Der Raum des Möglichen

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Inhalt

Jutta Allmendinger, Robert Dorschel Der Raum des Möglichen Haben Frauen die Wahl?

Die Autoren

Impressum

Jutta Allmendinger, Robert Dorschel

Der Raum des Möglichen

Haben Frauen die Wahl?

Die moderne Gesellschaft fordert das Individuum heraus. Scheinbar darf es ständig wählen, angefangen bei der Zahnpasta über den Beruf bis hin zum Lebenspartner. Der menschliche Alltag ist damit auch reich an falschen Wahlen. Wir kennen die Überlegung nach dem gehetzten Einkauf im Supermarkt, nach Gesprächen mit Freundinnen über die Arbeit oder aus den Gedanken an die Ex-Partner, die man nun mit anderen Augen sieht. Nicht nur vor und nach Bundestagswahlen, sondern praktisch jeden Tag dürften viele von uns über vermeintlich falsche und richtige Wahlen grübeln.

Was hat die soziologische Theorie dazu sagen? Wir werden im Folgenden drei Deutungen anbieten, mit denen wir das »Postulat des falschen Wählens« kritisch betrachten. Wir beginnen mit einer marxistischen, gefolgt von einer diskurstheoretischen und schließlich einer praxistheoretischen Perspektive. Die drei soziologischen Deutungsangebote werden jeweils mit politischen Anmerkungen hinterlegt. Dabei konzentrieren wir uns auf die soziale Gruppe der Frauen. Mit der Frage: Treffen Frauen bezüglich ihrer Lebensführung und in politischen Abstimmungen oft schlicht die falsche Wahl? Mithilfe der sozio-logischen Theorie, flankiert von empirischen Schlaglichtern, gehen wir dieser kontroversen Frage auf den Grund, ohne sie jedoch abschließend zu klären.

Wählen als Frage des Bewusstseins

Sollte man sich überhaupt soziologisch mit der Frage beschäftigen, ob etwas »falsch« ist? »Unbedingt«, würde Karl Marx, einer der Gründerväter der Soziologie, antworten. Schließlich formulierte er neben einer Kritik der politischen Ökonomie auch eine Kritik des herrschenden Bewusstseins.1 Folgen wir Karl Marx, so findet in jeder historischen Gesellschaftsordnung eine Verblendung der Lohnarbeitenden statt, die durch Arbeitsteilung, Ausbeutung und einen institutionellen Überbau entsteht. Der Mensch entfremdet sich – von der Arbeit, seinen Mitmenschen, der Natur, schließlich von sich selbst.2 Im Kapitalismus, so Marx, entfernt sich der Mensch von seinen eigentlichen Interessen und entwickelt ein falsches Bewusstsein.

Marx sieht den Kapitalismus als ein System, das eine ökonomische Ungleichheit schafft und unser Bewusstsein täuscht. Das falsche Bewusstsein verhindert, dass eine sozialistische Gesellschaft entsteht, weil die Arbeitenden ihre gemeinsamen Interessen nicht erkennen und damit keine »Klasse für sich« bilden können. Nach Marx können die Lohnarbeitenden nicht frei wählen, da sie in einem Zustand des Getäuschtseins leben und damit selbst beitragen, das herrschende kapitalistische System aufrechtzuerhalten. Sie malochen wahl- und alternativlos dahin, anstatt ihre Lage zu durchschauen und sich gegen ihre Ausbeutung aufzulehnen.

Wichtig ist hier, dass das falsche Bewusstsein als ein Struktureffekt zu verstehen ist. Dem Individuum wird kein freier Wille zugerechnet. Gemeinsam mit Friedrich Engels betonte Karl Marx stets die Macht der sozialen Verhältnisse. Sie erforschten beide, wie die Arbeits- und Lebensbedingungen, in die Menschen geworfen werden, deren Einstellungen und Handlungen weitestgehend vorherbestimmen. Diese Einsicht mag banal klingen, insbesondere für die Leserschaft des Kursbuches, die aufgrund einer Kombination von hohem kulturellem, aber »nur« mittelhohem ökonomischem Kapital womöglich eher skeptisch gegenüber den derzeitigen ökonomischen Verhältnissen eingestellt sein dürfte. In vielen Teilen der Gesellschaft erachtet man es indes als gesetzt, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Es lebe die Meritokratie. Der marxistische Ansatz sensibilisiert dafür, dass unser Bewusstsein mit unserer Position im Produktionsprozess zusammenhängt. Wie ich ticke, hängt davon ab, wo ich stehe und unter welchen Bedingungen ich meine Arbeitskraft verkaufen muss. Axel Honneth hat diesen Punkt jüngst in den Walter Benjamin Lectures 2021 aufgegriffen.3 Mit Bezug auf Karl Marx stellt er infrage, ob sich Demokratie in Gesellschaften überhaupt verwirklichen lasse, in denen Menschen den überwiegenden Teil ihres Alltags in demokratiefernen Kontexten verbringen. Damit bezieht er sich auf die kapitalistische Arbeitswelt, für ihn eine Gegenwelt zur Demokratie. Zugespitzt lautet seine Botschaft: Menschen können eigentlich nicht wählen, weil sie erwerbstätig sein müssen und im Reich der Betriebe nicht gewählt werden darf.

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