The Dark Side of Love: Im Folterschloß gefangen

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The Dark Side of Love: Im Folterschloß gefangen
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THE DARK SIDE OF LOVE:

Im Folterschloß gefangen

Jürgen Prommersberger: Im Folterschloß gefangen

Regenstauf , November 2016

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor:

Jürgen Prommersberger

Händelstr 17

93128 Regenstauf

1. Kapitel

Es gibt in Frankreich eine Burg, die wie der Prototyp eines mittelalterlichen Märchenschlosses aussieht. Sie wurde in der Zeit des Herzogs Karl der Kühne erbaut, aber in der Französischen Revolution fast vollständig zerstört. Am Ende des 19. Jahrhunderts ließ die Gattin des französischen Staatspräsidenten, in dessen Besitz die Burgruine gelangt war, sie mit Spendengeldern großzügiger und schöner denn je restaurieren. Allein die Freilegung des 60 Meter tiefen Brunnens im Burghof, der mit dem Schutt der alten Burg verfüllt worden war, dauerte fast zwei Jahre. Am Ende der Restaurierung war eine Burganlage mit Rittersaal, Speisesaal, Küche, Schlafzimmern, Kapelle, unterirdischen Gewölben, Folterkammer und Bergfried entstanden, die wie ein Gesamtkunstwerk mit bunten Glasziegeln und zehn spitzen Türmen und Türmchen über einem bewaldeten Berg weit über das gleichnamige Dorf und die dunklen Waldtäler ins Land grüßt. Es ist das Chateau de Salers. In diesem Chateau nun beginnt unsere schaurig-schöne Geschichte von Liebe, Einsamkeit und Unterwerfung. Der Sohn des Staatspräsidenten führte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das lobenswerte Unternehmen seiner Mutter nach deren Tode fort und vollendete die Restauration etwas stilwidrig mit der Einrichtung des sogenannten Chambre chinoise aus den Geschenken, die die chinesische Kaiserinwitwe bei ihrem Staatsbesuch in Paris aus dem Fernen Osten mitgebracht hatte. Allein, er hatte finanziell keine so glückliche Hand, der Fluss der Spendengelder ging vor dem 1. Weltkrieg zurück, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Burg an einen reichen Privatmann aus dem burgundischen Weingroßhandel zu veräußern, da der französische Staat nach den millionenfachen Opfern und Schäden des 1. Weltkrieges nicht in der Lage war, die Treuhänderschaft für dieses mittelalterliche Juwel zu übernehmen. Im Zweiten Weltkrieg diente das Schloss de Salers als Unterschlupf für abgesprungene englische und amerikanische Fallschirmagenten, da es nur einen einzigen, leicht zu verteidigenden Brückenzugang und einen unterirdischen Fluchtweg unter dem Felsen hindurch besaß, der den Flüchtenden erst nach gut zwei Kilometern in einem benachbarten Tal wieder an die Erdoberfläche führte. Als im August 1944 Dorf und Schloss und ganz Südfrankreich von den Amerikanern, die an der Cote d'Azur gelandet waren, befreit waren, feierten Besitzer, Dörfler und Befreier im Schlosshof tage- und nächtelang und ließen sich den Wein des freigebigen Weinhändlers sehr wohl munden. Da machten Geschichten die Runde, wie man die dummen Boches gefoppt hatte und wie man so manchen Agenten, dessen Überleben kriegsentscheidend gewesen wäre, versteckt und gerettet hatte, und alle Augen glänzten, wenn wieder und wieder "Allons enfants de la patrie" geschmettert und der "Yankeedoodle" gepfiffen wurden. Das folgende Jahr, das erste Friedensjahr, war viel weniger interessant; die Geschäfte gingen schlecht und der Besitzer musste Konkurs anmelden. Das Schloss wurde versteigert, aber erbrachte längst nicht so viel, dass alle Gläubiger des Weingroßhändlers zufriedengestellt werden konnten. Den Zuschlag erhielt eine Holländerin, die mit Gewürzhandel aus dem damals noch niederländischen Indien, dem heutigen Indonesien, ein Vermögen gemacht hatte. Die neue Besitzerin musste nach der Unabhängigkeit Niederländisch-Indiens im Jahre 1949 den Gewürzhandel mit Batavia, dem heutigen Djakarta, aufgeben und zog sich mehr und mehr auf ihr Schloss in Burgund zurück und lebte fortan als Rentnerin von den Dividenden ihres ungeheuren Aktienbesitzes. Ihr einziges Kind, ein aufgeweckter Bub von 15 Jahren, war im September 1944 von SS-Soldaten bei den Kämpfen gegen englische und amerikanische Fallschirmtruppen, die bei Arnheim und Nimwegen gelandet waren, um die Rheinbrücken zu erobern, getötet worden. Für die trauernde Mutter war dieses schlimme Ereignis ein weiterer Mord der Deutschen und fortan hasste sie alles Deutsche noch mehr als vorher. Bei ihren zahlreichen Reisen vermied sie es, wann immer es möglich war, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu betreten, obwohl dieser neue Staat sich ausdrücklich zur Europäischen Einigung, zur Freundschaft mit Frankreich und zur Partnerschaft in der NATO, zu der auch die Niederlande gehörten, bekannte. Allein, es war ihr nicht möglich, über ihren persönlichen Schatten zu springen, und sie übertrug ihren Hass gegen die früheren Nazis und SS-Soldaten auf den neuen westdeutschen Staat. Das Chateau de Salers war Balsam für ihr verwundete Seele. In ihrem neuen Domizil adoptierte sie 1954, auch um in der Einsamkeit ihres Alters noch einmal eine neue Aufgabe zu übernehmen, eine französische Waise namens Michèle, die fortan die große Freude ihres Lebensabends wurde und prächtig heranwuchs. Die Holländerin hatte einen großen gesellschaftlichen Freundeskreis, wurde oft zum Essen eingeladen, gab häufig selbst Empfänge im Chateau, und so blieb es nicht aus, dass sie immer wieder neue Gesichter kennen lernte. Gegen Ende desselben Jahres, in dem sie Michèle adoptiert hatte, nahm sie an einem Abendessen in Dijon teil, zu dem man sie als einzige Frau, weil sehr vermögend und einflussreich, eingeladen hatte. Als man schon bei Kaffee und Wein angekommen war, wurde sie Ohrenzeugin, wie ein mit deutschem Akzent redender Gast, ein etwa 45-jähriger Mann, auf Ereignisse des Weltkriegs zu sprechen kam. Er sprach von den für die Deutschen erfolgreichen Abwehrkämpfen gegen Engländer und Amerikaner bei Arnheim und bekannte, da der Wein seine Zunge ein wenig gelockert hatte, dass er 1944 Sturmbannführer in einer SS-Panzerdivision gewesen sei. Zwar hörte man aus seinen Worten ein wenig Stolz auf diesen letzten deutschen Erfolg im 2. Weltkrieg heraus, aber als mittlerweile geläuterter Bürger der BRD bekannte und bedauerte er diesen militärischen Abwehrerfolg in politischer Hinsicht, denn bei einem erfolgreichen Durchbruch der Amerikaner und Engländer über den Rhein hinaus wäre der "verdammte Krieg schon im Herbst 1944" zu Ende gewesen und Millionen von Soldaten und Zivilisten hätten den Zweiten Weltkrieg überleben können. Für die Schlossbesitzerin war die Erfahrung, dass ein ehemaliger SS-Angehöriger mit am Tisch saß, die wichtigste, und die alte Wunde riss in ihrem mütterlichen Herzen wieder auf. Unter einem Vorwand lud sie ihn, als sie die Abendgesellschaft verließen und sie ihn allein unter vier Augen sprechen konnte, zu einem Besuch ihrer Burg ein. Sie lockte ihn vor allem mit dem Hinweis auf die prächtige Waffenkammer, in der sogar noch Waffen aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich im funktionstüchtigen Zustand zu sehen seien. Man vereinbarte den nächsten Mittwoch, und sie bat ihn, niemandem von der Einladung zu erzählen, weil sie nicht wollte, dass man im Dorf oder sonst wo erfuhr, dass ausgerechnet sie, eine Hasserin aller Deutschen, einen deutschen Gast eingeladen hatte. Am nächsten Mittwoch klingelte der deutsche Gast verabredungsgemäß am frühen Morgen an der schweren Eichentür der Burg, wo ihm vom Gärtner aufgemacht wurde. Die Holländerin hatte bis auf ihn allen Angestellten für heute frei gegeben. Ihr Adoptivkind hatte sie der Amme für den Rest der Woche mitgegeben. Sie empfing ihn in der Küche, wo er über die komplette Einrichtung ins Staunen kam. Zwar kam die Kücheneinrichtung, soweit noch brauchbar, weitgehend aus dem 19. Jahrhundert, aber für den Gast erhöhte sie den Reiz, in eine andere Welt versetzt worden zu sein. Dann zeigte sie ihm den Wachsaal, in dem die Burgmannschaft und bei Gefahr auch das weibliche Gesinde, ausgeharrt hatten. Die Burg war im Mittelalter nie erobert worden; erst die französischen Revolutionäre hatten sie, obwohl längst nicht mehr bewohnt, als Symbol früherer Unterdrückung in Brand geschossen. Dort, wo die Waffen ausgestellt waren, ging der deutsche Gast aufmerksam die Reihe der Langschwerter ab und befühlte respektvoll die Schärfe des Eisens. Besonders interessierten ihn die Fernwaffen, die bei Belagerungen eingesetzt wurden. Am meisten interessierten ihn aber die Armbrüste, die die englischen Armbrustschützen in der Schlacht von Crécy 1346 erfolgreich gegen das französische Ritterheer eingesetzt hatten. Sie ermunterte ihn, einmal eine Armbrust mit der eingebauten Kurbel zu spannen, und so war es ihm möglich, die ungeheure Spannkraft der eisernen Spitzen zu fühlen, die mühelos die Plattenpanzer der französischen Ritter auf 200 Yards (ca. 183 m) durchschlugen. Als ehemaliger Soldat war er in seinem Element und er freute sich, dass sie seinen fachmännischen Kommentaren so geduldig und aufmerksam zuhörte. Dann schlug sie ihm vor, andere Gemächer und Gewölbe der Burg zu besichtigen. Vorher schaute sie in der Küche nach, wo eine kräftige Hühnersuppe auf dem Herd dampfte und im Bratofen ein dunkler Rinderbraten schmorte. Die Aussicht auf die interessante Besichtigung und das warme Essen an diesem kalten Novembertag ließ das Herz des Deutschen höher schlagen. Um elf Uhr führte sie ihn nacheinander durch den Ess-Saal, der schon für zwei Personen eingedeckt war, danach durch die verschiedenen Schlafzimmer, die eigenartigerweise mit achteckiger Grundfläche in den verschiedenen oberen Gemächern der Rundtürme untergebracht waren. Die Kapelle mit der Muttergottesfigur lag schon halb unter der Erde und erinnerte mehr an ein Rundgewölbe. Die drei anschließenden unterirdischen Gewölbe waren bis auf eines nicht zugänglich. Dieses eine war die Folterkammer, die der Reichhaltigkeit der anderen Teile der Burg in nichts nachstand. Hier betrachteten sie die trickreichen Instrumente, mit denen die Inquisition Ketzer zum Bekennen ihrer Sünden und die Raubritter ihre Gefangenen zum Ausplaudern ihrer verborgenen Reichtümer gezwungen hatten. Besonders schaurig wirkte die aufrecht stehende eiserne Jungfrau, die wie ein hölzerner Sarkophag zugeklappt werden konnte und den armen Sünder darin mit eisernen Nägeln regelrecht aufspießte und durchlöcherte. Davor stehend, verabscheute er laut die Grausamkeit der Vorfahren, aber die Holländerin dachte dabei an die Grausamkeiten, die die Deutschen in ihrer Heimat begangen hatten. Schließlich brachte sie ihn auch dazu, einen Blick in ein anschließendes leeres Zimmer zu werfen, das als Gefängnis der armen Teufel, die hier gefoltert worden waren, gedient hatte. Sie blieb am Eingang stehen, weil weiter nichts zu sehen sei, wie sie sagte. Als er, in der Mitte stehend, sich umschaute, streckte sie ihre rechte Hand zu einem verborgenen Hebel in der Wand aus und löste damit eine eiserne Falltür aus, die oberhalb des Türsturzes in der dicken Steinwand eingelassen war und laut polternd nach unten rauschte. Er hielt es für eine nette Demonstration mittelalterlicher Technik, wunderte sich aber, dass sie, ohne etwas zu sagen, kehrtmachte und die Folterkammer verließ, wie er durch das Eisengitter beobachten konnte. Die Holländerin kehrte nie wieder in die Folterkammer zurück. Noch am selben Nachmittag befahl sie ihrem alten Gärtner, der geistig schon sehr debil war, das Zimmer zuzumauern. Er war finanziell und auch sonst in jeder Hinsicht von ihr abhängig und tat, was sie verlangt hatte, ohne darüber nachzudenken oder jemals nachzufragen. Er starb fünf Jahre später. Die Holländerin lebte noch weitere 16 Jahre, nahm ihr Geheimnis mit ins Grab - Gott möge ihrer armen Seele gnädig sein! - und hinterließ die schöne Burg mit ihrem schaurigen Geheimnis ihrer gerade volljährig gewordenen Tochter Michèle.

 

2. Kapitel

Die Tochter studierte politische Ökonomie an der Universität Besançon, als ihre Mutter starb. Diese hatte im Testament verfügt, dass der Aktienbesitz und das Immobilienvermögen - ein Haus in Arnheim und das Chateau de Salers - bis zum 25. Geburtstag der Tochter von einem Treuhänder verwaltet werden sollten. Die Tochter machte in der vorgeschriebenen Zeit ihren universitären Abschluss und war danach eine begehrte Partie für die jungen Söhne der französischen Oberschicht. Doch Beziehungen zu Männern, die als Heiratskandidaten sehr wohl in Frage kamen, gingen nacheinander wieder auseinander, auch wohl deswegen, weil sie oft meinte, nicht um ihrer selbst willen, sondern ihres Vermögens wegen hofiert zu werden. Im Laufe der nächsten Jahre wurden die Anträge seltener, weil die jungen Männer eine erneute Absage fürchteten. Michèle selbst bekümmerte das nicht im Geringsten, denn sie liebte ihre Eigenständigkeit und mit Hilfe ihres Reichtums konnte sie sich fast alles leisten, wovon die meisten Frauen in ihrem Alter nur träumen konnten. Leicht hätte sie eine Karriere in einem internationalen Wirtschaftsunternehmen beginnen können, denn sie hatte ein Uni-Diplom und beherrschte neben Französisch die holländische und englische Sprache. Allein sie zog es vor, sich um ihr Schloss zu kümmern und entwickelte die Instandhaltung, die sehr viel Geld erforderte, im Laufe der Zeit von einem Hobby zu einem eigenen Wirtschaftsunternehmen, indem sie die mittelalterliche Burganlage zu einem Museum für Touristen, die für eine Besichtigung Geld zahlen mussten, umwandelte. Im Laufe der Zeit - sie war mittlerweile 35 Jahre alt - hatte sie den Gedanken an eine Ehe und an eigene Kinder längst aufgegeben, vermisste diese aber in ihrer Lebensplanung fast gar nicht, denn sie war in der Gemeinde, zu der das Schloss gehörte, als großzügige Wohltäterin der Primarschule, des Altenheims und der katholischen Pfarrgemeinde hoch angesehen. Sie war sozusagen die gute Seele ihrer Dorfgemeinde geworden, alle Kinder nannten sie nur "chère Michèle" und verehrten sie wie eine Übermutter. Selbst der Bürgermeister hörte auf sie. Kurzum: Sie war in ihrem Dorf die Erste. Außerdem hatte sie die Schirmherrschaft einer nationalen mildtätigen Organisation übernommen, die dafür sorgte, dass Findelkinder eine finanziell gesicherte ordentliche Schul- und Berufsausbildung erhielten. Daneben war sie äußerst geschäftstüchtig und sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, die Attraktivität des Schlosses und damit auch die Einnahmen aus den Besichtigungen zu steigern, obwohl sie ohne Weiteres in der Lage gewesen wäre, die anfallenden Unterhaltungskosten für das Gemäuer und dessen Einrichtung aus ihrem Geld- und Aktienvermögen zu bestreiten. Sie stellte z.B. junge Frauen und Männer ein, die für die Kasse und für Führungen in französischer, holländischer, englischer, deutscher, spanischer und italienischer Sprache zuständig waren. Da das Schloss unweit der neuen Autobahn lag, die vom Norden an die Cote d'Azur führte, machten sehr viele Niederländer auf nahe gelegenen Campingplätzen Station und wurden auf dieses wunderschöne Schloss aufmerksam. Auch viele Schweizer und Italiener waren oft unter den Besuchern zu finden, weil die Anreise nicht allzu weit war. Insgesamt - so weisen die Besuchernamen im Gästebuch aus - waren Reisende aus fast allen westeuropäischen Staaten in den Sommermonaten im Schloss zu Besuch, und auch die Gastronomie im gleichnamigen Dorf profitierte von diesem beständigen Touristenstrom. In den ruhigen Wintermonaten entließ sie das Saisonpersonal, schloss die Burg und machte ausgedehnte Reisen. Im Frühjahr reiste sie auch nach Paris, um wichtige Kontakte zu pflegen und am reichhaltigen kulturellen Leben der französischen Hauptstadt teilzuhaben. Gegen Ende der 90er Jahre ging sie dazu über, nicht nur Führungen durch das Schloss anzubieten, sondern es sozusagen auch zum Leben zu erwecken, indem sie - gegen Bezahlung - lebendes Inventar engagierte, das in entsprechender mittelalterlicher Kleidung die Waffenkammer, den Wachsaal, die Schlafzimmer, den Ess-Saal, die Küche, den Bann-Ofen usw. bevölkerte und die Illusion einer längst vergangenen Epoche täuschend echt hervorrief. Der Eintrittspreis wurde erhöht, so dass die zusätzlichen Personalkosten wieder hereingeholt wurden. Mit der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung im zweiten Jahr des neuen Jahrtausends stieg der Eintrittspreis auf 10 Euro und lag somit im oberen Drittel vergleichbarer Touristenattraktionen. Michèle war jetzt 48 Jahre alt, sah äußerst gepflegt aus und leistete sich den persönlichen Luxus, die täglichen Geschäfte durch einen Sekretär erledigen zu erlassen, der äußerst zuverlässig und ihr gegenüber absolut loyal war. Er war zehn Jahre jünger als sie und kümmerte sich als ihre rechte Hand darum, dass alle Angestellten sowohl bei den Führungen als auch als "Mittelalter-Personal" eine gute Figur machten bzw. adäquat gekleidet waren. Er war es auch, der seiner Chefin den Vorschlag machte, auch für den Folterkeller "Gefangene" zu engagieren, die - entsprechend gekleidet und angekettet - den Besuchern die düstere Seite des Mittelalters nahebringen sollten. Obwohl sie die Gerätschaften in der Folterkammer schon schlimm genug fand, ließ sie sich überzeugen, dass der Eindruck von der mittelalterlichen Burg unvollkommen sei, wenn ausgerechnet die eindrucksvolle Folterkammer menschenleer bleiben würde. Manchmal gab es Tage, wo die meisten Besucher bei den Führungen sich sofort nach der Folterkammer erkundigten. Daher willigte sie nach einiger Zeit auf den Vorschlag ein, in zwei Pariser Tageszeitungen und in der Provinzzeitung je eine Annonce aufzugeben, in der nach zwei ledigen Männern gesucht wurde, die bereit seien, in einer vollständig erhaltenen mittelalterlichen Burg als "Gefangene" im Burgverlies stundenweise - gegen ordentliche Entlohnung - auszuharren. Es meldeten sich bereits nach den ersten Tagen mehr als genug, so dass der Sekretär in Ruhe die beiden auswählen konnte, die ihm am meisten geeignet für den Job erschienen. Sie mussten über genug Servilität verfügen, um diese langweilige Tätigkeit - wenn überhaupt davon die Rede sein konnte! - zu übernehmen und ausreichend körperliche Fitness, denn sie sollten, damit auch alles sehr authentisch wirkte, von morgens bis abends in der Folterkammer angekettet werden.

3. Kapitel

Am vereinbarten Wochenbeginn traten die beiden Männer, die aus der Bretagne stammten, ihren Dienst an und meldeten sich an der Kasse, wo sie vom Sekretär eingewiesen wurden. In dem Gewölbe direkt neben der Folterkammer, das bisher, weil leer, abgeschlossen gewesen war, konnten sie sich umziehen, um ihre mittelalterliche Gefängniskleidung, die der Sekretär auf dem Arm trug, anzuziehen. Sie bestand aus einem grauen, groben Sackleinenstoff, der wie ein ärmelloser Kittel geschnitten war, von einem Strick anstelle eines Gürtels in der Taille geschnürt wurde und bis zu den Knien reichte. Dazu bekamen sie Ledersandalen für die nackten Füße. Dann führte er die beiden in die benachbarte Folterkammer, wo er sie hieß, dass sie sich auf den Fußboden setzen und mit dem Rücken gegen eine Wand lehnen sollten. Ihre Beine wurden oberhalb der Fußknöchel auf einen niedrigen Pranger mit zwei Aussparungen gelegt, dessen obere Hälfte, der genau gleiche Aussparungen hatte, umgeklappt und an einer Seite zugeschraubt wurde. Die dicke Schraube hatte am entgegengesetzten Ende ein Loch, durch das ein kleines Vorhängeschloss gesteckt und abgeschlossen wurde. So waren die beiden Bretonen in stilechter Weise bewegungsunfähig gemacht worden. Die längliche Folterkammer selbst war durch eine hölzerne Barriere zweigeteilt. Das linke Drittel war leer und für die Besucher reserviert, der doppelt so große rechte Teil enthielt die verschiedenen Folterinstrumente und -vorrichtungen sowie die beiden "Gefangenen". Mächtige Rundbögen stützten das Tonnengewölbe aus Sandsteinquadern. Am Ende einer Führung stand als letzter Besichtigungspunkt, bevor die Besucher in den lieblichen Burginnenhof entlassen wurden, die Folterkammer auf dem Programm, das - örtlich betrachtet - von ganz oben, dem Ausguck auf dem höchsten Turm mit Ausblick über Dorf und Täler, nach ganz unten zum Verlies im Keller führte. Eine typische Führung durch eine der sprachgewandten Führerinnen endete also in der Folterkammer, nachdem alle Zuschauer hinter der Barriere Aufstellung genommen hatten, in der Regel auf Französisch: "Et alors, mesdames et messieurs, ici, vous voyez les instruments de torture les plus fréquents. Voici, à gauche, le toca, voilà le potro et là-'haut la garrucha. ..." Nach den französischen Erläuterungen kam in der Regel die deutsche Beschreibung der Einrichtung in der Folterkammer, da häufig deutsche Touristen die zweitgrößte Gruppe stellten: "Und hier, meine Damen und Herren, sehen sie die Folterwerkzeuge, die am häufigsten zum Einsatz kamen. Das sind hier links die Toca, dann dort drüben die Potro und da oben die Garrucha. Ich beschreibe Ihnen jetzt in aller Kürze die Wirkungsweise dieser Vorrichtungen. ..." Nachdem sie mit der Schilderung dieser aus der spanischen Inquisition stammenden "Erfindungen", wie der geneigte Leser am Klang der drei Fachbegriffe unschwer erkennen kann, zu Ende war, wies sie auf einige andere Instrumente hin, die "nur" einzelnen Körperteilen Schmerz zuzufügen in der Lage waren: Daumenschrauben, von denen es mehrere in der Kammer gab, die Schandgeige, die um Hals und Handgelenke geschlossen wurde, als auch Spanische Stiefel und den Gespickten Hasen, welch letztere zum Quetschen der Füße und Beine gedacht waren. Die schon erwähnte eiserne Jungfrau war eigentlich kein Folter-, sondern ein Tötungsinstrument. Ganz überwiegend hätten diese schrecklichen Dinge, so erklärte die Führerin abschließend, Anwendung gefunden, wenn Ketzer oder Hexenmeister oder Hexen zu Geständnissen gebracht werden sollten.

Man brauchte nur genügend lange und ausreichend häufig zu foltern, um jeden, wirklich fast jeden zu Aussagen zu veranlassen, die ihn schwerstens belasteten und ihm in fast allen Fällen dem Tod auf dem Scheiterhaufen brachten. Vor dem eigentlichen Ketzer- oder Hexenprozess wurden die Delinquenten für die peinliche Befragung immer nackt ausgezogen und an das jeweilige Folterinstrument gebunden und anfänglich ermahnt, freiwillig die Wahrheit zu sagen, damit sie sich die schrecklichen Schmerzen ersparten und durch tätige Reue die eigene Seele retteten. Bei dieser Prozedur waren mindestens immer drei Männer anwesend: ein Gerichtsschreiber, ein Pfaffe und ein Folterknecht. Oft sei es vorgekommen, dass der Folterknecht oder auch alle drei Männer bei der peinlichen Untersuchung der nackten Frau nach sogenannten Teufelszeichen - Muttermalen, Warzen oder Haarwuchs dort, wo Frauen normalerweise keine Haare haben - ihren abseitigen Neigungen hätten frönen können. Warzen zum Beispiel wurden mit spitzen Nadeln eingestochen. Wenn kein Blut floss oder nur sehr wenig, wurde das als Beweis ihrer Teufelsbuhlschaft vom Schreiber im Protokoll notiert. Man schätze, dass etwa 1 Million Frauen im 15. bis 18. Jahrhundert als sogenannte Hexen in katholischen und protestantischen Ländern verbrannt worden seien. Torquemada, der berüchtigte Großinquisitor, habe in seiner vierzehnjährigen Amtszeit in Spanien 16 000 Menschen, zumeist Mauren und Juden, als Ketzer verbrennen lassen, weitere 100 000 seien auf die Galeeren gekommen oder lebenslang eingekerkert worden. Von ihm sei überliefert, dass er sich mit Bußübungen penibel auf jeden Ketzerprozess eingestimmt habe: Er geißelte sich selbst, bis das Blut spritzte, aß nie Fleisch, fastete und lebte völlig enthaltsam. Offensichtlich sei er Masochist und Sadist zugleich gewesen. Die beiden Bretonen lauschten bei den ersten Malen ganz aufmerksam, denn was sie da zu hören kriegten, jagte ihnen eine Gänsehaut über den Rücken, zumal ihnen die beschriebenen Geräte aus ihrer sitzenden Position, dicht vor ihren Augen, größer und gefährlicher erschienen als den übrigen Zuhörern, von denen einige schon umhergingen und sich nur das ansahen, was sie gerade - unabhängig vom Redefluss der Führerin - interessierte. Einige derjenigen, deren Erklärung in ihrer Landessprache schon vorüber war, waren schon wieder nach draußen gegangen, um im Sonnenschein des Innenhofs oder auf einer schattigen Bank ein Getränk zu sich zu nehmen oder ein kleines belegtes Baguette zu essen. Am Abend des ersten Tages ging Michèle, die den Nachmittag in ihrem Büro rechts vom Burgeingang verbracht und Handwerkerrechnungen kontrolliert hatte, in die Folterkammer, um sich ihre beiden neuen Angestellten in ihrer "Arbeitsumgebung" anzusehen. Was sie sah, stellte sie sehr zufrieden, denn nun wirkte die Kammer mit den beiden, die da bewegungsunfähig an die Wand gelehnt saßen, noch viel echter als vorher. Als die letzten Besucher draußen waren, unterhielt sie sich mit ihnen und fragte nach deren Wohlbefinden. "Danke, Madame, könnte schlimmer sein", scherzte der eine. Sie fragte höflich nach der Art ihrer Anreise, erfuhr, dass sie mit der "Ente" von Rennes gekommen waren, gab ihnen eine Empfehlung für eine preiswerte Herberge unten im Dorf und erinnerte sie daran, morgen früh um 10 Uhr wieder an der Burg zu sein. Sie werde gleich ihrem Sekretär Bescheid sagen, damit er sie losschließen solle. Damit verabschiedete sie sich und ging hinaus.

 

4. Kapitel

In den nächsten Tagen spielte sich das neue Zweierteam recht leidlich auf seine Arbeitsbedingungen ein, und alle vom Burgpersonal fanden, dass die beiden bretonischen "Gefangenen" eine nützliche Bereicherung der Burg waren. Sie klagten nicht, sie jammerten nicht und ertrugen mit stoischem Gleichmut, obwohl noch jung an Jahren, das Gekicher und Geläster der Jugendlichen unter den Besuchern, während die älteren sich eher Gedanken machten, ob die beiden nicht Hämorrhoiden beim Sitzen auf dem kalten Steinfußboden bekommen würden. Am vierten Tag baten sie von sich aus erfolgreich darum, ob sie je eine kleine, quadratische Bastmatte, die nicht weiter auffiel, unter ihren Hintern schieben dürften, damit es etwas bequemer werde. In der zweiten Woche machten sie den vorsichtigen Vorschlag, sie könnten doch nebenan in dem leeren Gewölbe, wo sie sich immer umzogen, über Nacht schlafen, sofern man nur zwei Betten, zwei Stühle, einen Tisch und eine Campingtoilette hineinstellen würde. Waschen könnten sie sich, wenn die Besucher noch nicht da oder schon wieder weg waren, in der sanitären Anlage, die, darauf hatte Michèle Wert gelegt, großzügig mit WCs und Waschbecken für Personal und Gäste ausgestattet war und von einer eigens angestellten Toilettenfrau sauber gehalten wurde. Natürlich verfolgten sie dabei durchaus eigennützige, aber verständliche Interessen, denn sie wollten, da sie arme Studenten waren, das Geld für die Übernachtungen im Dorfgasthof einsparen. Michèle, die stets langfristig die Dinge bis zu ihrem Ende überdachte, beauftragte, nachdem sie den beiden Studenten aufmerksam zugehört hatte, eine Bau- und Installationsfirma aus Beaune, die den Auftrag bekam, in dem leeren Gewölbe je drei Zellen links und rechts von einem Mittelgang einzumauern und die erforderlichen modernen sanitären Anlagen ebenfalls zu installieren. Jede Zelle sollte eine Dusche, ein Waschbecken und ein WC bekommen, die aber im hinteren Teil jeder Zelle für das Publikum nicht sichtbar hinter einer Sichtwand liegen sollten. Außerdem sollten dort Wandöffungen für das diskrete Warmluftsystem, das seit zehn Jahren in der Burg installiert worden war, um die Feuchtigkeitsschäden zu minimieren, angelegt werden und mit diesem zentralen Warmluftsystem verbunden werden. Es kam ihr nämlich darauf an, die Illusion eines mittelalterlichen Kerkers mit notwendiger moderner Hygiene für ihre Angestellten zu verbinden. Auch hinsichtlich der Zahl der sechs Zellen dachte sie jetzt schon an eine mögliche Erweiterung des Personals in diesem Teil ihrer Burg. Sie schien sich zu dieser Abweichung von der Originalität einer mittelalterlichen Burg umso mehr berechtigt zu sein, als sie natürlich wusste, dass schon die Wiederherstellung des Chateau de Salers im 19. Jahrhundert nicht 100%-ig dem originalen Zustand gefolgt war, sondern dass die Restauration mehr die Vorstellung widerspiegelte, wie man sich im 19. Jahrhundert in romantischer Verklärung das Mittelalter vorgestellt hatte. Vergleichbare Absichten und Wunschvorstellungen, eine verklärte Epoche wieder zum Leben zu erwecken, kennt man, wie der kunsthistorisch etwas bewanderte Leser weiß, auch aus Deutschland und aus Italien. Man möge an die Vollendung des Kölner Doms im 19, Jahrhundert, an die Fresken in der Wartburg aus den Jahren 1853 bis 1855 oder an die Erneuerung des Castel del Monte in Apulien in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts denken. Sie beauftragte also, nachdem sie sich entschieden hatte, Bau- und Handwerksfirmen und drängte zur Eile, so dass schon im nächsten Monat die letzten Putzarbeiten erledigt waren. In der Zwischenzeit hatte sie ihren Sekretär beauftragt, per Annonce nach einer Frau zu suchen, die bereit war, als weibliche Gefangene für angemessenes Honorar in einer mittelalterlichen Burg "mitzuspielen". So kam es, dass am Tag, wo die Umbauten abgeschlossen waren und die Putzkolonne das Schloss verlassen hatte, auch die angeworbene Frau sich in ihrem Büro meldete. Die Frau stammte aus der Provence, genauer gesagt aus Grasse, der Hauptstadt der Düfte, und war alleinerziehende Mutter zweier Kinder, die sie des Jobs wegen, der gut bezahlt werden sollte, bei deren Großmutter zurückgelassen hatte, die auch bereit war, den Schulbesuch der beiden im gerade begonnenen neuen Schuljahr zu beaufsichtigen. Michèle persönlich zeigte la "sorcière", der "Hexe", ihre für sie reservierte Zelle im umgebauten Gewölbe, wo es noch nach Mörtel und Farbe roch. Sie bekam die gleiche Kleidung wie ihre zwei "Leidensgefährten", die sich schon in der Folterkammer befanden. Dann führte Michèle sie dorthin und stellte die beiden Männer und die Frau aus Grasse gegenseitig vor. Zur Einweisung erläuterte sie ihr einige der wichtigsten Dinge, die man über das mittelalterliche Rechtsfindungssystem wissen musste, um darin eine Rolle überzeugend echt zu spielen. So erklärte sie der "Neuen" zum Beispiel die Potro, die eine Folterbank auf zwei schweren Holzblöcken war und am Fußende eine fast mannshohe hölzerne Drehspindel hatte, mit der eine Holzrolle gedreht werden konnte, um die ein Seil gewickelt war. Am Kopfende war eine aufrecht stehende hölzerne Halskrause angeschraubt, die zweigeteilt war und geöffnet werden konnte, um den Hals einzuklemmen, so dass der Kopf fixiert wurde, während die mit dem Seilende zusammengebundenen Füße dergestalt in die entgegengesetzte Richtung gezogen werden konnten, dass der Körper des oder der Beschuldigten so weit gestreckt werden konnte, bis die Gliedmaßen knackten und er/sie Himmel und Hölle anflehten, man möge aufhören und er/sie würde alles zugeben, wie sie mit dem Beelzebub schamlose Unzucht in vielerlei schlimmer und sündhafter Weise getrieben hätten. Der Teufel habe einen Schwanz, der hart wie ein Knochen sei, wimmerten einige, andere jammerten und plapperten alles nach: Ja, ja, des Teufels Schwanz sei vorne anstelle der Vorhaut mit Fischschuppen bedeckt und so weiter und so fort. Der aufmerksame Leser wird erkennen, wie hier die abartigen Phantasien der Kleriker den armen unschuldigen Opfern in jener längst vergangenen Zeit in den Mund gelegt worden sind. Mit diesen und jenen Hinweisen zum mittelalterlichen Hexenwahn bat Michèle die "Neue", sich auf die Potro zu legen. Sie klemmte vorsichtig ihren Hals in der Halskrause ein, fesselte ihre Fußgelenke mit dem Seilende und verknotete es. Dann drehte sie die große Holzspindel vorsichtig so weit, bis das Seil gespannt war, wobei sie beständig fragte, ob sie noch ein kleines bisschen weiter drehen dürfe, bis die junge Frau, die dergleichen noch nie erlebt hatte, sagte, es sei jetzt genug und Madame solle nicht weiter anziehen. Michèle trat hinter die Barriere, sah sich um und fand, dass das gesamte Arrangement täuschend echt aussah: zwei an den Füßen gefesselte Männer, die auf ihr peinliches Verhör zu warten hatten, und eine junge Frau, die als angebliche Hexe oder Ketzerin bewegungsunfähig auf der Potro lag. Fehlten nur noch der bigotte Pfaffe, der lüsterne Gerichtsschreiber und der brutale Folterknecht oder deren zwei! Zufrieden schloss sie die Folterkammer und kehrte in ihr Büro zurück, um dort einen Bettelbrief an den französischen Automobilclub zu schreiben, in dem sie eine nicht geringe und längst überfällige Spende zugunsten des gemeinnützigen Vereins für die Findelkinder anmahnen wollte.

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