Dirk Nowitzki - So weit, so gut

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Dirk Nowitzki - So weit, so gut
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Jürgen Kalwa • Dirk Nowitzki

Für Maria, Walter und Doris


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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© 2019 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

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Umschlagfoto: David Pillow/Dreamstime

Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Druck und Verarbeitung: Medienhaus Plump, Rheinbreitbach

ISBN 978-3-96423-011-9

Vorwort

Wer sich mit einer derart großen Sportnation wie den Vereinigten Staaten beschäftigt, wird ziemlich rasch herausfinden, wie gut die besten Athleten in diesem Land tatsächlich sind. Es handelt sich nicht nur um die begabtesten, einfallsreichsten, reaktionsschnellsten, zielstrebigsten, leistungsstärksten und ehrgeizigsten Repräsentanten ihrer Sportarten. Sie sind Siegertypen, ausgestattet mit einem enormen Selbstbewusstsein. Und verbunden mit einer Ausstrahlung, die etwaige Selbstzweifel einfach übertüncht.

Die Besten demonstrieren, wie riesig das Geschäft mit Sport mittlerweile ist. Sie werden von ihren Clubs hervorragend bezahlt, mit lukrativen Werbeverträgen eingedeckt und führen ein Luxusleben mit riesigen Häusern, teuren Autos und einer Entourage von Freunden, Betreuern und Agenten. Leider entwickeln allzu viele keinen Sinn für Nachhaltigkeit. „Hier im Basketball und Football“, hat der ehemalige NBA-Profi Detlef Schrempf festgestellt, sind „60 bis 70 Prozent aller Spieler innerhalb von drei Jahren nach der Karriere bankrott. Das ist unglaublich. Einige haben über 100 Millionen Dollar gemacht. Ich kann das gar nicht fassen. Aber so leben sie halt.“

Mit anderen Worten: So gut sie sind und so weit sie gekommen sind – eine Unzahl von ihnen kommt und geht und verglüht gleich danach wie Sternschnuppen beim Eintritt in die Erdatmosphäre.

Andersherum gesagt: Nur sehr wenige schaffen es, sich zu überragenden Sympathieträgern und Identifikationsfiguren mit Wiedererkennungswert zu entwickeln. Die meisten kommen nicht so weit. Und sie sind wohl auch nicht wirklich gut.

Für den Weg dahin gibt es keine Landkarte und keine Routenempfehlung via GPS. Und also auch keinerlei Garantie, dass man jemals an diesen Punkt kommt, wenn man im Alter von 20 Jahren bei einem Profi-Team im amerikanischen Mannschaftssport anheuert. Weshalb dieser kurze Moment am 28. Februar 2019 in dem mit mehr als 20.000 Zuschauern ausverkauften Staples Center in Los Angeles auch so bemerkenswert war.

Da ordnete Doc Rivers, der Trainer der Los Angeles Clippers, neun Sekunden vor dem Ende des Spiels gegen die Dallas Mavericks eine Auszeit an und griff sich ein Mikrofon, um aus freien Stücken auf einen Spieler der Gästemannschaft zu sprechen zu kommen, der nicht wusste, wie ihm geschah.

„Dirk Nowitzki“, sagte Doc Rivers und zeigte mit dem Finger auf den Gegenspieler mit der Nummer 41, „einer der Größten aller Zeiten.“

Die Zuschauer brauchten nicht lange, um sich zu erheben und ihn, den besten nicht-amerikanischen Basketballer in der Geschichte dieser uramerikanischen Sportart, mit riesigem Applaus zu feiern.

Nowitzki, bekannt als bescheidener, trainingsfleißiger und vor allem treffsicherer Spieler, der seinen Platz im Rampenlicht des amerikanischen Sports nur zögernd akzeptiert hat, wusste nicht, was er sagen sollte. Außer, dass dieser Moment schlichtweg etwas Besonderes gewesen war: „Das hat mich wirklich berührt“, meinte er. „Es war sehr emotional.“

Hinter der Geste von Rivers („Ich hatte das nicht geplant. Er verdient es einfach“) steckte durchaus ein logischer Aufhänger. Das Match an diesem Abend war Pflichtspiel Nummer 1.500 für Nowitzki, dem man anmerkt, dass ihm mit zunehmendem Alter die Anforderungen der Sportart auf die Knochen gehen. Erst im Sommer davor hatte er sich an seinem linken Knöchel abgestorbenes Gewebe operativ entfernen lassen und war danach wieder so fit geworden, um die Leistungen zu bringen, die man in seiner neuen Rolle – jemand, der von der Bank aus zu einem späten Zeitpunkt ins Spiel kommt – erwarten kann.

Aber mit den Jubiläen ist das im amerikanischen Sport so eine Sache. Denn genau genommen war es Spiel Nummer 1645. Denn was bei solchen Zählweisen gerne unter den Tisch fällt, ist das Datenmaterial aus den Playoffs, die Nowitzki in den 21 Jahren bei den Mavericks insgesamt 15-mal erreicht hat.

Aber solche Kleinigkeiten stören im ansonsten statistikversessenen amerikanischen Sport nur die wenigsten. Das kann man zum Beispiel daran ablesen, dass zwar sehr gerne im Zusammenhang mit den ganz großen Stars über diese Rangliste gesprochen wird, für die man bei Wikipedia sogar einen eigenen Eintrag eingerichtet hat (Überschrift: „Liste der nach Punkten erfolgreichsten NBA-Spieler“). Sie ist selbstverständlich unvollständig. Auch hier fehlen die Playoff-Angaben.

In dem erwähnten Ranking stand Nowitzki an jenem Abend im Staples Center auf Platz sieben hinter anderen Jahrhundert-Basketballern: Kareem Abdul-Jabbar, Karl Malone, Michael Jordan, Kobe Bryant, LeBron James und Wilt Chamberlain. Aber er befand sich in Reichweite von Chamberlain, um bis zum Ende der Saison einen Rang weiter vorzurücken.

Der amerikanische Sport zehrt übrigens von vielen nüchternen Verstrebungen. Sie sind alle jener fundamentalen Logik geschuldet: Sport ist ein Geschäft. und zwar riesiger denn je. So werden Spieler bisweilen ganz unromantisch und gegen ihren Willen an andere Clubs abgegeben oder sogar ganze Teams verpflanzt und notfalls mit einem völlig neuen Namen versehen.

Doch so kalt kalkulierend solche Transaktionen auch sind. Parallel umweht diesem schnöden Geschäft seit ewigen Zeiten eine Aura des Kultischen. Etwas, was sich zum Beispiel in der Verehrung legendärer Ausnahmeerscheinungen widerspiegelt. Man betrachtet die Besten eben nicht nur durch die Brille statistischer Informationen und bewertet sie nicht nur nach der Zahl der errungenen Titel und Auszeichnungen. Man überhöht sie geradezu und lädt die öffentliche Wahrnehmung mit Ehrbezeugungen auf, die eigens für den Sport erfunden wurden. Zum Beispiel die Hall of Fame, in die Spieler einmal im Jahr feierlich aufgenommen und damit in den Rang ewiger Legenden erhoben werden.

Kein Wunder, dass man sich von ihnen auch so intensiv verabschiedet, sobald klar ist, dass sie von der Bühne abtreten.

Dirk Nowitzkis erging es im Frühjahr 2019 mit seinem langsamen Abgang nicht anders. Sei es in Boston, Detroit, Toronto, New York oder Los Angeles. Überall bekamen diese Gastspiele „die Anmutung einer Nowitzki-Gala“ (so Sebastian Moll in der taz). Ganz egal, wie viele (oder wie wenige) Minuten er zum Einsatz kam. Bei den New York Knicks im Madison Square Garden wurde das vermutlich sachverständigste Basketball-Publikum des Landes gegen Ende des Spiels sogar unruhig und brüllte im Chor „We want Dirk“. Warum? Mavericks-Trainer Rick Carlisle hatte seine Nummer 41 bis dahin noch nicht aufs Feld geschickt.

Als Nowitzki endlich auflief, enttäuschte er nicht. Er lieferte einen Dreier, der über alle Gegner hinweg in den Korb segelte, ohne auch nur den Ring zu berühren, und stieg anschließend zielsicher mehrfach zu seinem berühmt gewordenen Sprungwurf auf.

Nowitzki selbst wollte im März – nur wenige Wochen vor dem Ende der regulären Saison – noch nicht verbindlich sagen, ob er denn seine langen Sneaker (Schuhgröße 54) an den Nagel hängt. Er klang eher so, als ob er noch nach einer Hintertür suchte und das Unvermeidliche noch eine Weile hinausschieben wollte. Typisch seine Reaktion auf die Frage eines Fernseh-Reporters, die dieser mit den Worten einleitete: „Es ist so etwas wie eine Abschiedstour…“. Die Reaktion darauf war zwiespältig: „Sieht so aus, als würden sie die Entscheidung für mich treffen“. Tatsächlich hielt er sich in jenen Tagen noch immer alle Optionen offen: „Mal sehen, was der Rest der Saison noch bringt“, so Nowitzki.

Sollte er, inzwischen vergleichsweise „hölzern und steif“ (Sebastian Moll), noch ein Jahr dranhängen, ändert sich allerdings nichts an der Prämisse eines Buches wie diesem. Es zeichnet auch so den entscheidenden Teil der gesamten Karriere von Dirk Nowitzki in den USA nach. Was allenfalls fehlt, wären ein paar letzte Verästelungen. Die Essenz seiner sportlichen Lebensleistung bliebe davon unangetastet.

Und das unter anderem auch deshalb, weil die amerikanische Basketballgemeinde schon seit einer Weile beschlossen hat, Nowitzki als einen ihrer Top-Spieler und Top-Botschafter zu betrachten. Weshalb es an der Zeit ist, eine Gesamtschau zu erstellen, die belegt, wie ihm dies gelingen konnte und welche Serpentinen er – der moderne Sisyphos – auf dem Weg nach ganz oben bis hin zum absoluten Weltstar bewältigen musste.

Ein solches Buch kann man deshalb schon jetzt, im Frühjahr 2019, schreiben. Es ist so weit. Denn diese Geschichte ist wirklich so gut.


© imago

 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: So weit, so vage – die Erinnerung an eine erste Begegnung mit Dirk Nowitzki

1. Kapitel: Ein Trikot für Obama

2. Kapitel: Der Traktor-Faktor

3. Kapitel: Die Milwaukee-Connection

4. Kapitel: Holger – zwei Gespräche mit einem Meister seines Fachs

5. Kapitel: Die Sache mit dem Sisyphos. Das Bild einer Entwicklung – montiert aus den Eindrücken der jeweiligen Zeit

Februar 1999: Das erste Spiel

Dezember 1999: Texas macht bescheiden

Februar 2000: Rodzilla trifft auf den Teutonen-Turm

April 2000: „Ein Held nach Art der Gebrüder Grimm”

Dezember 2001: Der große Blonde mit dem zu kleinen Schuh

Mai 2002: Titelfigur

Mai 2003: Das Knie macht einiges kaputt

Mai 2005: Ohne den besten Freund

Oktober 2005: „Ich glaube, er ist ein Pessimist”

Juni 2006: Spitzname gesucht

Juni 2006: Gegen den alten Freund

Juni 2006: Das Prinzip Hoffnung hilft nicht

Oktober 2006: Eine Art Invasion

April 2007: Wiedersehen mit Nellie

April 2007: Der kleine General

Mai 2007: Wie ein Mann ohne Eigenschaften

Mai 2007: Wie wertvoll ist ein MVP?

Oktober 2007: Er ist der Star, aber die anderen wollen nur tanzen

Februar 2008: Kidd kommt

April 2008: Der Ring-Kampf des Psychologen

November 2008: Da ist Musik drin

Mai 2009: Verliebt in eine Betrügerin

Oktober 2009: Träumen muss erlaubt sein

Oktober 2010: Sehnsucht geht unter die Haut

April 2011: Sinn für Nachhaltigkeit

Juni 2011: Der Wert des eigenen Wegs

Juni 2011: Das Irgendwann ist jetzt

Juni 2011: Der Gute hat gewonnen

Februar 2012: Zahlenspiele

Dezember 2012: Eine Begegnung mit dem Erfinder des Spiels

Oktober 2013: „Glaubst du wirklich, dass ich erledigt bin?“

Oktober 2014: Auf dem Weg zur Legende

April 2015: Die große Mumie

Oktober 2016: Tennis-Nostalgie

März 2017: Kennziffer 30.000

Oktober 2017: Auf der Suche nach einem Logo

Oktober 2018: Das letzte Hurra

6. Kapitel: Weggefährten

Steve Nash: Soziales Bewusstsein (2004)

Mark Cuban (1): „Sag Ihnen, ich bin Milliardär“ (2006)

Mark Cuban (2): Der Ball-Artist (2006)

Chris Kaman: Der beste unbekannte Profi (2008)

Rick Carlisle: Klavierspieler mit Zwischentönen (2011)

Nowitzkis Erben (2013)

LeBron James: Hollywood, here he comes (2018)

Ausgewählte Daten und Bestmarken aus Dirk Nowitzkis Karriere

Anmerkungen

Einleitung

So weit, so vage – die Erinnerung an eine erste Begegnung mit Dirk Nowitzki

Es hat eine Zeit gegeben, da wusste ich nicht, ob irgendwo zwischen den vielen Tonbandkassetten in der Sammlung meines Recherchematerials aus mehr als zwanzig Jahren eine ganz bestimmte Aufnahme schlummert. Ich meinte mich zu erinnern, dass ich im Frühjahr 1999 in einem Lokal in Dallas einen kleinen Recorder dabei gehabt hatte. Aber wo war die Aufnahme abgeblieben?

Im Idealfall baut ein Journalist sein Archiv von Anfang an so auf wie ein Bibliothekar, weil die Fahndung nach den Utensilien aus zurückliegenden Jahren andernfalls rechtschaffen mühsam wird. Zumal der Berg mit jedem neuen Thema ein bisschen weiter anwächst. Aber die umständliche Suche nach einem Gegenstand kann durchaus eine produktive Seite haben. Sie löst Erinnerungen aus und neue Fragestellungen. Einen Zustand, für den es im Englischen das schöne Wort serendipity gibt, das sich leider nur schwer übersetzen lässt: In ihm mischt sich das Prinzip Zufall mit der Lust auf Entdeckungen und Überraschungen zu einem relativ produktiven Lebensgefühl.

Mit anderen Worten: Wer sucht, der findet. Aber nicht unbedingt das, was er sich ausgemalt hatte.

Ich weiß nicht, wer bereits 1999 geahnt hatte, dass eine solche Kassette Jahrzehnte später einen Wert haben würde, der über den eines Souvenirs hinausgeht. Und wer sich damals mit Dirk Nowitzki unterhielt und über jedes übertriebene Wunschdenken hinaus ernsthaft prognostiziert hätte, dass es sich hierbei um eine Ausnahmeerscheinung handelt. Um Jemanden, der nicht nur den Bezugsrahmen des deutschen Sports verändern würde, sondern sogar, im Weltmaßstab betrachtet, die Sportart Basketball. Es muss sich um eine klitzekleine Minderheit gehandelt haben. Um Männer wie die beiden Nelsons zum Beispiel – Vater Don und Sohn Donn –, die als Denker und Lenker der Dallas Mavericks von dem 20-Jährigen derart beeindruckt waren, dass sie ihn in die NBA holten. Und die in Kauf nahmen, sich den Spott von tausenden von Neunmalklugen einzuhandeln.

Mir war ziemlich lange nicht klar, ob diese Kassette womöglich nur in meiner Phantasie existiert und ich mir stattdessen nach guter alter Reporter-Sitte auf einem Block Notizen gemacht hatte. Aber ich konnte auch keinen Block finden (kein Wunder, denn auch davon besitze ich mehr als genug, und auch die wurden noch nie katalogisiert).

Ich fand jedoch beim Grübeln eine Erklärung für meine löchrige Erinnerung an die damalige Unterhaltung. Mein Gesprächspartner war zwar nicht irgendwer, sondern ein Sportler mit einer guten Leistungsprognose, der wenige Wochen zuvor den Sprung in die große weite Welt riskiert hatte. Aber dieser Mensch, der mir da gegenübersaß, beantwortete Fragen zu seiner beruflichen Entscheidung auf eine Weise, die keinen bleibenden Eindruck hinterließ.

Ich vermutete, dass dies kein Zufall war. Seine Art der Selbstdarstellung wirkte so, als sei sein Verhalten der Intention entsprungen: Nicht viel reden. Nicht viel sagen. Und vor allem nicht viel verraten. Sich einkapseln in eine Idee von Privatsphäre, die dem Hunger der Medien nach Informationen deutlich entgegenlief. Eine Haltung, die er Jahre später zur Premiere des Dokumentarfilms Nowitzki – Der perfekte Wurf noch einmal durchblicken ließ. Er hatte beim Dreh bewerkstelligt, dass ihm die Filmemacher „nicht ständig in die Unterhose gekrabbelt“ waren, sagte er dem Stern, weil er „Aufmerksamkeit nicht so mag“ („Halbnackt am Strand von Fans umringt zu werden, ist nicht sein Ding“) und hatte sich hinreichend abschirmen können.

Seine Vorsicht im Jahr 1999 wirkte allerdings vergleichsweise übertrieben. Denn was war an dem Privatleben des jungen Profi-Basketballers aus Würzburg in jenen Tagen wirklich außergewöhnlich und yellow-press-mäßig interessant?

Er hatte einen auffälligen Haarschnitt, einen Ohrring und eine Freundin, die in Deutschland geblieben war und über die er nicht gerne sprach. Später las man, dass sie eine Basketballerin war, die bei seinem Heimatverein DJK Würzburg spielte. Zusammen mit seiner Schwester Silke.

Ich konnte nicht abschätzen, ob Dirk Nowitzki diesen Impuls schon immer gehabt hatte oder ob er eine extrovertierte Seite besaß, die er gegenüber Journalisten einfach abschaltete. Ich vermute heute das Erstere – angesichts seines bestens dokumentierten fehlenden Interesses an Werbeverträgen und an öffentlichen Auftritten jedweder Art. Extrovertiert? Nein, dieses Wort fällt einem beim Blick auf die Karriere dieses Mannes nicht ein.

Was er damals auf jeden Fall war, dieser Dirk Werner Nowitzki: ein baumlanger Typ, dank eines erstes Vertrages in der besten Basketballliga der Welt bereits ziemlich wohlhabend, aber fern der Heimat eher unsicher. Sich trotz aller Sprachkenntnisse und eines guten basketballerischen Fundaments in dieser anderen Welt überhaupt zurechtzufinden, war eine ganz beachtliche Herausforderung. Dirk Nowitzki hatte damals in seiner ersten Saison in Dallas einfach beim besten Willen noch keinen Grund unter den Füßen.

Er war hingeflogen. Er war da. Er versuchte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Er ging seinem Beruf nach. Er trainierte viel. Gab Interviews. Aber es fehlte etwas: das Urvertrauen in sich und seine neue Umgebung.

Mir fiel ein, dass unser Gespräch an einem spielfreien Tag mitten in der Woche stattfand und wir uns vorher in der Trainingshalle ein paar Kilometer vom Zentrum und meinem Hotel entfernt getroffen hatten. Dass er anschließend diese Kneipe ausgewählt hatte, weil ihm dort die Hamburger schmeckten und ich hinter ihm und seiner nach nichts aussehenden amerikanischen Limousine der Marke Oldsmobile hinterherfuhr, in die er sich mit seinen langen Extremitäten hineinfalten musste. Es lag ihm nicht, sich trotz seiner finanziellen Möglichkeiten ein größeres Fortbewegungsmittel zuzulegen. Und er rechtfertigte dies ausdrücklich mit seiner Genügsamkeit in solchen Dingen, die ihm in Amerika, wo alles größer war, nicht abhandengekommen war.

 

Der Rookie tat sich schwer. Wie wurde seine vier Jahre ältere Schwester, später die Managerin seiner Stiftung und einer Reihe seiner Privatangelegenheiten, damals zitiert? „Ihm ist vieles peinlich.“

Wer das eine oder andere herausfiltern wollte, war auf kleine Brocken angewiesen. Mike Wise etwa berichtete in der New York Times 2001 („Die Amerikanisierung von Dirk Nowitzki“) von folgender Episode: „Auf einer seiner ersten Reisen mit den Dallas Mavericks 1998 musste der junge, scheue Deutsche Dirk Nowitzki jemanden bitten, ihm zu erklären, was der Begriff shoot-around bedeutet, die tägliche Vorbereitung aller NBA-Mannschaften auf ein Spiel am Tag der Begegnung. ‚Shoot-around ist so etwas wie rehearsal‘, sagte ihm Mannschaftskollege Gary Trent. Der Neuling nickte wissend, ehe er Trent mit verwirrtem Blick anschaute. ‚Was ist rehearsal?‘“

Hätte er damals nicht die Freundschaft zu einem kanadischen Mitspieler gefunden, den er bei einem Pressetermin im Juni 1998 zum ersten Mal gesehen hatte, ein Außenseiter so wie er, ein Typ mit einem ebenso komischen Haarschnitt und ein Spieler, der anfänglich von den Fans der Mannschaft wegen seiner schwachen Leistungen ausgebuht wurde – wer weiß, was aus Nowitzki sportlich geworden wäre.

Heute ist klar: Wir müssen uns nicht in irgendwelche Was-wäre- wenn-Geschichten flüchten. Steve Nash sei Dank. „Wir sind von Anfang an gut miteinander ausgekommen“, erzählte der Rookie Juliet Macur von der Dallas Morning News, als die Anpassungsschwierigkeiten der Anfangszeit überwunden waren. „Ohne ihn hätte ich mich hier wirklich einsam gefühlt.“

Steve Nash ist vier Jahre älter als Nowitzki und hatte bei den Phoenix Suns bereits ein wenig NBA-Luft geschnuppert. Die beiden verbrachten in der ersten gemeinsamen Phase viel Zeit miteinander, gingen abends in eine Kneipe in die Nähe seiner Wohnung, wo sie unerkannt Hamburger und Bier bestellen konnten.

Es war die Zeit des Ausprobierens. Sie spielten zusammen Gitarre und entdeckten irgendwann einen gemeinsamen Sinn für Spaß und Clownereien, der etwas schräger war, als das sonst im Milieu der NBA vorkommt. „Das war fast so, wie man das aus dem College kennt“, erzählte Nash später, nachdem seine Zeit bei den Dallas Mavericks überraschenderweise zu einem abrupten Ende gekommen war und er als Spielmacher der Phoenix Suns zweimal hintereinander den Ehrentitel „wertvollster Spieler der Saison“ gewonnen hatte. Auch er war ein Ausnahmetalent, das erst später seine magischen Fähigkeiten entfalten würde.

Ich habe mich im Laufe der Zeit mit vielen Sportlern in den USA ausgiebig unterhalten. Einige hinterließen nachhaltigen Eindruck. An die Momente mit Charles Barkley in der Umkleidekabine der Phoenix Suns erinnere ich mich vor allem deshalb, weil er mit einer pausbäckigen Lust laut kontroverse Sprüche von sich gab und jeden Fragesteller aus der Reserve lockte und provozierte. Bei einer langen Unterhaltung mit Detlef Schrempf lag dieser während unseres Gesprächs in einem Fitnessstudio in Indianapolis auf einem Massagetisch und ließ sich behandeln, aber wirkte bisweilen so, als wäre er am liebsten einfach gegangen. Unvergessen, wie Carl Lewis redete – schnell und ohne Punkt und Komma. Wie Michael Phelps auf seinem Stuhl herumrutschte und ins Nichts schaute. Wie man Christian Welp regelrecht belagern musste, damit wir uns in Seattle trafen. Jackie Joyner-Kersee war smooth und bestens präpariert. Der ehemalige Radprofi Tyler Hamilton, der als wichtiger Zeuge Lance Armstrong zu Fall brachte, war offen und zugänglich. Anders wiederum John Carlos, der 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexico City auf dem Podest während der Siegerehrung die Faust im Handschuh in den nächtlichen Himmel gereckt hatte und dafür von seinem Verband bestraft worden war. Der wirkte all die Jahre später einerseits erstaunlich kapriziös, aber skeptisch und voller Vorbehalte zugleich.

Aus so etwas besteht der Reporter-Alltag. Man trifft sich. Man stellt Fragen. Man sammelt Erinnerungen und destilliert sie im Kopf zu einem Gemisch der Deutungen.

Es gibt Athleten, die mögen es in solchen Situation, von ihren Interviewern in Unterhaltungen in die Schlaufen ihrer Gehirnzellenketten hineingedrängt zu werden, weil sie ebenfalls Fans von serendipity sind. Weil sie diesen Teil ihres Athletendaseins nie abgeschaltet haben. Weil sie wie mit Hilfe einer Logarithmen-Tabelle die fehlenden Werte ermitteln wollen, die man braucht, um das Dreieck des eigenen Sportlerlebens zu verorten.

Ich war mir damals nicht sicher. Heute weiß ich es: Zu denen gehörte der Absolvent des Röntgen-Gymnasiums in Würzburg nicht.

Ich war deshalb froh, auf derselben Reise ein paar wohlmeinende Menschen kennenzulernen, die einem helfen konnten, das ziemlich weiße, leere Blatt zu füllen, das dieser Dirk Nowitzki einem in seinem ersten Profijahr entgegenhielt. Darunter: der damalige Trainer der deutschen Basketballnationalmannschaft Henrik Dettmann und Jörg Nowitzki, die beide zur selben Zeit ebenfalls in der Stadt waren. Der Vater, um seinem Sohn in dessen Junggesellen-Apartment in Oak Lawn mit ein paar Handreichungen zu helfen.

Auch Marc Stein, damals der Beat-Reporter der Dallas Morning News, heute, nach einer längeren Zeit bei ESPN, bei der New York Times unter Vertrag, wusste ein paar Dinge.

Ich hätte damals auch gerne mit Holger Geschwindner, seinem Förderer und Manager gesprochen, aber der hatte zu jener Zeit Masern und war in Deutschland geblieben. Wir konnten das allerdings Jahre später nachholen.

Gegenüber Stein fremdelte Dirk Nowitzki irgendwann nicht mehr so wie gegenüber anderen. Und so deutete er ihm gegenüber schon bald offener seine Stimmung an und wie er in der Arbeit mit Geschwindner, dem Tüftler und persönlichen Trainer nach einem Weg suchte: „Ich habe ein bisschen den Spaß verloren. Wir verbringen unsere Zeit damit zu reden, wir arbeiten an meinem Wurf und versuchen, ein wenig Spaß zu haben. Ich muss den Rhythmus zurückbekommen, muss ein bisschen Vertrauen in meinen Wurf zurückgewin- nen.“

Ich hatte vorher bereits mehrere Jahre lang die NBA verfolgt und dabei die Entwicklung von Detlef Schrempf begleitet, einem anderen Deutschen, an dem man den jungen Nowitzki irgendwie messen wollte, obwohl die Ausgangslage eine völlig andere war. Schrempf hatte 1985 in der NBA debütiert, nachdem er – im Unterschied zu Nowitzki – in den USA am College wichtige Basketball-Erfahrung gesammelt hatte. Auch er war von den Dallas Mavericks gedraftet worden (als Achter seines Jahrgangs).

Nowitzkis Profikarriere hatte von Anfang an einen anderen Zuschnitt. Nicht nur in Dallas, sondern auch im Deutschland des Jahres 1999, in dem sich die Ansicht breitgemacht hatte, dass sein Wechsel in die NBA nur eines heißen konnte: Dieses Talent werde nun einfach zwangsläufig im Mutterland der Sportart für Aufsehen sorgen. Auch wenn alle Erkenntnisse aus der Anfangsphase eher das Gegenteil signalisierten.

Es gab allerdings Ähnlichkeiten. Auch Schrempf war ein Typ, dessen sportliche und menschliche Qualitäten sich hinter einer Hülle verbargen. „Ich kann zwar hinausgehen und ganz entspannt sein. Aber ich spiele einfach besser, wenn ich aggressiv bin“, verriet er mir bei einem unserer Interviews. So kam er nicht wie ein strahlender Sieger herüber, sondern wie ein fleißiger Arbeiter, der nicht viel Brimborium um seine Leistungen machte. Aber er war 1999 längst über seinen Zenit hinaus, nachdem er 1996 die eine große Chance seiner Karriere auf den Meisterschaftstitel nicht nutzen konnte, als er mit den Seattle SuperSonics gegen die Chicago Bulls in der Finalserie verlor.

Er war ein Basketballer auf dem Weg zum Aggregatzustand der Marginalie. Auf dem Weg zum Exoten in den Köpfen von Leuten, die Pop-Kultur für Komödien wie die Fernsehsendung „Parks and Recreation“ ausschlachten. Von Leuten, die suppige Balladen schreiben, wie die aus Seattle stammende Rockgruppe Band of Horses, die auf ihrem Album Cease to Begin 2007 den Song mit dem Titel Detlef Schrempf veröffentlichte.

Von solchen Aspekten des amerikanischen Alltags wusste man in Deutschland nur wenig, obwohl die vorherrschende Maßlosigkeit im Urteil über die Verhältnisse im Sport in den Vereinigten Staaten im allgemeinen und das Milliardenunternehmen NBA im Besonderen, Stand Frühjahr 1999, ganz beachtlich war.

Weshalb allein das damals sicher eine eigene Geschichte wert gewesen wäre. Aber wegen einer derartigen Analyse hatte mich mein Auftraggeber, das Hamburger Wochenmagazin Stern, nicht losgeschickt. Zu den vielen Grundsätzen unseres Milieus, mit denen der Wert und Unwert von Themen ausgelotet werden, gehört nämlich unter anderem dieser: Seifenblasen zersticht man nicht. Die lässt man in Ruhe. Die ignoriert man. Die platzen bekanntlich irgendwann von alleine.

Eine Geschichte, die man über vier oder fünf Seiten aufreißen und von einem eigens angeheuerten Fotografen bebildern konnte, funktionierte im Rahmen der üblichen Medienlogik deshalb eigentlich nur mit einer Prämisse: Junges, deutsches Riesentalent holt in der besten Basketballliga der Welt Gurkentruppe aus dem Tabellenkeller.

Es war ein Märchen, aber es sollte sich möglichst so wohlig anfühlen wie die Schurken-Soap Dallas in den achtziger Jahren, in der alles so simpel wirkte: die Gier, der Geiz, der Neid.

Also was tun? Wie serviert man in dieser Situation, in der der Basketballclub in Dallas wegen seiner langjährigen chronischen Leistungsschwäche als das schlechteste Basketball-Team der neunziger Jahre in der Popularität weit hinter dem Football-Club Dallas Cowboys und dem Eishockey-Team Dallas Stars rangiert, einem 20-jährigen Liga-Neuling aus dem Ausland die Frage, die so simpel und so surreal zugleich ist: Wie läuft’s, Dirk Nowitzki? Sind Sie auf dem Sprung zum Super-Star? Sind Sie der Retter der Mavericks?

Angesichts der Erwartungshaltung in Deutschland und der dicken Seifenblasen sah ich damals davon ab, über vieles zu schreiben, was ich höchst interessant fand. Zum Beispiel nichts über den ein Jahr vorher als Wunderheiler angeheuerten Chefmanager und Trainer Don Nelson, der damals in Dallas unter enormem Druck stand, weil er niemandem genauer erklären konnte, wieso er angesichts ziemlich schlechter Resultate so fest und visionär an diese zwei Spieler Steve Nash und Dirk Nowitzki glaubte.

Dabei war dieser Don Nelson die ausschlaggebende Person, die mit ihren Entscheidungen nicht zum ersten Mal in ihrer Trainer-Laufbahn zielbewusst gegen herkömmliches konventionelles Denken verstieß. Ein Magier, den man damals ziemlich rasch zu einem der großen Verlierer des Draft-Abends von Vancouver abgestempelt hatte, bei dem er Nowitzki und Nash nach Dallas geholt hatte. Das Fachpublikum hätte sich lieber für jemanden wie Paul Pierce entschieden, der an der Universität Kansas drei Jahre lang gezeigt hatte, was in ihm steckt.

Besonders das Tauschgeschäft an diesem Abend mit den Milwaukee Bucks – Robert Traylor gegen gleich zwei Spieler im Paket, gegen Dirk Nowitzki und den Amerikaner Pat Garrity – wurde dem Mavericks-General-Manager und Trainer anschließend immer wieder zum Vorwurf gemacht. Vor allem von Leuten, die den Grund für das Manöver gar nicht kannten. Und die sich von dem Eindruck blenden ließen, den der muskulöse Flügelspieler Traylor 1995 produziert hatte, als er noch in der Highschool war und neben Spielern wie Vince Carter, Kevin Garnett, Paul Pierce, Chauncey Billups und Stephon Marbury zu einem Hoffnungsträger hochstilisiert wurde.