Grundlagen der Kunsttherapie

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Grundlagen der Kunsttherapie
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Prof. Dr. Karl-Heinz Menzen ist Professor em. für Pädagogik mit dem Schwerpunkt „Altern und Behinderung unter Einbeziehung von Aspekten ästhetischer Bildung“ an der Katholischen Hochschule Freiburg i. Br. Seit 2013 leitet er den Masterstudiengang Kunsttherapie an der Sigmund Freud Universität Wien / Berlin.Vom Autor außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen: „Kunsttherapie mit altersverwirrten Menschen“, Reinhardts Gerontologische Reihe, Band 30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2196

ISBN 978-3-8252-4610-5 (Print)

ISBN 978-3-8463-4610-5 (EPUB)

© 2016 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Fotos: Karl-Heinz Menzen sowie Studierende der HdK Berlin, der HfAK Wien und der KFH Freiburg

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Teil I Kunsttherapie – Einführung und Überblick

1 Zur Herkunft der künstlerischen Therapien

1.1 Der kunstpsychologische Ansatz

1.2 Der kunstpädagogische und kunstdidaktische Ansatz

1.3 Der ergotherapeutische Ansatz in der Psychiatrie

1.4 Der heilpädagogisch-rehabilitative Ansatz

1.5 Der kreativ- und gestaltungstherapeutische Ansatz

1.6 Der tiefenpsychologische Ansatz

2 Zur Aktualität der künstlerischen Therapieformen

Teil II Methoden der Kunsttherapie

1 Sinneskompensation und Sinnesförderung

1.1 Die Entwicklung der Methode im 19. Jahrhundert: ästhetisch-bildnerische Ansätze

1.2 Die Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert: basale Stimulation

1.3 Trend im 21. Jahrhundert: mentale Repräsentation

1.3.1 Kunsttherapie in der Rehabilitation Demenzkranker

1.3.2 Methoden in der Rehabilitation Demenzkranker: (Ästhetisch-)Basale Stimulation (ÄBS/BS), Realitäts-Orientierungs-Training (ROT), Validation, Bild- und Erinnerungsarbeit, Mäeutik

1.3.3 Kunsttherapie mit Schlaganfall-, Alzheimer- und Schädel-Hirn-Trauma-Patienten

1.4 Ergebnisse neurologischer Forschung: Wie Bilder im Kopf entstehen

2 Formwahrnehmungsstörung und Gestaltrekonstruktion

2.1 Form – Ganzheit und Gestalt

2.2 Neurologische Grundlagen der Gestaltrekonstruktion

3 Entwicklungskompensation und ästhetische Sozialisation

3.1 Entwicklungskonstitution durch Bilder

3.2 Alltagsästhetik und kulturelle Rekonstruktion

3.3 Enkulturation als Aufgabe der Kunsttherapie

4 Tiefenpsychologie und biographisches Erzählen

4.1 Tiefenpsychologische Bildverwendung

4.2 Ästhetische Produktion in der Psychiatrie

4.3 Der Einfluss der psychoanalytischen Entwicklungsforschung

5 Erlebnis-, Gestaltungs- und Kunstpädagogik / -therapie

5.1 Von der Kunsterziehung zur Erlebnispädagogik

5.2 Von der Gestaltungspädagogik zur Gestaltungstherapie

5.3 Gestaltungstherapeutische Ansätze in der Tradition der Gestalttherapie

5.4 Gestaltungstherapeutische Verfahren bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen

5.5 Gestaltungstherapeutische Begleitung in der psychosomatischen Rehabilitation am Beispiel der Herz-Kreislauf-Erkrankung

6 Weiterentwicklung der kunsttherapeutischen Methodik: Die Einflüsse von Kognitionspsychologie, Systemtheorie und Verhaltenstherapie

6.1 Im Rückblick: Von den Motiven und den sich durchsetzenden Ideen einer Therapieform

6.2 Veränderungen in der Zielsetzung der Kunsttherapie in der Gegenwart

6.2.1 Kognitionspsychologische Grundlagen der Kunst- und Gestaltungsverfahren

6.2.2 Systemische Grundlagen der Kunst- und Gestaltungstherapie

6.2.3 Die Einflüsse von Verhaltenstherapie und kognitiver Verhaltenstherapie auf die neueren imaginativ-orientierten Verfahren

6.3 Effizienz- und Wirkkriterien – neue Maßstäbe für Kunst- und Gestaltungstherapie

6.4 Ausblick: Vom Primat des Inhalts zur Eigenständigkeit der Form / des Formprozesses des Produkts in der Kunsttherapie

Teil III Kunsttherapie in der Praxis

1 Sinneskompensation und Sinnesförderung in der Praxis

1.1 Materialien in der basalen Stimulation

1.2 Praxisprojekte mit geistig behinderten Menschen mit den Materialien Kleister, Farbpigmenten, Ton

 

1.3 Exkurs: Kunsttherapeutische Praxis als Projektarbeit

1.4 Kunsttherapeutische Sinnesförderung mit Schlaganfall-, Alzheimer- und Schädel-Hirn-Trauma-Patienten

2 Förderung durch Gestaltrekonstruktion

2.1 Orientierungsförderung bei neurologischen Störungen

2.2 Praktische Übungen zur Gestaltwahrnehmung mit desorientierten Menschen

3 Entwicklungsförderung durch ästhetische Sozialisation

3.1 Hinweise zum ästhetischen Material

3.2 Hinweise zur Wahl der Farben

3.3 Die Zeichnungen einer Vierjährigen – bildnerisches Dokument einer Entwicklung

3.4 Die Wandmalereien von Jugendlichen

3.5 Arbeit mit einem überangepassten Mädchen

3.6 Arbeit mit einem sich sozial verweigernden Jugendlichen

3.7 Exkurs: Anmerkungen für die Gruppenarbeit

4 Förderung nach dem tiefenpsychologischen Ansatz und in der Psychiatrie

4.1 Arbeit mit einem narzisstisch gestörten Jungen

4.2 Konsequenzen für die kunsttherapeutische Ausbildung

4.3 Kunsttherapie in der Psychiatrie

5 Gestaltungstherapeutische Förderung in der Praxis

5.1 Kunsttherapeutische Gestaltungsarbeit mit einem traumatisierten Jungen

5.2 Gestaltungsarbeit mit einer traumatisierten, phobischen jungen Frau

5.3 Gestaltungstherapie in der onkologischen Rehabilitation – am Beipiel leukämie- und tumorkranker Kinder

5.4 Gestaltungstherapeutische Förderung am Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankter

Teil IV Kunsttherapeut / in – Ein Beruf

1 Die bildungsrechtlichen Voraussetzungen

2 Die heilungsrechtlichen Voraussetzungen

3 Die leistungsrechtlichen Voraussetzungen

3.1 Kunsttherapeutische Leistungserbringung unter den Aspekten der Sozialen Förderung und der Sozialhilfe

3.2 Kunsttherapeutische Leistungserbringung unter dem Aspekt der Sozialen Vorsorge

4 Der Beruf „Kunsttherapeut / in“ mit dem Schwerpunkt der klinischen Rehabilitation

4.1 Kunsttherapie in der Rehabilitation

4.2 Rehabilitationskliniken und kunsttherapeutische Maßnahmen

Schlussbemerkung: Von der Kunst, mit Leiden wortlos umzugehen

Institute, Verbände und Ausbildungsrichtlinien

Literatur

Sachregister

Personenregister

Vorwort

Kunsttherapie ist ein viel versprechendes Wort. Es verweist auf ein Fach, das seinen Namen aus einer Amalgamierung zweier in ihren Interessen gegenläufiger Instrumente des sozialen Handelns bezieht. Wenn Kunst die imitierenden und irritierenden Kodes einer Gesellschaftsverfassung in eigenwilligen Material- und Verfahrensweisen entwirft, um eben diese Verfassung aufzubrechen und zu verändern, – dann will Therapie das Gegenteil: Menschen, die leidvoll aus ihren sozialen Kontexten herausgefallen sind, wieder dorthin zurückführen, wo sie sich geborgen fühlen.

Im Aufeinanderbezug, in der Kooperation der beiden Intentionen geschieht Bergendes und Irritierendes. Wenn verhaltensverunsicherte, mental geschädigte, psychisch erkrankte Menschen aus ihren Alltagskontexten gefallen sind, bieten sich Therapien an, um ehemalige, Halt gebende Bezüge wieder zu vermitteln. Wenn innere wie äußere Lebensbilder erstarrt, nicht mehr kommunizierbar sind, bieten sich künstlerische Therapieverfahren an, um kreativ und phantasievoll andere Bilder des Lebens zu erschließen. Wenn Kunst sich die therapeutischen Handlungsfelder erschließt, lassen sich die ästhetischen Einbahnstraßen des Lebens differenzieren, sodass individuelles Leben facettenreicher, in seinen gesellschaftlichen Bezügen wieder flexibel wird.

Der rehabilitativ, klinisch-psychosomatisch oder psychiatrisch erfasste Mensch ist von den unterschiedlichsten Einschränkungen seines Verhaltens betroffen. Er weiß um die Hilfestellung, die er in Hinblick auf ein verändertes Verhalten braucht. Er weiß jene Freiheit, Nicht-Stringenz, den Charakter der Nichteingebundenheit der Kunst in die gesellschaftlichen Zwänge zu schätzen: „Endlich keine Therapie“ – habe ich oft bei unseren kunsttherapeutischen Klinik-Projekten gehört, und ich habe erfahren, wie gut es tut, wenn Menschen, ansonsten leidend, Tätigkeitsräume erleben, die nicht in der gewohnten Alltagsart zwingend sind.

Von den Nöten und den Freiheiten dieser Menschen berichtet dieses Buch. Es sind hauptsächlich jene, die in ihrem Leben kaum zu Wort kamen. Es sind jene, die vor allem im Raum des nicht-gesellschaftsfähigen Ausdrucks zu Hause sind. Ihre Ausdrücke, ihre Bilder, die Bilder der behinderten und erkrankten Menschen – sie präsentieren eine Welt, die als abgespaltene, exterritorialisierte beschaut, bestaunt, zuweilen kulturausdrücklich gefeiert wird. In dem vorliegenden Buch wird diese Welt vorgestellt.

Das hier in der vierten Auflage vorgelegte Buch vermerkt seit seinem Erscheinen vor 15 Jahren einen anfangs nicht für möglich gehaltenen Fortschritt des Faches auf dem Feld des Gesundheitswesens. Nach der teilweisen Zulassung der künstlerischen Therapieformen in der Akutklinik sind diese auch in der rehabilitativen Versorgung anzutreffen. Dieser Umstand ist wesentlich dem Einsatz vieler berufspolitisch tätigen KunsttherapeutInnen in der Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerischer Therapien (BAG-KT) zu verdanken, deren Geschäftsführung ich an dieser Stelle für manche Hinweise bei der hier vorliegenden Überarbeitung danken möchte.

TEIL I

KUNSTTHERAPIE – EINFÜHRUNG UND ÜBERBLICK

Wer einen Begriff vom Wesen und der Methode der Kunsttherapie gewinnen möchte, der hat sich zuerst darüber klar zu werden, wie innere Bilder auf die Psyche wirken und wie sie das Verhalten beeinflussen. Denn dass Bilder therapeutisch wirksam sein können, ist seit langem bekannt. Daher geht es den bildnerischen Therapien von Anfang an um einen Gestaltungsvorgang, der in seiner bildnerischen Dynamik den Zustand, die Befindlichkeit eines Menschen spiegelt und beeinflusst.

1 Zur Herkunft der künstlerischen Therapien

Bevor wir die verschiedenen Spezialisierungen dieser Therapieform nachzeichnen, wollen wir versuchen, die moderne Kunsttherapie in ihrem Wesen, ihren Ansätzen und Einsatzfeldern zu erfassen. Nach ihrer Herkunft lassen sich sechs Ansätze in der Kunsttherapie differenzieren:

1. ein kunstpsychologischer Ansatz in der Entstehenszeit dieser Disziplin;

2. ein kunstpädagogischer / -didaktischer Ansatz;

3. ein psychiatrischer, d. h. arbeits-, ergo- und beschäftigungstherapeutischer Ansatz;

4. ein heilpädagogischer Ansatz;

5. ein kreativ- und gestaltungstherapeutischer Ansatz und

6. ein tiefenpsychologischer Ansatz.

1.1 Der kunstpsychologische Ansatz

Die ästhetische Psychologie wird in Lehrbüchern wie dem von Kreitler und Kreitler (1980) auch unter dem Begriff der Kunstpsychologie subsumiert. Sie befasst sich seit ihren Anfängen mit den rezeptiven, reproduktiven und produktiven Äußerungsformen des künstlerischen Vorgangs, insoweit diese auf ein psychisches Korrelat der Empfindung oder des Gefühls, also auf die Organisierung von Bewusstseinsprozessen verweisen.

Seit der Zeit der Aufklärung wurde die menschliche Erfahrung als solche zunehmend verwissenschaftlicht. Kant unterschied einen sinnes-, verstandes- und einbildungskräftigen Aspekt an ihr. Nach welchen Regeln nehmen wir wahr und verstehen wir, nach welchen Regeln fällen wir Urteile, wenn wir Vorstellungen bildhafter, plastischer oder musikalischer Art in ihrer subjektiv-innersinnlichen Gefühlshaftigkeit einer jeweils objektiv-sinnlichen Wahrnehmung zuzuordnen, fragte er. Seit Kant lässt sich die Zusammenschau des sensualistischen Empfindens (Locke) und des intelligiblen Vorstellens (Leibniz) im ästhetisch-anschaulichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsakt experimental-psychologisch verwenden. Die experimentell ausgerichtete psycho-physische Analyse des Erlebens fragt danach, wie ästhetisch wirkende physikalische Gegebenheiten und psychische Erfahrung korrelieren (Fechner 1871 / Ed. 1978).

Im Übergang von ästhetischer Theorie zur Psychologie steht ein Bewusstseinsverständnis, das den „ästhetischen Sinn“ (W. v. Humboldt) kunstpsychologisch und -didaktisch auszubilden auffordert: „Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“ lautet eines der frühen Werke Herbarts (1804); „Psyche und Ästhetik“ (Dannecker 2006) ist der Titel eines Buches unserer Tage, das jenem Gesichtpunkt folgt.

1.2 Der kunstpädagogische und kunstdidaktische Ansatz

Dieser Ansatz der zunächst erzieherischen, dann ansatzweise therapeutischen Arbeit mit musisch-bildnerischen Mitteln ist seit den Zeiten der Aufklärung zu verzeichnen: Pestalozzi zitiert die Kunstkräfte des Kindes, Schiller tritt für eine ästhetische Erziehung ein, mittels derer sich der heranwachsende Mensch spielerisch-ganzheitlich zu organisieren habe. Das Kind soll schließlich „kunstgemäß“ im Prozess der Erziehung erregt werden (Fröbel), um über die Darbietung ästhetischer Gegenstände eine Veredelung seiner Gemütsbestimmungen und Geschmacksurteile zu erfahren (Herbart 1841 / 1850–52). In der Klassik werden die Vorstellungen, was menschliche Natur ist (Goethe) oder sein soll (Schiller), von idealen Vorstellungen geprägt. Sie geben ein Bild des Kindes vor, das in die humanistischen und dann neuhumanistischen Erziehungskonzepte beispielsweise von Carus und Niethammer eingeht. In der Geschichte der Erziehung, die die inneren Anschauungen wie die Verhaltensweisen des Kindes formen will, setzt sich dieses (neu-)humanistische Bild, wie ein Kind sein soll, durch. Ganz in diesem Sinne wird die Kunst-, genauer die Mal- und Zeichenpädagogik in Dienst gestellt.

Eine breit angelegte ästhetische Erziehung wird institutionalisiert: In der Zeit um 1800 orientieren sich Anmutungs-, Anstands- und Leibesübungen (Campe, Lenz, Jahn) in ästhetisch-moralischem Sinn an einer vorbildlichen Natur. Ästhetisch-didaktische Erziehung soll im Kunstunterricht nicht mehr von der Herstellung einer „peinlich genauen Kopie“ bestimmt sein (so der Kunsterzieher Grangedor (1868, 70), sondern die Bewegungen der Seele ausdrücken, so einer der berühmtesten Kunsterzieher des 19. Jahrhunderts, Viollet-le-Duc (1862, 526). Kunst-, Mal- und Zeichenpädagogik werden zum Erziehungs- und dann auch „notwendigen Heilmittel“ (Deinhardt / Georgens 1863, 363). Die Empfindungen, die Gefühle des heranwachsenden Kindes sollen zeichnerisch, malerisch sichtbar sein. Das Kind soll ein „Gefühl für die Übergänge des Seelischen“ (Ruskin zit. nach Oppé 1952, 170) in diesem Vorgang organisieren und seine „Erlebnisse … zu … wirksameren Formen der Darstellung“ erheben. Anschauung als „verkörpertes Gefühl“ (Erdmann 1851 / 1896, 332) lässt sich kunsterzieherisch erarbeiten und pädagogisch-moralisch einsetzen. Einfühlung und Nacherleben ästhetischer Zustände werden recherchiert (Lipps 1901) und als lenk- und richtbar erkannt (Schulze 1909): Die „Hingabe an ästhetisch wirkende Dinge“ erhält einen Stellenwert im Prozess der Erziehung (Lay, 1903 / Ed. 1910, 550f.) und soll die Zerrissenheitserfahrung des zu Bewusstsein gelangenden Bürgertums versöhnen.

 

1.3 Der ergotherapeutische Ansatz in der Psychiatrie

In den „Irren-“ und den sog. „Idiotenanstalten“, den Psychiatrien und Anstalten für geistig verwirrte Menschen ist seit dem frühen 19. Jahrhundert ein beschäftigungstherapeutischer Ansatz musisch-bildnerischer Einflussnahme zu vermerken: Nicht nur der psychiatrisch Erfasste ist davon betroffen: „Industriosität“, d. h. Arbeit- und Tugendsamkeit stehen auch auf dem gewöhnlichen Erziehungsplan des Heranwachsenden. Der philanthropische Tugendkatalog will den Funktionserfordernissen einer sich ausweitenden Manufaktur zur sog. großen Maschinerie angemessen sein. Der arbeitende Mensch wird zunehmend im Hinblick auf diese funktionellen Anforderungen bewertet. So auch in den Psychiatrien und sog. „Blödheits-“ und „Idiotenanstalten“ der Zeit.

Von Anfang an sind Arbeits-, Ergo-, Werk- und Beschäftigungstherapien auf die Funktionen von Körper und Geist bezogen und sollen das Arbeitsvermögen wiederherstellen. Die Geschichte dieser Therapieformen weist den künstlerischen Beschäftigungsformen hierbei ihren Platz: Die erste heilpädagogische Werkstätte von Deinhardt und Georgens (1979 / 1861), die Levana in Baden bei Wien, wie auch eine der ersten Schulen für Beschäftigungstherapie, die „School of Civics and Philanthropy“ (1908), suchen die Wiederherstellung ausgefallener Funktionen des arbeitenden Menschen mit künstlerisch-gestalterischen Mitteln zu erreichen. Und in den Psychiatrien der Wende zum 19. Jahrhundert wird das Funktionieren großgeschrieben.

In der Hallischen Psychiatrie erfährt dieses Funktionieren zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings eine bemerkenswerte Differenzierung. Hier macht man über die gewöhnlichen Fixierungen an Bett und Stuhl, die heißen Dauerbäder, die willkürlich herbeigeführten eitrigen Infektionen, die Isolierungsmaßnahmen, die Drehstuhl-Torturen u. a. m. hinaus eine neue Erfahrung: Zeichnen, Malen und Gestalten – bei dem Chefarzt Johann Christoph Reil (1803) werden sie unter die drei Gruppen von psychischen Heilmitteln gezählt. Und anders als der Tübinger Kollege Peter Josef Schneider (1824), der auch auf neue „Cur-Mittel“, auf eine neue Art von Beschäftigungstherapie aus ist, macht Reil eine Entdeckung: „Anfangs beschäftigt man bloß den Körper, nachher auch die Seele. Man schreitet von Handarbeiten zu Kunstarbeiten und von da zu Geistesarbeiten fort“ (Reil 1803, 241f.).

Wo zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Umkreis der französischen Psychiatrischen Klinik Salpêtrière und deren Chef Philippe Pinel (1745–1826), noch Atelier-Werkstattarbeit (hier speziell: die Malerei) benutzt wird, um in der Beschäftigung mit den sog. schönen Künsten die Leidenschaften durch moralische Maximen zu überwinden (Pinel 1801), da wird in der Folge unter den deutschen und englischen Kollegen eher ein handwerklicher Aspekt von Beschäftigungstherapie hervorgekehrt. Die künstlerischen Tätigkeiten, in den deutschsprachigen und anglosächsischen Regionen im Rahmen der Beschäftigungstherapie benutzt, werden eher werkhaft-gestaltend verstanden (Hils 1971, X).

Beschäftigungs- und Arbeitstherapie lassen sich folgendermaßen voneinander abgrenzen: Die Beschäftigungstherapie (BT) will seit ihrem Beginn gegen die geistige Verwirrung und den körperlichen Verfall geistig und motorisch anregen, aber auch erholsam und unterhaltend, zunehmend werkhaft-gestaltend verstanden sein. Arbeitstherapie (AT) will gegen die abstumpfende Bettlägerigkeit die Klinikinsassen aktivieren, anfordernd, leistungsfördernd, produktionsorientiert sein. Die Tradition des AT-Begriffes sucht vergeblich und immer wieder den Begriff der Arbeits- durch den der Werk- oder Beschäftigungstherapie zu ersetzen. Schließlich setzt sich nach langer Diskussion der Begriff Ergotherapie (griech.: to ergon = Werk, Tat, Unternehmung, Kunstwerk) durch, immer noch neben sich einen arbeitstherapeutischen, speziell produktions- und leistungsanpassenden Zweig konzipierend. Die begrifflich erst spät genannte Kunsttherapie (KT) will allenfalls den Teil der erwähnten Verfahren abdecken, der über das Kunsthandwerkliche hinaus die spielerischen, kreativen, frei gestaltenden Handlungselemente betont (Otto 1971; Aernout 1981; Domma 1990). Seit Anfang des 20. Jahrhunderts erobern sich die künstlerisch-bildnerischen Verfahren in den gesundheits- und heilungsorientierten Möglichkeiten von Beschäftigung, Arbeit und Spiel einen Platz, dem zunehmend kognitiv-, psycho- und verhaltensmodifikatorische Eignung zugeschrieben wird.

In den entstehenden künstlerischen Werkstätten im psychiatrischen Bereich entwickelt sich vor dem Ersten Weltkrieg eine Form der Beschäftigungstherapie, die die künstlerische Tätigkeit zum „Cur-Mittel“ erklärt. In dem Maße, wie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts Arbeits- und Beschäftigungstherapien voneinander trennen (1905 entwirft in der Anstalt Warstein, der späteren Gütersloher Anstalt, der Psychiater Hermann Simon, 1867–1947, zum ersten Mal ein solches Konzept, das Garten- und Aufräumarbeiten als aktive Arbeits-Therapie versteht; vgl. Bauer 1992, 186, Stichw. Arbeitstherapie), kommen nunmehr in Absetzung von den beschäftigungstherapeutischen den künstlerischen Tätigkeiten spezifische Aufgaben zu: Sie erhalten eine eher schöpferisch-musische, individualitätsangemessene und selbstzweckorientierte Aufgabenstellung im Rahmen der Behandlung. Die arbeitstherapeutischen Maßnahmen sind dagegen produktions-, leistungs- und zweckorientiert, und auch die beschäftigungstherapeutischen Maß-nahmen können ihrer Zweckorientierung nicht entbehren. Eine künstlerische oder kunsthandwerkliche Betätigung – bei Pinel (1801) und Reil (1803) für die Patienten der gehobenen Schichten gedacht und auf deren Zerstreuung aus (Günter 1989) – wird zunehmend von einer handwerklich-arbeitsprozessorientierten Betätigung geschieden, die eher der Wiedereingliederung von Patienten der unteren Schichten dient.

Die Trennung von Arbeits- und Beschäftigungstherapie und mit ihr die Spezifizierung der Kunsttherapie führt im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den rehabilitativen und klinischen Einrichtungen zu folgenden institutionalisierten Varianten: Als Arbeitstherapie (AT; Ergotherapie, Industrial Therapy, ergothérapie, thérapeutique par le travail) sollen die kunsthandwerklichen Formen zweckgebunden und produktionsorientiert, zumindest arbeits- und sozial-integrativ sein. Als Beschäftigungstherapie (BT; Occupational Therapy; thérapeutiques occupationelles) ist die kunsthandwerkliche Tätigkeit eher selbstzweckorientiert im Sinne der individuellen Kur.

In der Folge spezifizieren sich AT und BT nach Rehabilitationsinteressen: BT ist zunehmend orthopädischen, unfallchirurgischen, neurologisch-rekonstruktiven, rheumatologischen und geriatrischen Maß-nahmen zugewandt, während die AT und mit ihr m. E. die Heilpädagogik auf die teilweise Rehabilitation, die Wiederherstellung des Arbeits- und Leistungsvermögens orientiert ist. Gestaltungstherapien besetzen zunehmend jenen Raum der Kur-, Rehabilitations- und Behandlungsmaßnahmen, der von den unmittelbaren Zwängen der arbeits- und zweckorientierten Tätigkeiten frei bleibt. Gleichermaßen finden künstlerische Therapieformen im Rahmen der Arbeits- und Beschäftigungstherapien ihren Platz: In eher pädagogischer Hinsicht sind sie auf die Ausweitung von ästhetischen und mit diesen korrelierenden sozialpraktischen Kompetenzen aus. In eher therapeutischer Hinsicht suchen sie das psychische Verarbeitungsrepertoire auszuweiten, d. h. den Betroffenen wieder verfügbar zu machen. Auf diese Weise haben die Behandlungsformen mit bildnerischen Mitteln die Aufsplittung in Ergo- bzw. Arbeits- und Beschäftigungstherapien innerhalb ihres Faches nachvollzogen: Sie implizieren sowohl material- und arbeitsam-zweckgebundene wie gestaltungs- und eher psychisch-orientierte Zielsetzungen.

1.4 Der heilpädagogisch-rehabilitative Ansatz

Die Entwicklung der heilpädagogischen Kunsttherapie verläuft in drei großen Schüben: 1860 wurde sie von den Heilpädagogen Deinhardt und dem Ehepaar Georgens in Bezug auf Sinnes- und Teilleistungsstörungen formuliert. Um 1920 orientierte sie sich an den aufkommenden ganzheits- und gestaltpsychologischen Ansätzen, und ist um 1990 schließlich neurologisch ausgerichtet (Menzen 1994; Bader / Baukus / Mayer-Brennenstuhl 1999). Erst gegen Ende der 1990er Jahre wird sie zu einem Fach, das im Rahmen einer inzwischen wissenschaftlichgeregelten Heilpädagogik angeboten wird (Menzen 2007).

Die ansatzweise wahrnehmbare heilpädagogische Kunsttherapie richtet sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Fröbelschen Kindergartenpädagogik aus. Wir werden noch sehen, wie mit Hilfe von Kugeln, Scheiben, Quadern und Säulen als Lehrmaterialien Heranwachsende wie Erwachsene die Welt begreifen lernen sollen. Ein halbes Jahrhundert später und bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die heilpädagogisch-bildnerische Förderarbeit der Gestaltwahrnehmung verpflichtet. Nicht weg von den sinnesbezogenen, aber hin zu einer sog. ganzheitlichen Förderung zielt ihr Umgang mit den behinderten Menschen. Das Mythologem des Ganzheitlichen ist bis in die späten 1990er Jahre in aller Munde. Gegenwärtig befasst sich die heilpädagogische Kunsttherapie mit neurologischen Aspekten spezifischer Störungsbilder wie Hyperaktivität, Störungen der Sinne, der Motorik und des Sozialverhaltens. Nicht von ungefähr erhält die Bezugswissenschaft der Heilpädagogik, bislang eher ein Konglomerat aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, ein spezifisch wissenschaftliches Profil. Sie erarbeitet 1998 ein Curriculum, das bundesweit verbindlich wird; sie organisiert sich als Fachbereichstag bei der bundesdeutschen Kultusminister- und Rektorenkonferenz. Die heilpädagogische Kunsttherapie entwickelt sich in diesem Zeitraum und Zusammenhang zur eigenständigen Methode.

In der Geschichte der heilpädagogischen Kunsttherapie stehen die Fehlverknüpfungen und Wahrnehmungsstörungen des teilleistungsgestörten Menschen im Mittelpunkt. An ihnen hat sich die Herangehensweise mit ästhetisch-bildnerischen Mitteln als buchstäblich „vorbildlich“ erwiesen. In diesen Fällen ist die ästhetisch-bildnerisch orientierte Wiederaneignungsarbeit von Raum-, Zeit- und Handlungsstrukturen heilbringend.

Entsprechend der usprünglichen psychomotorischen Verschaltungen beim Kind erarbeitet Kunsttherapie beim wahrnehmungs-, teilleistungsgestörten, d. h. lern-, aber auch beim geistigbehinderten Menschen das früheste Sinneserfahrungsterrain: Sie rekonstruiert und kompensiert die mit diesen Reizumständen verknüpften Situationen der frühen Kindheit (Deinhardt / Georgens 1979 / 1861; Theunissen 1989, 2004; A. Lichtenberg 1990; Menzen 1994).

Das Umfeld der Wahrnehmung des teilleistungsgestörten, des lernwie auch des geistig behinderten Menschen soll erweitert werden (A. Lichtenberg 1987). Die grundlegenden Wahrnehmungsaktivitäten dieses Menschen sollen basal stimuliert werden, beispielsweise im taktilen Bereich in Erfahrungsmodalitäten wie warm / kalt, fest / weich, nass / trocken (A. Lichtenberg 1990).

Beim hirngeschädigten Menschen müssen die ausgefallenen hemisphärischen Funktionen wieder reorganisiert, müssen die entsprechenden zeitlichen (eher linkshemisphärischen) und räumlichen (eher rechtshemisphärischen) Gestaltleistungen zum Teil neu angeeignet werden. So können sich beispielsweise Verzerrungen des Körperschemas rückbilden, wie wir sie aus den gestörten willkürlichen Bewegungsentwürfen mancher Menschen mit geistiger Behinderung kennen. Bei Schädigungen der rechten Hirnhemisphäre erscheint das Unvermögen in einer zusammenhanglosen, fragmentarischen Gestaltherstellung und -wahrnehmung, im Falle einer Schädigung der linken Hemisphäre erscheint das Unvermögen eher in einer gestörten Detailgenauigkeit und Sequenzhaftigkeit, einer mangelhaften Einschätzung des Nacheinander von Zeichen, Ausdrücken und Verhaltensweisen. (Zu den Ergebnissen kunsttherapeutischen Handelns mit lern- und geistig behinderten Menschen liegen Praxisdokumentationen vor: Theunissen 1989; A. Lichtenberg 1990; Menzen 1990a, b; ders. 1994). In der Praxis der Neurologischen Klinik sind die sinnesstimulierenden Erfahrungen der heilpädagogischen Kunsttherapie in einem modifizierten Realitäts-Orientierungs-Training (ROT) mit Schlag -anfall-, Unfall- oder Alzheimer-Patienten äußerst wertvoll und in manchen Abteilungen nicht mehr wegdenkbar (Menzen / Brandenburg 1999).

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