Harzmagie

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Jürgen H. Moch


Eine Fantasyhommage an Deutschlands

mystisches und uraltes Mittelgebirge

Impressum

Harzmagie

Blutsbande

ISBN 978-3-96901-009-9

ePub Edition

V1.0 (09/2021)

© 2021 by Jürgen H. Moch

Abbildungsnachweise:

Umschlag © Linda Meyer | linda.chiara@outlook.de

Porträt des Autors © Tim Blankenburg | www.baumloewe.de

Schriftart ›Badhorse‹ © Angga Mahardika | myfonts.com

Redaktion:

KLEX@EPV

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzmagie.de | harzkrimis.de

E-Mail: mail@harzkrimis.de


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Ein paar Worte vorweg

Prolog

Sommerferien

Der Bastelkeller

Belauscht

Handschuhe

Vor der Haustür

Ans Ende der Welt

Waldpilzomelett à la Binsenkraut

Eine merkwürdige Nacht

Das Ende der Welt

Ein anderes Mädchen

Zutaten

In die Neue Mühle

Kaiserstadt

Es gärt gewaltig

Überdosis

Nachgeschmack

Hexenjagd

Schulanfang

Negersprung im Nebel

Laufen für Fortgeschrittene

Drei Mütter und Kakao mit Schuss

Nach dem Laufen ist vor dem Laufen

Inselzuflucht

Rund um die Okertalsperre

Tränkebrauer

Spieglein, Spieglein an der Wand

Der Testlauf – Sabrina

Der Testlauf – Elisabeth

Ein schreckliches Ereignis

Ein unvorstellbares Geständnis

Nachtschwärmer

Wiedersehen unter Läufern

Mitternachtsbund

Machtloser Rat

Spiegelfragen

Englischtest und die Sache danach

Eine alte Bekannte

Nekromantie für Einsteiger

Kopierzeit

Wolfsdinge

Zaubererfolg

Beherrschung

Die freie Alpha

Pferdeschlachter bei Nacht

Ein peinlicher Moment

Tee der verborgenen Erkenntnis

Der erste Vollmond

Lehrlingsprüfung

Hochsitz

Der Tag nach der Nacht

Viel zu berichten

Hoher Besuch

Im Krankenhaus

Post

Halloweenparty

Grabgeflüster

Ein dufter Schulausflug

Kristalle

Zurück im Harz

Heimfahrt

Ein kühner Handel

Eine Schule voller Spannung

Anno Tobak

Aus einem anderen Blickwinkel

Kru'az'aa Ghat

Asyl

Spurensuche und Befragungen

Schwarze Magie – Spuren der Vergangenheit

Tigerauge

Entführt

Ragnar

Verhört

Magische Suche

Reanimation

Eine fiese Erpressung

Verlorene Retter

Vermisste Freunde

Verzweifelte Mütter

Der Bergmönch

Magieraub

Dreirudelfest

B 241 nach Osterode

 

Der Kampf

Die Schlacht

Der Kampf nach dem Kampf

Rettung der Verlorenen

Der Morgen danach

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Eine kleine Bitte

Ein paar Worte vorweg


Auch wenn ich in Neustadt am Rübenberge geboren wurde, in Großenkneten aufgewachsen bin und jetzt in Bayern lebe, so hat mich der Harz mein ganzes Leben nie losgelassen. Mütterlicherseits stamme ich von dort, weswegen ich schon in jungen Jahren immer wieder mit meinen Eltern in diese Berge gefahren bin.

So war es nicht verwunderlich, dass es mich zum Studium mit aller Macht nach Clausthal-Zellerfeld zog, wo ich die Liebe meines Lebens gefunden und geheiratet habe. Hier erblickte mein erster Sohn das Licht der Welt. Die besten Freundschaften wurden geknüpft und halten, egal wie weit man inzwischen voneinander entfernt ist. Jedes Jahr zieht es meine ganze Familie, meine Frau, meine inzwischen drei Kinder und mich immer wieder in den Harz. Es ist unsere magische Heimat mitten in Deutschland, wo wir uns aufladen können.

Die Geschichten waren schon immer da in meinem Kopf. Fantasy ist – genauso wie der Harz – meine große Leidenschaft. Was lag da näher, als beides zu verbinden, zumal der Harz seit jeher ein hochmagischer Ort ist.

So entstanden mit einem dicken Augenzwinkern in verschiedene Richtungen Elisabeth Wollner, die abenteuerliche Geschichte ihrer Herkunft und ihre schrägen Freunde Theobald und Sabrina. Harzmagie war geboren.

Die Protagonisten in meinem Buch sind – ebenso wie die Handlung – frei erfunden. Die Orte sind zum großen Teil authentisch, auch wenn sie manchmal ein wenig glattgefeilt werden mussten. Die Handlungen der Personen an den Orten entstammen der Geschichte, doch sind hier und da Aspekte und Originale eingewoben, die wie eine Institution zum Oberharz gehören und nicht wegzudenken sind. Ich nenne hier nur stellvertretend die Bäckerei Biel oder die Grosse‘sche Buchhandlung, die es wirklich gibt. Erst diese Orte und natürlich das Wetter geben der Geschichte ihren besonderen Charme.

Aber nun wünsche ich viel Spaß!

Jürgen H. Moch

Prolog


Hartwig Hauser genoss Italien. Er liebte vor allem das alte Rom. Die ganze Stadt enthielt so viel Geschichte, aber für die modernen Bauten hatte er hingegen nur Verachtung übrig. Rom half endlich, Jennifer zu vergessen, die ihn vor gut sechs Monaten hochkant rausgeworfen hatte. Nur noch manchmal wanderten seine Gedanken zurück zu ihr und dem kleinen, bescheidenen Haus am Waldrand, in dem sie lebte. Lange hatte er geglaubt, bei ihr endlich wirklich Ruhe zu finden. Es hatten sich sogar zaghafte gemeinsame Pläne angebahnt, doch dann hatte sie sich von einem Tag auf den anderen völlig verändert, hatte geklammert, ihm Vorschriften gemacht, ihn bedrängt, keinen Raum mehr gelassen. Wochenlang ging das so. Schließlich war er eines Tages völlig durchgedreht und hatte sie sogar geschlagen. Etwas, was er gerne ungeschehen gemacht hätte, aber es dann doch nicht konnte. Das lag hinter ihm, obwohl es immer noch schmerzte, ebenso wie die traumatische Zeit davor in Sarajevo und seine schwere Verletzung. Dinge, die er vergessen wollte, indem er sich auf die alte Geschichte Roms stürzte.

Gestern hatte er sich die Thermen vorgenommen, vor allem die Caracalla-Thermen, doch sein heutiges Ziel lag außerhalb. Diesen Vormittag quälte er sich mit seinem in die Jahre gekommenen Jeep durch den Straßenverkehr auf dem Weg nach Ostia, dem alten Hafen Roms. Dauernd überholten ihn dabei Motorroller, die sich an so gut wie keine Verkehrsregel hielten. Wie zu seiner persönlichen Bestätigung musste er auch gleich einen hässlichen Unfall mitansehen, als ein Laster, der seine Ampel noch bei Gelb genommen hatte, prompt ein ganzes Rudel dieser lebensmüden Trottel über den Haufen fuhr, weil die schon vor der eigenen Grünphase losgerast waren. Die Kreuzung wurde daraufhin von den Carabinieri gesperrt. Wenden konnte er nicht, da sich der Stau hinter ihm partout nicht auflöste. Also machte er das, was viele andere auch taten, zog rechts ran und stieg aus. Hauser hatte keine Lust darauf, die Verletzten anzugaffen. Davon hatte er in seiner Zeit als Verbindungsoffizier in Sarajevo genug gesehen. Während die meisten sich nach vorne drängten, um neugierig zu beobachten, wie die Sanitäter verzweifelt versuchten, die Rollerfahrer zu retten, ging er zu einem kleinen Café an der Ecke, wo er sich einen Espresso bestellte. Es handelte sich um eines dieser kleinen Straßencafés, die es an den Ausfallstraßen Roms zuhauf gab. Jenseits der Stadtmauer verirrten sich weniger Touristen, daher waren hier die Preise nicht so hoch, und er hatte keine Eile. Seit er nach seiner schweren Verwundung früh aus der Armee ausgeschieden war, musste er nicht mehr unbedingt rechtzeitig irgendwo ankommen. Er hatte sich noch nicht entschieden, was er jetzt beruflich machen wollte. Wegen seiner fürstlichen Abfindung musste er sich aktuell keine Sorgen machen.

Die Bedienung fragte ihn in stockendem Italienisch, ob er sonst noch etwas wünsche. Ein kurzer Blick genügte, um sie einzuschätzen. Osteuropäerin, vermutlich Polin. So kam er ihr entgegen und sagte in fließendem Polnisch, dass sie ihm die Mittagskarte bringen solle. Ein Fehler, wie sich sofort zeigte.

Sie blieb stehen. Ihr hübsches Gesicht hellte sich merklich auf und sie plapperte auf Polnisch los, erzählte von ihrem Auslandsjahr hier, dass sie aus Lodz sei, fragte ihn, woher er denn komme und wie es ihm hier gefiele. Hartwig fühlte sich schon nach kurzer Zeit genervt.

»Sehe ich so aus, als wenn ich jedem von zu Hause weggelaufenen Mädel meine Vergangenheit ausschütte?«, fuhr er sie weiter auf Polnisch an. »Sieh zu, dass du endlich dein Geld verdienst!«

Aufgerissene Augen starrten ihn an, die erkennen ließen, dass er einen Nerv getroffen hatte, dann rauschte sie davon. Als sie schließlich nach schier endloser Zeit zurückkehrte, knallte sie ihm wortlos die Speisekarte auf den Tisch und verschwand gleich darauf wieder. Hartwig war das nur recht. Er hatte lieber seine Ruhe.

So blieb er länger und bestellte bei ihrem Kollegen etwas zu essen. Als er schließlich aufbrach, war es schon Nachmittag. Er kam so spät in Ostia an, dass er gerade noch in die Ruinen der ehemaligen Hafenstadt eingelassen wurde. Der Kassierer ermahnte ihn, sich zu beeilen, da man bald schließe. Immerhin berechnete er ihm nur den halben Preis, was Hartwig fair fand.

Die Ruinen waren herrlich, deutlich besser erhalten als die in Pompeji und vor allem nicht so überlaufen. Er holte seine Spiegelreflexkamera heraus, begann zu fotografieren und vergaß die Zeit. Die Dämmerung war schon längst hereingebrochen, als er zum Eingang zurückwollte, doch dieser war bereits verlassen. Man hatte ihn scheinbar eingesperrt.

Getrieben von plötzlicher Abenteuerlust drehte er sich kurzerhand wieder um und ging zurück zu den Ruinen. Es schien eine laue Nacht zu werden und sicherlich würde sich ein Plätzchen finden, wo man schlafen konnte. Das Lied der Zikaden begleitete ihn zu einer Parkbank für Touristen, auf der er sich mehr schlecht als recht ausstreckte. Das Gezirpe wiegte ihn in einen unruhigen Schlaf.

Er wusste nicht, wie spät es war, als er erwachte. Etwas hatte ihn geweckt. Schlaftrunken rätselte er zunächst, was es gewesen sein könnte. Als er sich aufsetzte, meldete sich sein Bein und jagte ihm heftige Schmerzen bis ins Rückenmark. Das kam von dem Granatsplitter, den die Ärzte nicht mehr herausbekommen hatten, weil er sich tief in den Knochen gebohrt hatte. Keuchend hielt er inne und wartete, bis der Schmerz nachließ.

Der Mond stand voll am Himmel und erleuchtete die Umgebung mit mattem Silberlicht. Er wirkte in dieser Nacht ungewöhnlich groß. Die Gebäude warfen Schatten, in denen man nichts mehr erkennen konnte.

Hartwig lauschte und dabei fiel ihm auf, dass es nicht ein Geräusch war, das ihn geweckt hatte, sondern vielmehr der Mangel an Geräuschen. Die Zikaden hatten ihr Dauergezirpe in der Nähe eingestellt. Den Verkehr konnte man kaum noch hören, sodass die Stille fast greifbar wurde. Der ehemalige Soldat in ihm kam durch. Er spannte sich an.

Kurz darauf hörte er ein langgezogenes Heulen. Es erklang ganz nah, irgendwo auf der anderen Seite des Thermengebäudes. Ein großer Hund, überlegte er, könnte es sein. Streunende Hunde gab es in Italien nicht gerade selten. Vielleicht konnte er ein Foto schießen.

Er rappelte sich hoch und stieg auf einen Aussichtspunkt, bedacht darauf, keinen Laut von sich zu geben. Und tatsächlich, auf der anderen Seite etwas abseits, saß ein Tier im Gras und heulte den Mond an. Es war jedoch kein Hund, sondern ein Wolf. Er konnte ihn im hellen Mondlicht gut erkennen. Ein Wolf? Hier?

Nachdem er den Wind geprüft hatte und sicher war, dass das Tier ihn nicht wittern konnte, machte er lautlos seine Kamera bereit. Plötzlich zuckte er zusammen, denn jetzt antwortete ein anderer Wolf. Wie viele waren hier? Niemand konnte Hartwig einen Feigling nennen, aber mit einem Rudel Wölfe eingesperrt zu sein, behagte ihm dennoch nicht, zumal er keine Waffe hatte. Er versuchte, kaum zu atmen.

Der Wolf auf der Wiese sprang auf. Er schien nervös, denn er tapste hin und her, unschlüssig, was er tun sollte. Der zweite Wolf erschien nur einen Moment später. Hartwig schluckte heftig, denn er war riesig. Er musste um die Hälfte größer sein, schätzte Hartwig und hob die Kamera. Er stellte auf Nachtmodus um und begann eine Videoaufzeichnung. Gebannt verfolgte er, was sich nun tat, denn der kleinere Wolf, vermutlich ein Weibchen, schien in Panik zu geraten und wollte weglaufen. Doch der große Wolf schnitt ihr ständig den Weg ab, er war viel schneller als sie. Immer wieder versuchte er, an ihr zu schnuppern. Schließlich knurrte die in die Enge getriebene Wölfin den großen Wolf an, doch dieser ignorierte das und bedrängte sie weiter. Als er Anstalten machte, hinter sie zu kommen, sprang sie vorbei und jagte mit schnellen Sätzen von ihm weg. Er holte sie nach einem kurzen Sprint schier mühelos ein und schnappte nach ihrem Hinterlauf, sodass sie zu Fall kam. Dann lief er ein Stück weg, beobachtete sie. Sie kam wieder auf die Beine, zögerte aber unschlüssig. Er gab eine Art Kläffen von sich. Dann, von einem Moment auf den anderen, rannte sie ihm nach und biss in seine Rute. Das Spiel ging eine ganze Weile hin und her. Die beiden Tiere schienen die ganze Umgebung um sich herum vergessen zu haben und jagten sich im Mondlicht über die Wiese. Plötzlich sprang der Rüde von hinten auf sie. Seine Masse drückte die Wölfin zu Boden. Sie wehrte sich halbherzig und biss ihm in den Vorderlauf, doch bald schien sie sich ihrem Schicksal zu ergeben. Hartwig erstarrte, als er zu sehen glaubte, dass der Wolf sie mit beiden Pfoten gepackt hatte. Wie stellte er das an? Mit Pfoten konnte man doch nicht greifen. Aufgeregt vergewisserte er sich immer wieder, dass er diese Szene im Kasten hatte. Ein äußerst ungewöhnliches Schauspiel mitten in den Ruinen. Vielleicht konnte er ja seine Aufnahme für gutes Geld verkaufen.

Der Akt dauerte lange und gipfelte in einem Jaulen. Der große Wolf stieg ab, umrundete seine Partnerin. Er leckte die Nase der jungen Wölfin, die aber zunächst nicht auf ihn reagierte. Schließlich trottete er in die Büsche davon, aus denen er gekommen war, nicht ohne noch einmal sein Revier zu markieren.

Die Wölfin sprang im selben Moment auf, als er von der Lichtung verschwand, blickte ihm noch eine Weile nach, dann heulte sie ein letztes Mal und lief in die andere Richtung davon. Hartwig schlief in dieser Nacht nicht mehr. Er war viel zu aufgeregt, die Wölfe könnten ihn doch noch entdecken. Zu Hause, so nahm er sich vor, würde er den Film nochmal ganz genau ansehen und dann an den Meistbietenden verkaufen.

 

Sommerferien


Hannover. Die U3 der Üstra1 fuhr ruckelnd wieder an. Wegen Gleisbettarbeiten, die schon seit dem Frühjahr andauerten, fuhr die U-Bahn nur im Schneckentempo. Elisabeth strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, und blickte zur Anzeigetafel. Noch vier Stationen bis Spannhagengarten. Dort stieg sie für gewöhnlich aus.

Weniger Schüler als sonst üblich lümmelten sich auf den Sitzen und in den Gängen. Man hatte richtig Platz, weil viele Kinder bereits direkt am Schulgebäude von ihren Eltern mit dem Auto abgeholt worden waren. Endlich Sommerferien! Man winkte und rief, einige fielen sich in die Arme. Elisabeth empfand dieses Getue inzwischen nur noch als peinlich, immerhin ging sie in die neunte Klasse. Vor allem die jüngeren Schüler, die von den Größeren nur verächtlich Zwerge genannt wurden, wedelten aufgeregt mit ihren Zeugnissen. Sogar einige Großeltern hatten vor der Schule gestanden.

Elisabeth schnaubte abfällig und rückte die Kopfhörer ihres Handys zurecht. Sie hatte keine Musik an, so etwas mochte sie gar nicht, aber so sprach sie in der Regel keiner an oder wunderte sich, wenn sie nicht reagierte.

Großeltern! Sie hatte keine Großeltern – zumindest keine, die sie kennengelernt hatte. Während sie darüber nachdachte, verfinsterte sich ihre Miene. Für sie erschien es normal, ohne diesen Teil einer Familie auszukommen. Zurückgeblieben war eine Mischung aus Trauer, Resignation und Gleichgültigkeit. Vielleicht auch etwas Neid, aber das wollte sie sich nicht eingestehen. Die Eltern ihrer Mutter waren angeblich früh verstorben, so hatte man es ihr erzählt. Die ihres Vaters waren schon vor Jahren kurz nach ihrer Geburt nach Australien ausgewandert, um sich selbst zu verwirklichen. So war der Kontakt zu ihnen komplett abgebrochen. Ihr Vater hatte versucht, ihr zu erklären, dass die dortige Kommune Telefone ablehnte und keine Post verschickte. Elisabeth hatte ihm das nicht wirklich geglaubt, aber so musste sie sich heute nicht die enttäuschten Gesichter anschauen.

Sicherlich, sie war in die zehnte Klasse versetzt worden, wenn auch nur knapp. Eine einsame Eins in Sport, aber sonst nur wenige Dreier, einige äußerst gnadenreiche Vierer und eine dicke Fünf in Mathe – ausgerechnet Mathe. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr.

Sie würde ihrem Vater gegenübertreten müssen, Dr. math. Michael Wollner, Mitarbeiter und rechte Hand des Professors für Mathematik an der Hochschule zu Hannover. Er würde sicher sehr enttäuscht sein, da er doch alles versucht hatte, ihr das Fach näher zu bringen. All die verzweifelten Bemühungen und die vielen Nachhilfestunden waren erfolglos geblieben, denn sobald sie alleine vor einer Rechenaufgabe saß, wurde ihr Gehirn still und leer. Sie würde auch den Brief vorzeigen müssen, weil sie dabei erwischt worden war, als sie die Unterschrift unter der letzten Arbeit hatte fälschen wollen. Egal! Es war eine Sechs. Was wollten sie ihr noch weniger geben? Die Standpauke des Direktors hatte sie schweigsam über sich ergehen lassen, aber bei ihrem Vater wäre ihr das nicht egal, denn dafür liebte sie ihn viel zu sehr.

Die Straßenbahn hielt an der nächsten Station und viele Menschen drängelten sich hinein. Eine Gruppe kleiner Asiaten schwatzte munter durcheinander, während sie alles mit ihren Handykameras knipsten. Sie brachten von draußen einen Luftzug mit, der ungewöhnlich intensiv nach Schweiß roch. Elisabeth verzog sich in den hinteren Teil des Wagons. Sie fand eine freie Stelle an der Wand. Nicht der allerbeste Platz, aber es dauerte ja nicht mehr lange.

Für einen kurzen Moment schloss Elisabeth die Augen und lehnte den Kopf gegen die Verkleidung hinter ihr. Was war nur los? Es war zwar stickig, doch ihr wurde immer heißer. Es hatte draußen 29 °C, doch jetzt kam es ihr wie über 40 °C vor. Sie fühlte sich leicht schwindelig, vielleicht sogar fiebrig. Das kam sicher von der Aufregung und ihren Gewissensbissen. Oder doch nicht? Irgendetwas begann, sie zu irritieren, dann wurde ihr schlagartig kalt. Es musste mehr als nur ein bloßer Windhauch sein, so als wenn die Temperatur sich plötzlich enorm abgesenkt hätte. Sie fröstelte und fühlte sich beobachtet, als wenn jemand sie unentwegt anstarrte. Sie hatte sich heute Vormittag auch so gefühlt, als sie in der Schule nach vorne gehen musste, um ihr Zeugnis und den Brief zu erhalten, aber da war klar gewesen, dass die ganze Klasse sie angegafft hatte.

Elisabeth nahm die Ohrstöpsel beiläufig heraus und tat so, als suchte sie auf ihrem Handy etwas, während sie sich heimlich umblickte. Neben ihr standen drei Grundschüler, die miteinander tuschelten, jedoch ihre Aufmerksamkeit auf eine Fußballzeitschrift richteten. Vier Mädchen hockten in der Sitzecke über ihre Handys gebeugt. Ein altes Ehepaar saß etwas weiter, das stoisch vor sich hinblickte. Ein Rockertyp saß mit dem Rücken zu ihr, vor ihm zwei der Asiaten mit Handys, die anscheinend die ganze Bahnfahrt filmten. Auf dem Behindertenplatz hatte eine blinde junge Frau mit verspiegelter Sonnenbrille und Armbinde Platz genommen. Elisabeths Blick verweilte kurz auf ihr, weil Mitleid in ihr aufkeimte. Die Frau war zwar etwas altmodisch gekleidet, sonst aber schön und elegant, doch sie konnte es nicht einmal sehen.

Ein schriller Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhren viele Fahrgäste zusammen und drehten die Köpfe. Eines der Mädchen in ihrer Nähe war schreiend vom Sitz gerutscht, was in dem frenetischen Gegacker ihrer Freundinnen gipfelte. Elisabeth hatte keine Ahnung, um was es ging, doch die Stimmen klangen so unnatürlich laut, sodass es richtig wehtat. Reflexartig hielt sie sich die Ohren zu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich und die Haare an ihren Armen begannen sich aufzustellen. Fast schon flehend sah sie auf die Anzeigetafel, wo immer noch die Lorzingstraße angeschrieben stand. Dabei wollte sie doch gar nicht so schnell nach Hause, aber hier in der Üstra wurde es jetzt für sie immer unerträglicher – zu eng.

Und da bemerkte sie das krampfartige Zittern, wie es in ihr emporkroch. Sie kannte das nur allzu gut. Nicht jetzt!, bat sie in Gedanken, während sie das Handy schnell wegsteckte, eilig ein kleines Ledertäschchen an ihrem Gürtel aufnestelte und ihm ein Fläschchen entnahm. Sie drehte sich von den anderen Fahrgästen weg, so gut sie konnte. Dann öffnete sie den Bügelverschluss, nahm einen winzigen Schluck und verschloss es hastig wieder. Die Medizin rann brennend ihren Hals hinunter. Den Mund und die Augen geschlossen, atmete sie tief durch die Nase und wartete auf die Wirkung. Diese setzte ein paar Sekunden später ein und das Zittern ließ merklich nach.

»Was hast du da? Das ist doch bestimmt Schnaps, oder? Bist du denn schon erwachsen? Ich glaube nicht. He, Ole, schau mal, die da trinkt!«

Ein kleiner Junge mit einer Hornbrille und einer riesigen Zahnlücke, höchstens vierte Klasse, stand vor ihr und glotzte sie direkt an. Verdammt! Sie hätte besser aufpassen müssen. Was war nur los mit ihr?

Sie hasste es, auf diese Sache angesprochen zu werden, denn es war ein Makel, den sie lieber für sich behielt. Die meisten in ihrer Klasse behandelten sie deswegen wie einen Junkie, eine Geisteskranke, oder hielten sie wegen ihrer guten Sportnoten für eine Doperin. Immer wieder hatte ihre Mutter wegen der Medizin ärztliche Bescheinigungen vorlegen müssen. Sie litt an einem seltenen Nervenleiden, hatte man ihr gesagt. Aber manchmal dachte sie, dass sie sich von einem Junkie gar nicht so sehr unterschied. Sie wusste, dass die Alkis am Bahnhof auch zittrige Hände hatten, wenn sie mit einem Pappbecher in der Hand die Leute um einen Euro anbettelten. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, was diese Leute so empfanden. Über das Zittern fühlte sie sich irgendwie mit ihnen verbunden. Deswegen hatte sie auch Mitleid. Auf einem Klassenausflug hatte sie einem Mädchen in abgerissenen Klamotten, das höchstens ein paar Jahre älter war als sie, etwas von ihrem Taschengeld gegeben. Die Klassenkameraden hatten sie deswegen aufgezogen, aber die blutunterlaufenen Augen des Mädchens hatten etwas seltsam Vertrautes an sich gehabt und für einen Moment einen dankbaren Ausdruck angenommen. Dann hatte das Mädchen sich zu den anderen umgedreht, eine unflätige Gebärde gemacht und sie vulgär beschimpft. Elisabeth erinnerte sich nicht mehr an andere Details, nur an diesen Glanz in ihren Augen. Irgendetwas Gequältes hatte darin gelegen, das man als Gesunder kaum verstehen konnte.

In diesem Moment ruckelte die Straßenbahn wieder und schüttelte alle Fahrgäste ordentlich durch. Elisabeth nutzte die Gelegenheit und drängelte sich kurzentschlossen zum Ausgang durch. Ab hier konnte sie auch durch die Eilenriede laufen. Da war es sicher etwas kühler und vor allem entging sie so dem vorlauten Zwerg, der sie gerade angesprochen hatte. Außerdem gefiel ihr Hannovers Stadtpark. Er war relativ groß, jedenfalls groß genug, um ein paar Stunden aus der Stadt zu verschwinden. Ein verlockender Gedanke.

Die Tür hatte sich noch nicht ganz geöffnet, da sprang sie schon hinaus, wobei sie versehentlich einen untersetzten Mann mit Bomberjacke anrempelte. Dieser fluchte laut und drückte sie beiseite, um seinerseits einzusteigen. Das Fläschchen entglitt ihren Fingern. Sie sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie es auf der Kante des Bahnsteigs aufschlug und in viele kleine, glitzernde Stücke zersprang. Hilflos beobachtete Elisabeth, wie die letzten Scherben durch die vordrängenden Fahrgäste zertreten wurden und in das Gleisbett fielen. Nur ein kleiner Fleck des ehemaligen Inhalts blieb auf der Kante zurück und lief langsam auseinander.

Allein und verloren stand sie auf dem Bahnsteig und starrte auf den Boden. Auch das noch! Der Tag schien sich komplett gegen sie gewandt zu haben. Ihre Medizin war wichtig. Sie hatte zwar gerade einen Schluck getrunken, aber sie sollte stets etwas für den Notfall bei sich tragen. Sie befand sich schon so lange sie denken konnte in Behandlung. Alle paar Wochen musste sie mit ihrer Mutter zu Frau Dr. Borga, welche sie ganz genau untersuchte und ihrer Mutter dann wieder neue Medizin mitgab.

Dr. Borga war eine Ärztin mit einer Vorliebe für ungewöhnliche Behandlungsmethoden. Neuro-Homöopathische Praxis – alternative ganzheitliche Heilmethoden stand auf ihrem Schild. Der Behandlungsraum hatte so gar nichts gemein mit einer herkömmlichen Praxis. Er befand sich in einem komplett verglasten Anbau mit seltenen Pflanzen und einer zentral gelegenen Sitzgruppe. Es mutete eher wie ein Dschungel an, hatte aber etwas unglaublich Beruhigendes an sich. Auf einer Seite des Raumes war eine Arbeitsfläche mit einem kleinen gemauerten Ofen, auf dem Dr. Borga ihre pflanzlichen Präparate herstellte. Auf Regalen darüber standen viele Gläser mit eingelegten oder getrockneten Pflanzen aufgereiht. Von hier stammte auch die Medizin, die Elisabeth einnehmen musste.

Elisabeth hatte sich daran gewöhnt und der Trank half ihr zuverlässig, das Zittern im Zaum zu halten. Ihr Vater hatte diesbezüglich ab und zu versucht, ihre Mutter zu überreden, zu einem echten Neurologen zu gehen, aber die hatte sich energisch durchgesetzt. Auch sonst führte Emilia Wollner ein striktes Regiment in der Familie. Ebenso resolut verteidigte sie die rein vegane Ernährung. Elisabeth und ihre jüngere Schwester Klara kannten nichts anderes, aber sie wusste, dass ihr Vater immer wieder mit sich rang und jede Gelegenheit nutzte, um auf Besprechungen und Tagungen auswärts zu essen. Wie sie von all dem Grünzeug überhaupt so groß geworden war, blieb ihrem Vater ein Rätsel, wie er ständig betonte. Trotz seiner Körpergröße von einem Meter achtzig hatte sie ihn mit ihren fünfzehn Jahren schon fast eingeholt. Ihre Mutter maß hingegen nur etwa einen Meter sechzig. Elisabeth war gertenschlank, fast schon dürr. Gerade deswegen schaffte sie es in Sport, vor allem im Laufen, zu glänzen. So waren die Sportstunden das Einzige, auf das sie sich in der Schule freute.

Bei dem Gedanken daran hellte sich ihre Miene wieder auf. Sie würde sicherlich zu Hause neue Medizin bekommen. So joggte sie Richtung Eilenriede los, dem großen Park in Hannovers Nordosten. Elisabeth kannte dort viele Verstecke, vor allem eine alte dicke Eiche, auf die sie gerne kletterte. Oben gab es eine Astgabel, die so verborgen lag, dass man kaum mehr von unten zu sehen war, wenn man sich dort hineinlegte. Sie hatte sich schon oft dorthin verzogen, wenn sie Ärger mit ihrer Mutter oder ihrer Schwester hatte.

Kaum dass Elisabeth um die Ecke gebogen war, trat die blinde Frau mit ihrem Stock tastend hinter dem Wartehäuschen hervor. An der Stelle, wo die Flasche des Mädchens zerbrochen war, blieb sie kurz stehen und drehte den Kopf schief. Ihr Mundwinkel zuckte kurz und deutete ein kaltes Lächeln an, das so gar nicht zu dem hübschen Gesicht passen wollte. Dann schlug sie denselben Weg ein, den kurz vorher Elisabeth genommen hatte.

Elisabeth querte inzwischen noch eine weitere Straße und bog nach wenigen Metern vom Weg ab, der durch den Park bis zum Zoo führte. Sie nahm die Strecke direkt durch die Büsche. Kaum dass sie die ersten Bäume passierte, wurde es dunkler und kühler. Anfangs musste sie aufpassen, um nicht in übelriechenden Müll, Glasscherben oder eine eilig verrichtete Notdurft zu treten. Wir Menschen können ja so unzivilisiert sein, dachte sie bei sich, als sie kurzerhand über eine Ansammlung mehrerer solcher Hinterlassenschaften hinwegsetzte.

Dahinter eröffnete sich ein schmaler Trampelpfad, der etwa parallel zum Hauptweg Richtung Nordosten führte. Sie kannte diesen Pfad von früheren Ausflügen gut. Leichtfüßig lief sie ihn entlang und vermied dabei herumliegende Äste und Blätter, sodass ihre Turnschuhe fast keinen Laut verursachten. Immer wieder musste sie sich vor herunterhängenden Zweigen ducken. Der Weg machte eine leichte Kurve und stieg etwas an.

Neben dem Weg, im weichen Boden, tauchten einige Kaninchenlöcher auf. Ein paar ihrer Bewohner saßen davor und huschten erst im letzten Moment rasch davon. Elisabeth lächelte. Das Laufen tat so gut und machte den Kopf frei, dass sie sogar ihr Zeugnis vergaß. Wie im Rausch lief sie weiter und erreichte ein paar Minuten später schon ihren Lieblingsbaum. Sie hatte Glück, dass in diesem Moment kein Mensch zu sehen war. Ohne langsamer zu werden, schob sie sich entschlossen ihre Tasche auf den Rücken. Ein paar Schritte gegen den Stamm und ein kräftiger Abdruck ließen sie nach oben schnellen. Sie streckte sich zu ihrer vollen Länge aus, dann schlossen sich die Finger um einen herunterhängenden Ast, an dem sie sich behände hochzog. Ab hier ging es kletternd weiter bis knapp unter die Baumkrone, wo sie sich in eine breite Astgabel gleiten ließ, wodurch sie einen großen schwarzen Vogel aufscheuchte, der krächzend das Weite suchte.