Introvertiertheit

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Introvertiertheit
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Karin Ackermann-Stoletzky

Introvertiertheit

Die leise Stärke


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-910-8

© 2016 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia freshidea

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1: Als Introvertierte in einer lauten Welt

Die Vorherrschaft der Extrovertierten

Woher kommt der Begriff „Introvertiertheit“?

Als Introvertierte in einer lauten Welt

Kapitel 2: Zu viele Reize fürs Gehirn?

Biologische Grundlagen der introvertierten Persönlichkeit: Serotonin vs. Dopamin

Introvertiertheit: Angeboren, anerzogen oder selbstgemacht?

Das introvertierte Gehirn

Kapitel 3: Die introvertierte Persönlichkeit

Erkenne dich selbst, oder: Bin ich eigentlich introvertiert?

Reflexion: Merkmale introvertierter Menschen

Übung: Mein Stärkenprofil

Übung: Welche Ihrer Eigenschaften empfinden Sie an sich selbst als anstrengend?

Reflexion: Meine „Rote-Punkte-Menschen“

Das Gespräch mit mir selbst: „Mein inneres Team“

„Intros“ und „Extros“ in mir

Stimmige Kommunikation

Übung: Kommunikation

Kapitel 4: Gestalte dein Leben

Das Leben selbst gestalten

Mehr Verständnis für sich selbst entwickeln

Reflexion: Wie gehe ich mit Ablehnung um?

Abgrenzung nach außen verantwortlich gestalten

Strategien zur Kontaktgestaltung bei innerem Teamdurcheinander

Übung: Meine Quälgeister und meine Ermutiger

Weshalb Introvertierte häufig nicht bekommen, was sie möchten – und wie man das ändert

Reflexion: Wie leicht fällt es Ihnen, Ihre Bedürfnisse zu äußern?

Das 3-Zonen-Modell: Die Entwicklung von neuen Verhaltensweisen

Unsere Komfortzone

Reflexion: Wie sieht Ihre Komfortzone aus?

Wachstumszone und Panikzone

Reflexion: Meine Wachstumszone

Konkrete Ziele setzen und erreichen

Die „richtigen“ Ziele finden

Reflexion: Meine wichtigen Ziele

Langfristige Ziele angehen und umsetzen

Reflexion: Ziele erreichen

Ein wichtiges Ziel: Offen zu Besonderheiten im Zwischenmenschlichen stehen

Reflexion: Was ist im Umgang mit anderen Menschen für mich herausfordernd?

Kapitel 5: Auf Schatzsuche

Auf Schatzsuche: Der ressourcenorientierte Blick auf mich selbst

Reflexion: Was gibt mir Kraft und Energie?

Reflexion: Meine Energieräuber

So schaffen Sie sich Ihre Tankstellen

Tankstelle: Passendes Umfeld – My home is my castle

Übung: Mein Lieblingsplatz

Tankstelle: Ordnung

Tankstelle: Kurze Auszeiten

Übung: Wo finden Sie Ihre Auszeiten?

Tankstelle: Rituale

Reflexion: Haben Sie hilfreiche Rituale, Abläufe, die Sie nutzen, um zur Ruhe zu kommen? Wie sieht Ihr Ritual aus?

Tankstelle: Bewegung

Tankstelle Kommunikation

Übung: Welche Kommunikationssituationen genießen Sie?

Tankstelle: Beruf und Berufung

Reflexion: Da schlägt mein Herz

Tankstelle: Alleinsein

Reflexion: Wie wichtig ist mir das Auftanken im Alleinsein?

Tankstelle: Ruhe und Achtsamkeit

Übung: Den Fluss der Gedanken wahrnehmen

Tankstelle: Glaube und Gebet

Reflexion: Wie erleben Sie Gott?

Übung: Erst mal anhalten

Tankstelle: Gemeinde

Reflexion: Was schätzen Sie an Ihrer Gemeinde?

Nachwort

Anhang

Anmerkungen


Kapitel 1

Die Vorherrschaft der Extrovertierten

In zwei Stunden beginnt die Betriebsweihnachtsfeier. Die Kollegen werden dort sein, der redegewandte und charismatische Chef, ganz unterschiedliche Leute aus den anderen Abteilungen. Das Essen ist immer gut. Frau Müller wird mit ihrem trockenen Humor wahrscheinlich wieder alle zum Lachen bringen, und Kollege Frankmann hat mit Sicherheit ein heiteres Gedicht vorbereitet.

 

Und Sie? Freuen Sie sich schon auf einen netten Abend unter Menschen? Oder graust es Ihnen davor, weil Sie sich selbst stumm vor Ihrem Teller sitzen sehen, konzentriert kauend und den Blickkontakt mit den anderen vermeidend, während um Sie herum alles lacht und redet? Können Sie sich nur schwer überwinden, überhaupt auf diese Feier zu gehen, weil es immer so anstrengend ist, „Smalltalk“ zu betreiben und Sie ja nun nicht die ganze Zeit nur essen können, damit Sie beschäftigt wirken? Wenn das so ist, dann gehören Sie wahrscheinlich zu den „Stillen im Lande“.

Nun ist es nicht unbedingt ein Nachteil, kein Partyfreund zu sein. Für einen Mönch im Schweigekloster wäre das sogar ein echter Vorteil, aber in unserer Gesellschaft der Kommunikativen haben Sie wahrscheinlich oft das Gefühl, irgendwie „anders“ zu sein. Es scheint, als sei unsere Kultur eine Kultur der Extrovertierten. Wer erfolgreich sein will, muss Kontakte pflegen können. Kommunikationsfähigkeit ist ein wichtiger Schritt zum Erfolg.

Es ist eine gutgesicherte Erkenntnis, dass der lockere Augenkontakt mit anderen Menschen, der Smalltalk auf der Party oder mit Fremden im Aufzug, Schlagfertigkeit sowie schnelle und spontane Reaktionen helfen, erfolgreich zu sein. All das gehört nicht unbedingt zu den Stärken der Introvertierten. 1994 veröffentlichte der Psychologe Howard Giles eine Untersuchung, der zufolge man Menschen, die schnell und laut sprechen, als kompetenter und sympathischer wahrnimmt, als klüger, interessanter, sogar als besser aussehend. Verschiedene Untersuchungen zum Thema Lebensglück behaupten einheitlich, Extrovertierte hätten im Durchschnitt mehr Glück bei der Suche nach Jobs, nach Wohnungen und dem Lebenspartner. Im Flurfunk hören sie von der frei werdenden Wohnung, sind dem Chef eher im Bewusstsein, wenn er darüber nachdenkt, eine Aufgabe neu zu besetzen, und reagieren schnell genug, wenn sich eine Chance zeigt.

Der Idealmensch unserer Zeit ist gesellig, arbeitet gut im Team, ist gern unter Leuten, ist risikobereit und gut vernetzt. In den Pausen checkt er seine Mails, postet auf Facebook oder verschickt schnell mal eine Whats App. O. k., auch das ist jetzt etwas plakativ, passt aber trotzdem ins Bild.

In früheren Zeiten wurde der belesene, ruhige Mensch stärker bewundert als heute. Alleinsein (zu können) galt als ein wichtiger Teil der menschlichen Existenz. Dinge zu durchdenken, in sich zu bewegen war hoch angesehen. Das Denken im Rückzug galt sogar als Ideal. Arthur Schopenhauer schrieb zum Beispiel 1851 in seinen „Kleinen philosophischen Schriften“: „Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit einen zweifachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu seyn, und zweitens den, nicht mit Anderen zu seyn.“

Es gibt viele, die das auch heute so sehen. Sie sind gern mit sich allein, sie brauchen keine ständigen Inputs von außen. Sie stehen nicht gern im Vordergrund und fallen meist nicht groß auf. Viele unter ihnen reden leiser, während des Sprechens konzentrieren sie sich stark und vermeiden den Augenkontakt. Wenn sie zuhören, machen sie das mit allen Sinnen. Da sehen sie den anderen ganz genau an, um kein Detail zu verpassen.

Das alles ist anstrengend, denn in der Gegenwart anderer Menschen kann das Gehirn introvertierter Menschen nicht herunterschalten. Alles muss wahrgenommen werden, alles wird durchdacht. Die Worte entstehen (besonders in unbekannten Situationen und in der Gegenwart fremder Menschen) nicht beim Sprechen, sie müssen da sein, bevor sie ausgesprochen werden können. Deshalb brauchen introvertierte Menschen dringend Momente der Stille, um sich selbst zu hören und um sich vom allgegenwärtigen Lärm zu erholen. Für Introvertierte ist Sozialkontakt nur mit vertrauten Menschen und in vertrauter Umgebung ein Vergnügen, ansonsten ist es harte Arbeit, und „Networking“ ist im besten Falle eine Pflicht, aber keine Lust.

Die amerikanische Bloggerin Kate Bartolotta hat das sehr schön beschrieben: „Stellen Sie sich vor, jedem von uns steht ein Glas voll Energie zur Verfügung. Introvertierte Menschen brauchen für nahezu jede soziale Interaktion einen Schluck aus diesem Glas, während bei extrovertierten Menschen das Glas durch solche Kontakte wieder aufgefüllt wird. Den meisten von uns Introvertierten gefällt das. Wir teilen gern, und wir sind gern mit anderen Menschen zusammen. Aber wenn das Glas leer ist, brauchen wir einfach etwas Zeit, um wieder aufzutanken.“1


Ich liebe meinen Beruf, obwohl ich dabei viel mit Menschen zu tun habe. Im Laden ist meine Rolle klar: Da kommt jemand, der eine Brille braucht, ich stelle seine Werte fest, berate ihn, passe die Brille an … Ich weiß, worum es geht, ich bin in meinem Fach gut, ich arbeite genau und mit Sorgfalt, und die Kunden werden möglichst optimal bedient.

Aber jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit gehe, mache ich mir schon auf dem Weg Gedanken, was ich mit meiner Mitarbeiterin reden soll. Es ist verrückt, aber ich lege mir wirklich oft schon vorher irgendeinen Satz zurecht, der über „Guten Morgen“ hinausgeht. Vielleicht mal was über das Wetter, oder „Gut geschlafen bei dem Vollmond?“. Ich bin dann immer froh, im Hinterzimmer verschwinden zu können, denn einfach nur stumm neben ihr zu stehen ist für mich unglaublich schwer, etwas zu sagen aber ebenso. Obwohl ich mich bemühe, bin ich mir sicher, dass sie mich für arrogant hält. Denn „ein Schwätzchen einfach so“, das ist für mich wie die Besteigung des Mount Everest!

N.N.

Nach Heiko Ernst (Psychologie heute, 01/​2011) brauchen „Introvertierte etwa zwei Stunden Erholung für jede Stunde ‚Sozialkontakt‘. Dann sind sie wieder fähig und willens, sich der Geselligkeit und dem Smalltalk der Extrovertierten auszusetzen.“

Introvertierte Menschen lieben es, in einer kleinen Gruppe mit vertrauten Menschen über relevante Themen zu reden. In Menschenmassen und oberflächlichen Kontakten fühlen sie sich isoliert.

„Im 21. Jahrhundert haben wir ein neues Kulturzeitalter erreicht, das Historiker als Persönlichkeitskultur bezeichnen“, erklärt die Autorin Susan Cain in ihrem Buch „Still“. „Wir haben uns von einer Agrarwirtschaft zur Geschäftswelt hin entwickelt. Die Menschen ziehen plötzlich aus den Dörfern in die Großstädte und arbeiten nun nicht mehr mit Leuten zusammen, die sie ein Leben lang gekannt haben, sondern müssen sich unter völlig Fremden bewähren.“2

Die vielen Menschen, die laut und in großen Massen auftreten, führen bei Introvertierten schnell zu einer Reizüberflutung und berauben sie auch körperlich ihrer Energie.


Nicht „richtig“?

Als ich neun Jahre alt war, fuhr ich zum ersten Mal ins Ferienlager. Meine Mutter packte mir einen Koffer voller Bücher ein, was mir wie eine ganz normale Sache vorkam. Denn in meiner Familie war die wichtigste Gruppenaktivität das Lesen. Dies mag Ihnen ungesellig vorkommen, aber für uns war das eben eine andere Art des Zusammenseins. Eingenistet in die Wärme der Familie, die einen umgibt, kann man zugleich in dem Abenteuerland im eigenen Kopf umherstreifen. Ich stellte mir vor, dass es im Ferienlager auch so sein würde, nur noch besser. Ich stellte mir zehn Mädchen vor, die in einer Hütte sitzen und in aufeinander abgestimmten Nachthemden Bücher lesen.

Das Ferienlager war eher wie eine Studentenparty ohne Alkohol. Und am ersten Tag ließ unsere Gruppenleiterin uns antreten und lehrte uns unser Motto, das wir nun jeden Tag für den Rest des Sommers vortragen mussten, um den Gemeinschaftssinn zu wecken. Und das ging so: „R-O-W-D-I-E, ja, so schreiben wir, ‚rowdie‘ [‚rauflustig‘]. Rowdie, rowdie, wir sind rowdie“. Tja. Es war mir ein totales Rätsel, wieso wir so rauflustig sein sollten und das Wort auch noch falsch schreiben mussten. Aber ich sang das Motto. Ich sang es mit allen anderen. Ich gab mein Bestes. Und ich wartete einfach darauf, dass ich meine Bücher lesen gehen konnte.

Aber als ich das erste Mal mein Buch aus meinem Koffer nahm, kam das coolste Mädchen im Schlafraum zu mir und fragte mich: „Wieso bist du denn so ruhig?“ – Das war natürlich das genaue Gegenteil von R-O-W-D-I-E. Und als ich es das zweite Mal versuchte, kam die Gruppenleiterin zu mir mit einem ganz besorgten Gesichtsausdruck und wiederholte ihre Aussage über Gemeinschaftsgeist und dass wir alle hart daran arbeiten sollten, kontaktfreudig zu sein.

Also legte ich meine Bücher weg, zurück in ihren Koffer, und packte sie wieder unter mein Bett, wo sie den Rest des Sommers blieben. Ich fühlte mich deswegen etwas schuldig. Ich fühlte, dass die Bücher mich brauchten, sie riefen mich, und ich ließ sie im Stich. Aber ich öffnete den Koffer nicht mehr, bis ich am Ende des Sommers wieder zu Hause bei meiner Familie war.

Jetzt habe ich mich für diese Geschichte entschieden. Ich hätte Ihnen 50 andere genau wie diese erzählen können – bei jeder wurde mir vermittelt, dass mein ruhiges und introvertiertes Wesen irgendwie nicht der richtige Weg war, dass ich doch versuchen sollte, mehr extrovertiert zu sein. Und tief in meinem Innern empfand ich dies immer als falsch, ahnte ich, dass Introvertierte ziemlich großartig waren, so, wie sie waren. Aber ich verleugnete diese Intuition über Jahre hinweg und wurde ausgerechnet Anwältin an der Wall Street anstatt Schriftstellerin, wie ich es mir immer gewünscht hatte – nicht zuletzt, weil ich mir beweisen musste, dass ich auch mutig und bestimmend sein kann. Und ich ging immer in volle Bars, obwohl ich ein schönes Abendessen mit Freunden eigentlich bevorzugt hätte. Und diese selbstverneinenden Entscheidungen traf ich so instinktiv, dass ich mir ihrer nicht einmal bewusst war.

Viele Introvertierte machen dies, sicher ein Verlust für uns, aber auch ein Verlust für unsere Kollegen und unsere Gemeinschaft. Ein Verlust für die Welt, auch wenn das hochtrabend klingen mag. Denn wenn es um Kreativität und Führungsverhalten geht, brauchen wir Introvertierte, die tun, was sie am besten können. Ein Drittel bis zu einer Hälfte der Bevölkerung ist introvertiert – ein Drittel bis zu einer Hälfte. Das ist einer von zwei oder drei Ihrer Bekannten. Auch wenn Sie vielleicht selbst extrovertiert sind, dann spreche ich über Ihre Kollegen, über Ihre Partner, Ihre Kinder und die Person, die jetzt neben Ihnen sitzt – sie alle unterliegen dieser Voreingenommenheit, die tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Wir verinnerlichen das schon früh, ohne für das, was wir tun, Worte zu haben. (…)

Wenn wir davon ausgehen, dass stille und laute Menschen in etwa dieselbe Anzahl an guten oder schlechten Ideen haben, dann sollte der Gedanke, dass nur die lauteren und energischeren Menschen sich durchsetzen, uns besorgt aufhorchen lassen. (…)

Sorgfalt, Analyse, Konzentration – das sind die Stärken der Stillen. Warum geben wir ihnen trotzdem immer wieder das Gefühl, nicht gut genug zu sein?3

Die Herausforderung, Kontakt mit anderen Menschen aktiv zu gestalten, beginnt für introvertierte Menschen schon in ihrer Kindheit. Sie sind (zumindest in Gegenwart Fremder) in sich gekehrter als andere, und Eltern machen sich manchmal Sorgen, wenn sie ihr Kind als zurückhaltend und schweigsam erleben. Oft spielen solche Kinder gern allein, und ihr reiches Innenleben zeigt sich in kreativen und phantasievollen Rollenspielen mit sich selbst oder ihren Spielzeugen. Oft lesen sie gern, malen oder machen vielleicht Musik.

„Als introvertiertes Kind und Jugendliche war ich in meinem Kopf gefangen und habe furchtbar gelitten. Auf meine Umwelt wirkte meine versteinerte Miene wohl eher hochnäsig.“

Martina Ziel

Ein in sich gekehrtes Kind, bereits durch etwas Lärm und „Trara“ überfordert, wird, so fürchten die Eltern, im Leben Probleme bekommen.

 

Woher kommt der Begriff „Introvertiertheit“?

Introvertiert: nach innen, auf das eigene Seelenleben gerichtet. Aus lat. Introvertierter „hinein“ und lat. vertere „wenden“.

Der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung benutzte als einer der Ersten in der Psychologie die Begriffe Introvertiertheit und Extrovertiertheit bei der Typisierung von Menschen.4 Er erklärte die Introvertiertheit als eine Hinwendung der psychischen Energie nach innen, weg von der Außenwelt.

Jung war ein guter Beobachter. So war ihm bei seinem täglichen Umgang mit Patienten schnell klar, dass diese nicht nur „Träger eines bestimmten Krankheitsbildes“ waren, sondern als Menschen, die unterschiedlich fühlen, denken und wahrnehmen, auch ihre Erkrankung unterschiedlich erleben – und entsprechend unterschiedlich behandelt werden müssen. Er verstand sich hier als eine Art „Übersetzer“, versuchte, dem Einzelnen zu helfen, sich selbst zu verstehen, und zwischen Menschen, die Dinge unterschiedlich wahrnehmen, zu vermitteln, indem er etwa Ehepartner immer wieder auf die unterschiedliche Natur des anderen hinwies. Um diese Problematik erklären zu können, entwickelte er eine Persönlichkeitslehre, in der er zunächst zwischen aktiven und passiven, dann zwischen bedenkenden und unbedenklichen Naturen unterschied. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Menschentypen zeigt sich seiner Beobachtung nach in der Form ihrer inneren Reaktion auf Außenreize: Die einen reagieren mit Rückzug, scheinen innerlich zunächst einmal „nein“ zu sagen, während die anderen sich schnell und offen einlassen können. Für diese beiden Einstellungen benutzte er die Begriffe introvertiert und Extrovertiert.

„Begeisterung besitzen beide Typen“, aber … „fließt dem Extrovertierten der Mund über, wessen ihm das Herz voll ist“, so schließt „die Begeisterung dem Introvertierten den Mund“.5

Als Introvertierte in einer lauten Welt

Man könnte den Eindruck gewinnen, als seien die Extrovertierten in der Überzahl. Aber ob es nun wirklich mehr Extrovertierte als Introvertierte gibt, ist nicht so ganz klar. Einige Experten schätzen das Verhältnis extrovertiert zu introvertiert in der Bevölkerung auf 70 % zu 30 %, andere gehen davon aus, dass das Verhältnis halbwegs ausgeglichen ist, die Introvertierten aber nicht so auffallen. Außerdem haben viele introvertierte Menschen sich den Erwartungen ihrer Umwelt angepasst und sind nicht sofort als introvertiert erkennbar.

In Politik und Wirtschaft scheinen mehr Extrovertierte an der Spitze zu stehen – die deutsche Kanzlerin Angela Merkel aber gehört wohl eher zu den Introvertierten, genauso wie ihre Vorgänger Willi Brandt und wahrscheinlich auch Helmut Schmidt, der von sich gesagt haben soll: „Ich muss mich nicht selbst reden hören. Ich rede nur über Dinge, über die ich auch Bescheid weiß. Gut, manchmal rede ich über die vielleicht etwas zu ausführlich, aber ich werde ja auch immer gefragt.“

Einer, den man eigentlich eher für extrovertiert halten würde, beschreibt sich selbst als „einen umgeschulten Introvertierten“: Barack Obama. Der US-Präsident ist nicht nur ein leiser Mensch, sondern gleichzeitig auch cool, witzig und charismatisch. Machtbewusstsein, eine öffentliche Rolle und Introvertiertheit schließen sich also nicht aus.

Im IT-Bereich findet man Introvertierte häufig an der Spitze: Bill Gates zum Beispiel ist so ein stiller Mensch. Mit Reden tut er sich schwer, trotzdem hat er eine einzigartige Karriere hingelegt, ebenso wie Google-Chef Larry Page und Facebook-Gründer Zuckerberg. Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, enthüllt über sich selbst so wenig wie möglich und gilt als scheu und zurückhaltend.

Interessanterweise gibt es unter Künstlern wahrscheinlich überdurchschnittlich viele Introvertierte. In den bildenden Künsten sind sie vielleicht sogar in der Überzahl, denn die Möglichkeit, sich durch ein Kunstwerk auszudrücken, ohne sich dabei der Wirkung einer Gruppe aussetzen zu müssen, liegt Introvertierten sehr. Aber auch im Bereich Schauspiel und Regie sind mehr Introvertierte aktiv, als man denken könnte. Woody Allen ist ein berühmtes Beispiel, der durch seine Art, zu fühlen und zu denken, faszinierende Filme gemacht hat. Steven Spielberg ist ebenfalls introvertiert. Die verstorbenen Künstler Alfred Hitchcock, Robin Williams und Michael Jackson gehörten dazu, Clint Eastwood, Richard Gere, Loriot, Günther Jauch, Bruno Ganz, Corinna Harfouch, Götz George, Matthias Brandt und viele mehr.

Dabei entwickeln die Introvertierten auf der Bühne eine ganz besondere Präsenz. In einem Spiegel-Artikel (34/​2012) wurde Matthias Brandt von der Autorin Kerstin Kullmann so beschrieben:


Wenn der Schauspieler Matthias Brandt vor die Kamera tritt, kann er alles: lachen, lieben, toben und hassen. Er kann charmieren, flirten und um den Finger wickeln. Verlässt er jedoch die Aufnahmesituation, fällt ihm das schwer. Und das liegt daran, dass er gar nicht so extrovertiert ist, wie alle meinen. (…)

Der Schauspieler Matthias Brandt kann in einer Rolle aus sich herausgehen. Er überwindet sein Temperament, um zu spielen. Außerhalb des geschützten Raums der Kunst ist er wieder ein zurückhaltender, leiser Mensch. Er sagt: „Aus mir bricht es nicht heraus. Bei anderen tut es das. Bei mir eben nicht.“ (…)

„Ich glaube“, sagt Brandt, „dass es künstlerisch ein sehr interessanter Vorgang ist, wenn man Widerstände überwindet.“ Jedes Mal, wenn er auf die Bühne trete, gebe es einen Moment der Konzentration, bevor er den Mut fasse, aufzutreten.

„Ich gehe dann von innen nach außen“, erzählt der Schauspieler. „Das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Energie, die dann in meiner Arbeit steckt.“ Ein zurückhaltender Mensch, der sich selbst zum Schauspielern überredet – und so herausragende Leistungen vollbringt.

Ob ich introvertiert oder extrovertiert bin, ist nicht grundsätzlich entscheidend dafür, ob ich ein erfolgreiches Leben führe oder nicht. Allerdings ist es für Introvertierte mit anderen Herausforderungen verbunden, wahrgenommen zu werden – und vor allem sich selbst wahr- und ernst zu nehmen. 6


Jede Persönlichkeit hat viele verschiedene Facetten und Anteile. Ich selbst zum Beispiel bin ein zurückhaltender und introvertierter Mensch. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, mich mitzuteilen, es macht mir nichts aus, vor vielen Menschen zu reden. Im Gegenteil: je mehr, umso leichter. Ich rede lieber vor 500 als vor 10 Menschen, denn 500 sind eine Masse, 10 haben ein Gesicht. In Vorträgen bin ich lebendig, kreativ und offen – im Einzelkontakt bin ich eher zurückhaltend. Selbst in der Gegenwart vertrauter Menschen höre ich mehr zu, als selbst zu reden (und daraus habe ich sogar einen Beruf gemacht). Die Aufforderung „Jetzt erzähl doch mal was von dir!“ setzt mich unter Stress, ebenso wie die Frage: „Was war denn so los in der letzten Zeit?“ Meine Antworten darauf sind meist kurz, und ich sorge durch eine Gegenfrage dafür, dass mein Gegenüber redet. Das ist auch meine Smalltalk-Methode: Ich erzähle nicht, ich lächle und frage.

Als Kind spielte ich am liebsten allein in meinem Zimmer, las, hörte Musik, sang. Ich war ein unauffälliges Kind. Nach und nach fand ich einen Weg aus meinem Schneckenhaus, und zwar dadurch, dass mich die Leiterin der christlichen Jungschargruppe wahrnahm, mich behutsam förderte und mir nach und nach immer mehr Aufgaben in der Gruppe übergab: Zuerst bat sie mich, den Gesang mit ihr zusammen mit der Gitarre zu begleiten, später gab sie mir Geschichten zum Vorlesen, brachte mir bei, wie man eine Andacht gestaltet, und ermutigte mich ausdauernd, das auch mal vor den anderen Jungscharkindern auszuprobieren … und nach einigen Jahren konnte ich das alles ohne sie.

Irgendwann stellte ich erstaunt fest, dass sich meine Rolle auch außerhalb der Jungschar verändert hatte: Nachdem ich mit 16 Jahren auf eine weiterführende Schule wechselte, war ich, für mich vollkommen unerwartet, Klassensprecherin. Auf die anderen Schüler im Einzelkontakt zuzugehen fiel mir immer noch schwer, und ich war auch niemals einer der „Klassenstars“, aber mein Redetraining hatte sich ausgewirkt – ich konnte mich äußern und wurde als Ratgeberin in vielen Bereichen geschätzt. Heute leite ich als Supervisorin Gruppen, bilde Coaches aus, leite Seminare im Bereich der Sozialpsychiatrie oder in Seniorenheimen. Ich bekomme sehr oft die Rückmeldung, meine Seminare seien unterhaltsam und meine entspannte Art der Gruppenleitung wohltuend und ermutigend. Aus dem Wissen und der Erfahrung heraus, die ich in mehr als 30 Jahren sozialer Arbeit gesammelt habe, kann ich in der Gruppe schnell und angemessen reagieren: Ich weiß ja, das sind meine Aufgabe und meine Rolle, ich bin also darauf vorbereitet. Aber in einer Gruppe fremder Menschen, unter denen ich keine Aufgabe habe, fühle ich mich immer noch nicht wohl. Hier bin ich meist zurückgenommen, reagiere auch viel langsamer und muss länger nach Worten suchen, wenn ich sie brauche.

Ich bin viel unter Menschen, und ich brauche es bis heute jeden Tag, mich zurückzuziehen, denn Erholung finde ich überwiegend im Alleinsein. Ich gehe zum Beispiel während Tagesseminaren nicht zum Essen, sondern mache lieber einen Spaziergang. Ich verbringe während mehrtägiger Seminare die freien Abende nicht mit der Gruppe, sondern allein. Das ist akzeptiert und kein Problem – Kontakt zur Gruppe habe ich trotzdem, denn wenn ich mit ihr arbeite, bin ich ganz präsent und für die Teilnehmer da.

Ich bin verheiratet, und auch hier brauche ich Zeit für mich allein. Spaziergänge tun mir gut, auch das Lesen ist eine Möglichkeit des Rückzugs und der Erholung. Darüber hinaus sind Gebet und Meditation für mich die wichtigsten Orte des Auftankens, in denen ich allein und trotzdem im Kontakt bin und meine Seele zur Ruhe kommt.

Karin Ackermann-Stoletzky