräte auch zu gebrauchen verstand, hatte ich noch nicht in Erfahrung bringen können.

 

Ich selbst ritt einen guten Engländer, für ihn aber hatte ich nur eins jener massigen Brabanter Ungetüme auftreiben können, wie sie die Kanonen Napoleons von Schlachtfeld zu Schlachtfeld schleppten. Es hatte wahrhaft elefantenmäßige Formen und einen Gang, der es allerdings höchst notwendig machte, dass der auf dem breiten Rücken hockende Quimbo sich nur in den dringendsten Fällen der Zügel bediente und es lieber vorzog, sich mit beiden Händen in der Mähne des Tieres festzukrallen.

Jetzt ritt er zu meiner Linken und machte in seinem Kauderwelsch die größten Anstrengungen, mich über die politischen Verhältnisse des Landes aufzuklären.

„Hab Mynheer schon sehn Sikukuni, der groß König von Kaffern?“

„Nein. Hast du ihn gesehen?“

„Quimbo hab nicht sehn Sikukuni; Quimbo bin gut Holland, bin gut Basuto, bin schlecht Zulu. Aber Quimbo hab hört von Sikukuni, Quimbo will nicht sehn Sikukuni.“

„So fürchtest du dich vor ihm?“

Der brave Kaffer riss den Mund auf, dass ich ihm beinahe bis hinunter in den Magen blicken konnte, und drehte mir ein Paar Augen, als wolle er mich mit seinem Blick wie mit Dynamit in die Luft sprengen.

„Was hab Mynheer sagt? Quimbo bin furchtbar vor Sikukuni? Mynheer kenn nicht Quimbo; Quimbo bin Mut, Quimbo bin Kraft, Quimbo fress Sikukuni. Aber Sikukuni hab viel Zulu, und Zulu hab viel Irua[3] und hab viel Flint. England geb Zulu Flint und Pulv, dass Zulu mach tot Holland. Aber Quimbo hab nicht Flint und Pulv, er kann nicht schieß Zulu.“

„Aber wir reiten ja jetzt nach dem Quathlambagebirge und werden dann in das Land der Zulus kommen! Wenn du nun erschossen wirst!“

„Mynheer hab Flint und Pulv, Mynheer werd schieß tot Sikukuni und Zulu; Quimbo hab lieb Mynheer, Mynheer geb Quimbo Tabak und Quimbo geb Mynheer dafür Seele und Leib!“

Diese Liebeserklärung war von einer so inbrünstigen Gestikulation begleitet, dass der zärtliche Kaffer das Gleichgewicht verlor und kaum noch Zeit fand, die Mähne des Pferdes wieder zu erfassen, um sich auf dessen Rücken zurückzuzerren.

„Ist Sikukuni wirklich so bös?“, fragte ich.

„Sikukuni hab tot schlag weiß Mann, weiß Frau, weiß Kind und hab tot schlag Basuto; Sikukuni trink Blut und tanz, wenn schlag tot viel weiß Mann, Frau und Kind. Sikukuni hab schlag tot Boer am Blau-Kranz-Spruit; bin Sikukuni gut?“

Der Kaffer hatte Recht. Ich musste an die fürchterliche Metzelei am Blesboks-Fluss denken, wo Sikukuni über sechshundert Holländer und Hottentotten treulos hingeschlachtet hatte, und an die Grausamkeit, mit der er bei Feierlichkeiten seine Gefangenen oder, in Ermanglung solcher, ganze Scharen seiner eigenen Leute auf die qualvollste Weise abwürgen ließ. Hatte doch sein Verwandter, der friedliebende und den Holländern freundlich gesinnte Somi, sich einem solchen Tod nur durch die schleunigste Flucht entziehen können und dabei erfahren, dass sein Weib mit dem einzigen Kind, das er besaß und die er vorausgesandt hatte, in der Kalahari elend verschmachtet waren. Sikukunis Befehle rochen nach Blut, seine Fußstapfen rauchten von Blut, und nach blutiger Rache schrien die unzähligen Opfer, die seiner Mordlust gefallen waren. Die eiserne Strenge, mit der er regierte, hielt seine Scharen zusammen, aber man wusste wohl, dass sie sich nach einem anderen Führer sehnten und es im Stillen bedauerten, den Aufenthalt Somis nicht erfahren zu können.

„Nein, Sikukuni ist nicht gut; aber die Strafe wird ihn ereilen und er wird nicht lange mehr Häuptling der Zulus sein.“

„Sikukuni schlägt – oh, oh, Mynheer“, unterbrach er sich. „Quimbo seh Mann dort an Berg, Mann reit auch auf Pferd wie Quimbo und Mynheer!“

Er deutete mit der einen Hand vorwärts, wo allerdings in einiger Entfernung vor uns ein Reiter sichtbar war, der in einem stumpfen Winkel mit uns auf die Berge zugehalten hatte, sodass er uns bisher entgangen war.

„Ein Boer oder ein Engländer“, meinte ich. „Vorwärts, Quimbo; wir müssen ihn einholen!“

Ich ließ meinen Fuchs die Sporen fühlen und sofort setzte er sich in Trab. Der Brabanter versuchte es ihm gleichzutun, warf aber den fetten Rücken so herüber und hinüber, dass der Kaffer in die größte Bedrängnis kam, Schiffbruch zu erleiden.

„Oh, oh, Mynheer!“, brüllte er, „Pferd lauf viel schnell; Quimbo verlier Arm, Quimbo verlier Bein, Quimbo verlier Quimbo und Pferd! Wo werd sein Quimbo, wenn Mynheer such Quimbo!“

Die kleine Reitlektion konnte ihm nur Nutzen bringen, daher minderte ich die Schnelligkeit des Ritts nicht im Geringsten, wogegen auch er in gleichem Fortissimo fortbrüllte; Grund genug, mich nicht zu verwundern, dass der fremde Reitersmann auf uns aufmerksam wurde, noch lange bevor wir ihn erreichten. Er wandte sich um und erwartete uns.

Auch er ritt einen Engländer, doch es war augenscheinlich, dass dieser eine bei weitem größere Last zu tragen hatte als der meinige, denn der Mann war von außerordentlich breiter, gewichtiger Figur und einem Gliederbau, von dem man ganz bedeutende Kraftäußerungen erwarten konnte. Das breite Gesicht hatte trotz seiner Gutmütigkeit einen höchst selbstbewussten Ausdruck, und das scharfe Auge, das wissbegierig auf mir ruhte, konnte wohl bedeutend finsterer blicken als jetzt, wo er die Hand zum Gruß erhob, um mir auf den meinigen zu danken.

„Woher?“, klang es kurz, aber nicht unfreundlich.

„Seit gestern früh da drüben von Willem Larssen her.“

„Willem Larssen? Ein guter Neederlander! Und wohin, Mynheer?“

„Ein wenig über die Randberge hinüber.“

„Was wollt Ihr dort?“

Der Mann fragte mehr, als eigentlich die Höflichkeit gestatten sollte, doch zeigte seine Miene dabei einen gewissen Ausdruck des Wohlwollens, der mich ruhig antworten ließ:

„Will das Land kennenlernen, Mynheer, weiter nichts.“

Da legte er die Hand bedächtig ans Kinn, sein Auge schien sich zu verfinstern und strenger klang die Frage:

„Das Land wollt Ihr kennenlernen, Mynheer? So, so! Es gibt jetzt gar viele Leute, die das Land da unten kennenlernen wollen, und doch werden sie nichts kennenlernen als dieses da!“

Er schlug dabei mit der Faust auf den Kolben seines Roer, das er über dem Rücken hängen hatte. Er war ein Niederländer, das verstand sich ganz von selbst.

„Das meine ich auch, Mynheer“, antwortete ich. „Es ist fürwahr kein gutes Geschäft, Mann gegen Mann zu hetzen, um, wenn sie sich töten, die doppelte Erbschaft einzustreichen!“

Sofort wurde beides, sein Auge und sein Ton, wieder milder.

„So seid Ihr kein Engländer, den man Sir zu nennen hat?“

„Nein, ich bin ein Deutscher, da aus dem Sachsen her, und denke, dass wir mit den Holländern von den gleichen germanischen Eltern abstammen.“

„Recht so! Es gibt eine ganze Zahl Deutscher hier und sie alle halten es mit uns. Seid mir also willkommen!“

Er reichte mir die Rechte zum kräftigen Handschlag entgegen und warf dann mit lächelnder Miene einen Blick auf meinen Begleiter.

„Euer Diener?“

„Diener, Führer und Dolmetscher, Mynheer; ein Wunder- und Prachtkerl, wie Ihr dergleichen lange suchen könnt.“

„Wird sich jetzt im Hintertreffen halten können, Mynheer, denn wenn Ihr es mir erlaubt, werde ich einmal Euer Führer sein. Ihr haltet doch auf den Bezuidenhout-Pass zu?“

„Allerdings.“

„Das ist auch mein Weg, und wenn es Euch recht ist, so bleiben wir für jetzt zusammen. Ich heiße Kees[4] Uys.“

Ich blickte ihn höchst überrascht an, denn diese Bekanntschaft war sehr ehrenvoll für mich. Das also war der Sohn des berühmten Boerenführers, der im Verein mit Potgieter und Pretorius die berühmte Schlacht bei Pieter-Maritzburg gegen die Kaffern gewonnen hatte! Ich konnte meine Freude nicht zurückhalten und nannte ihm auch meinen Namen, der ihm allerdings vollständig unbekannt sein musste.

„Ihr könnt es mir glauben, Mynheer Uys“, versicherte ich ihm, „dass mir nichts Lieberes geschehen konnte als dieses Zusammentreffen mit Euch!“

„Ihr habt von mir wohl in Kapstadt gehört?“

„Viel, aber bereits vorher in der Heimat.“

„So kennt man uns auch dort?“, fragte er mit einem leichten Anflug von Stolz in den treuen, ehrlichen Zügen.

„Gewiss!“

„Und wie spricht man dort? Mit wem hält man es? Mit uns oder mit den Engländern?“

„Ich bin kein Politikus, Mynheer, aber ich kann Euch aufrichtig sagen, dass Ihr unserer Teilnahme vollständig sicher seid. Ich bin während meiner weiten Reisen vielfältig mit den Söhnen Englands zusammengetroffen und habe da manche Freundschaft geschlossen, die wohl für das ganze Leben andauern wird; doch hier muss man den Einzelnen vom Ganzen wohl unterscheiden. Ich habe kein persönliches Interesse an den hiesigen Verhältnissen, doch gestehe ich, dass ich ohne Zaudern zur Büchse greifen würde, wenn Ihr, solange ich an Eurer Seite bin, dessen gegen einen Eurer Feinde bedürftet.“

Da reichte er mir noch einmal die Hand herüber.

„Ich danke Euch, Mynheer! Ich werde wohl nicht in der Lage sein, diese Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, aber es tut wohl, so freundliche Worte von einem Mann zu hören, der aus der Ferne betrachtet hat und also wohl ein richtigeres Urteil besitzt als derjenige, der die Verhältnisse vom Standpunkt seines Vorteils aus ansieht.“

Er ritt in sich versunken neben mir. Dann richtete er sich plötzlich auf und meinte:

„Ich will Euch einmal ein großes weltgeschichtliches Gesetz sagen, auf das mich das eigene Grübeln und Sinnen gebracht hat. Es heißt: Die Seeherrschaft – und also auch die Herrschaft über die Kolonien – geht der Küste entlang. Blickt in die Geschichte zurück, so werdet Ihr finden, dass ich vielleicht Recht habe. Phönizien, Griechenland, Rom, Karthago, Spanien, Portugal, auch vorher Venedig und Genua, die Barbareskenstaaten nur nebenbei erwähnt, Frankreich, die Niederlande – England lösten einander in der Seeherrschaft ab. Habe ich nicht Recht?“

„Ich kann nicht bestreiten, dass ich dieses Gesetz, mit einigen Motivierungen natürlich, beinahe anerkennen möchte.“

 

„Denkt darüber nach und Ihr werdet gleicher Meinung mit mir werden! Holland hat der See mehr abgerungen als jedes andere Land, aber dass es sich diesem Gesetz auch zu fügen hat, ist bereits längst entschieden. – England hat ihm die Herrschaft abgerungen, in Europa, in Indien, hier am Kap. Und nun ist unser Schicksal leicht zu erkennen: Wir kämpfen hier für die mit unserem Blut errungenen Güter, aber sie werden uns endlich doch genommen werden. England wird das Kap beherrschen, vorher aber werden wir uns verteidigen und sterben wie die Männer und Helden. Die Taten, die hier geschehen, werden nicht besungen, ja wohl kaum besprochen werden, denn sie werden in zu weiter Ferne von der Heimat geschehen; aber unsere Söhne und Enkel werden, wenn man sie vertreibt, immer weiter nach dem Norden gehen und unser Andenken bewahren, bis sie selbst dem Geschick erliegen, das wir erlitten. Jedes irdische Geschöpf hat eine Berechtigung, zu sein und zu leben; jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch, jedes Volk und jede Nation darf sich nach der Weise, die ihm gegeben ist, entwickeln, damit am Baum der Menschheit verschiedene Blüten treiben und verschiedene Früchte reifen, je nach dem Boden, dem sie entstammen, und dem Himmel, der sich darüber breitet. Verdrängt ein Volk das andere von seinem Boden, begibt es sich unter den Himmel eines anderen, um es zu vertilgen, so hat es selbst seine ursprünglichen Wurzeln verloren und kann sich nicht von neuem in die Erde gründen; die Sonne brennt ihm in der Fremde zu heiß oder es wehen ihm die Winde zu kühl – es erkrankt, es ermattet, es unterliegt; es muss den Tod der Vertriebenen mit seinem eigenen Leben bezahlen. Dies geschieht so wahr, wie jede Auswanderung und jeder Klimawechsel im Geheimen am inneren Mark zehrt, obgleich die roten Wangen das Gegenteil beweisen wollen. Wir werden vom Kap verschwinden, weil wir uns an dessen Ureigentümern versündigt haben, und England wird uns folgen, und wenn seine Macht und Herrschaft hier Jahrhunderte lang im Wachsen bliebe.“

„Meint Ihr?“, fragte ich, verwundert über die Aufrichtigkeit, mit der er mir seine innersten Gedanken enthüllte, wo er mich doch vor zwei Minuten zum ersten Mal gesehen hatte. „Ich möchte im Gegenteil behaupten, dass von einem Verschwinden, wenn man es nicht ganz und gar äußerlich nehmen will, keine Rede sein kann. Zwei chemische Stoffe, die wir vermischen, verschwinden nicht, sondern sie entziehen sich nur durch die neue Gestalt unseren Blicken, durch das Produkt, das sie in ihrer Verbindung bilden. So ist es nicht allein in der anorganischen, sondern auch in der organischen Welt, zu der ja auch der Mensch und durch ihn das Volk, die Nation zählt. Blickt hinüber nach Amerika! Durch die Verbindung so verschiedener Elemente ist ein neues, eigenartiges Volk entstanden, doch diese Elemente selbst sind noch in ihm vorhanden und...“

„Sehr wohl, Mynheer; aber wollt Ihr nicht zugeben, dass der Indianer wirklich verschwindet, ohne im Yankee wieder gefunden zu werden? Doch da betreten wir ein Feld, dessen Fruchtbarkeit leider zu wenig bekannt ist, als dass seine Bebauung richtig in Angriff genommen worden wäre. Vielleicht bin ich auch ein wenig Fantast; wenigstens würdet Ihr wohl diese Ansicht hegen, wenn ich es unternehmen wollte, Euch so meine Meinungen auseinander zu setzen.“

Sein Äußeres machte nun allerdings nicht im Mindesten den Eindruck, als hege er fantastische Gesinnungen; vielmehr schien seine derbe, kernige Figur nur für das mühevolle, praktische Leben eingerichtet zu sein. Auch seine Kleidung zeigte dies. Er trug auf dem Kopf einen breitrandigen Filzhut, der sehr wenig Recht hatte, elegant genannt zu werden; Schultern und Brust umhüllte über einem engen Wams aus grobem holländischem Tuch eine einfache graue Wolldecke, die starken Schenkel steckten in einer abgerittenen Lederhose, über die sich lange, wohlgeteerte Stiefelschäfte emporzogen. Seine Bewaffnung schien einfach zu sein, denn sie bestand nur aus einem in einer Büffelscheide steckenden Messer und einer alten, schweren Büchse; doch wer da wusste, mit welcher unfehlbaren Sicherheit der holländische Ansiedler sein ‚Roer‘ zu handhaben versteht, der konnte wohl annehmen, dass diese Büchse schon manchen Kaffer, vielleicht auch Engländer, das Leben gekostet hatte. Wie gesagt, das Äußere dieses Mannes schien so einfach, so nüchtern, dass ich nur antworten konnte:

„Fantast? Ich denke, Ihr greift mit Euren Ansichten und Meinungen eher in das reale, volle Leben als hinüber in das trügerische Reich der Einbildung. Wer Euer Leben lebt und Eure Erfahrungen sein Eigen nennt, wird sich wohl schwerlich den Ruf eines Metaphysikers erwerben, wenn er jemand den Gefallen tut, sich offen auszusprechen.“

„So? Täte ich Euch einen Gefallen? Ich würde dabei dennoch in diesen Ruf kommen, denn denkt Euch, ich leugne zum Beispiel die Geschichte; ich behaupte, ja ich beweise sogar, dass wir gar keine Geschichte haben!“

„Wenn Ihr diese Behauptung begründen könnt, so seid Ihr ja doch kein Fantast, Mynheer.“

„Ja, ich kann sie begründen, ich kann ihre Wahrheit beweisen und das ist gar nicht so schwer, wie man meinen dürfte. Freilich, einem gelehrten Professor dürfte ich damit wohl nicht kommen, denn diese Herren haben oft ganz eigentümliche Dogmen. Sie errichten aus dem Material ihre Gedanken und Schlüsse, Gebäude, die bis zum Himmel reichen, doch unbewohnbar sind, und beachten nicht die dauerhaften Stoffe, die uns die Wirklichkeit bietet, Wohnungen zu bauen, unter deren Dächern die Menschheit in Sicherheit und Frieden zu weilen vermag. Diese Herren haben Tausende von Büchern über die Geschichte geschrieben und doch findet man in keinem davon wirkliche Geschichte.“

„Ah!“

„Ja, so ist es! Lasst mich zur Analogie greifen! Unsere Naturkunde zerfällt in drei Teile: in die Kunde von den Naturerscheinungen, den Naturkräften und den Naturgesetzen; ihre Aufgabe ist, zu zeigen, wie gewisse Naturkräfte nach gewissen unumstößlichen Naturgesetzen gewisse Naturerscheinungen hervorbringen. So auch die Geschichte. Sie hat von den geschichtlichen Gesetzen zu lehren, den geschichtlichen Kräften und den geschichtlichen Erscheinungen; sie hat nachzuweisen, dass gewisse geschichtliche Kräfte nach gewissen unumstößlichen geschichtlichen Gesetzen gewisse geschichtliche Erscheinungen zu Tage fördern. Welches Geschichtswerk aber zählt uns diese Kräfte und Gesetze auf; welches Geschichtswerk gibt uns eine genaue Erklärung von der notwendigen Entwicklung eines Ereignisses nach diesen Gesetzen und durch diese Kräfte?“

Ich muss gestehen, dass mich diese Darlegung überraschte; sie entstammte jedenfalls nicht einer fantastischen Weltanschauung, sondern war das Ergebnis aufmerksamen Nachdenkens über die Vorkommnisse des realen Lebens.

„Eure Analogie ist ungewöhnlich, Mynheer“, antwortete ich, „aber sie scheint überzeugend zu sein.“

„Scheint? Sie ist es wirklich! Sagt mir, was findet Ihr in Euren Geschichtswerken? Eine Aufzählung derjenigen geschichtlichen Erscheinungen, derjenigen Ereignisse, die sich in dem Zeitpunkt, von dem aus wir erzählen können, teils wirklich zugetragen haben, teils zugetragen haben sollen. Ist das Geschichte? Das ist nur einfache Chronik; denn wo bleiben die geschichtlichen Kräfte und Gesetze? Der Naturforscher, der Chemiker wirkt gleichsam schöpferisch – freilich nur in sehr beschränktem Sinn –, indem er durch die ihm bekannten Naturkräfte nach den ihm ebenso bekannten Naturgesetzen verändert, zerstört oder hervorbringt. Was aber tut der Geschichtsforscher? Er sammelt die äußeren Tatsachen, reiht sie an einem beliebigen Faden auf, wie der Kaffer seine Glasperlen, und kann nichts über ihre Erzeugung und Entwicklung sagen, ebenso wenig wie der Kaffer weiß, wie seine Glasperlen entstanden sind. Und dennoch gibt er diesem Kalender den Namen Geschichte! Ja, die Geschichte sollte die Mutter der Politik sein! Das aber, was Ihr Geschichte nennt, ist ein unfruchtbares Ding. Was sind Eure so genannten Politiker? Sie streiten sich um die Früchte von Bäumen, die sie nicht gepflanzt haben, und verstehen es nicht, einen Kern zu pflanzen, der ihnen diese Früchte auf einem ebenso sicheren wie friedlichen Weg bringen würde. Ich sage Euch, Mynheer: Erst dann, wenn unsere Erkenntnis durchgedrungen ist in jene geheimnisvollen Tiefen, aus denen von dem allmächtigen Schöpfer selbst angeordnete weltgeschichtliche Gewalten nach unumstößlichen weltgeschichtlichen Gesetzen weltgeschichtliche Tatsachen emporwachsen lassen aus dem Boden, dessen Produkte wir bisher hinnahmen, ohne uns ihrer Erzeugung zu bemächtigen, dann erst können wir sagen: Wir haben Geschichte. Dann werden wir Herren der Ereignisse sein; dann werden wir Ereignisse zu machen, zu fabrizieren verstehen wie der Handwerker sein Werk und der Poet sein Gedicht. Dann wird die Geschichte das Kind Politik gebären, das als Königin des Erdkreises den ewigen Frieden bringt und das Schwert in die Pflugschar verwandelt, denn der Streit, der Krieg wird zur Unmöglichkeit werden, da jeder die Gesetze und Kräfte kennt, nach und mit denen der andere wirkt und handelt. Statt der Konkurrenz der Waffe wird die Konkurrenz des Friedens walten, und die Entwicklung des Menschengeschlechts wird auf Bahnen geleitet werden, die so hoch über unserer jetzigen Kenntnis liegen, dass wir von ihnen nicht die mindeste Ahnung besitzen. Bis dahin aber wollen wir eifrig nach jenen Tiefen forschen und in Demut bekennen, dass wir noch Stümper sind!“

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?