JENSEITS VON OSCHERSLEBEN

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
JENSEITS VON OSCHERSLEBEN
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


JENSEITS VON OSCHERSLEBEN

Als der Rand die Mitte wurde -

Eine Gesellschaftssatire die den Kern der Zeit trifft

1. Auflage, erschienen 1-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Jürgen Böttcher

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-844-9

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Kaarst

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

R1208 - rv102

JENSEITS

VON OSCHERSLEBEN

Als der Rand die Mitte wurde -

Eine Gesellschaftssatire die den Kern der Zeit trifft

VORWORT

Schon immer wollte ich eine Geschichte über den Marktplatz in meiner Gegend schreiben, irgendwo im Südosten Berlins.

Der Markt ist das Gesicht jedes Ortes und gleichzeitig der Seismograf, er registriert die kleinsten Schwankungen und zeigt im Kleinen, was kurz danach im Großen passiert.

Auf dem Markt sah ich immer die gleichen Leute, die Darsteller des Marktes. Wer sind diese Leute, sind sie das Volk? Wenn ja, hat das Volk dann ein Gesicht oder viele Gesichter oder bleiben sie anonym und ohne Gesicht? Schreiben die Leute vom Markt auch Geschichte oder nur Geschichten in der Geschichte? Sind sie repräsentativ für das Volk oder nur ein beliebiger Ausschnitt, für die Sorgen, Ansichten, Eigenschaften und Erwartungen der Masse?

Ich wusste es nicht, nur dass es die Leute gab, sie waren da, Tag für Tag. Eine Zeit lang war ich Beobachter, das Brennglas am Markt, sah ihre Gesichter, ihre Bewegungen und stellte mir ihre Hoffnungen und Ängste vor und alles andere. Dann begann ich zu schreiben, wollte der Sache eine Richtung geben. Nach den ersten Seiten war ich überzeugt, die Richtung gefunden zu haben.

Dann kam Corona, die Richtung löste sich auf, der Markt auch, obwohl er doch blieb. Nun gab es jeden Tag neue Richtungen, aber kaum Ziele. Die Akteure mussten über sich hinauswachsen, konnten es aber nicht. Die Probleme wurden größer, die Akteure nicht. Mal waren sie gut, mal waren sie böse, meistens blieben sie dazwischen, wie die meisten Menschen auch.

Die Akteure vom Markt traten aus ihrer Anonymität und Beliebigkeit und bekamen ein Gesicht, nun waren sie mittendrin statt nur dabei. Der Markt war nun repräsentativ, er zeigte das Gesicht der Masse, im Guten wie im Bösen und in der Grauzone auch. Die Akteure vom Markt wurden nicht zu Helden, sie wollten nur ein bisschen Anerkennung, Würde und Hoffnung, aber Gier, Neid und Missgunst waren ihnen auch nicht fremd.

Auf der Suche nach dem Glück waren sie trickreich und bauernschlau. Trotzdem blieben viele Fragen offen, mit Corona und ohne Corona. Corona stellte nur zu viele Fragen auf einmal.

Viele Fragen werden auch morgen nicht beantwortet sein, die Antworten werden im Verborgenen bleiben, vielleicht gibt es sie auch nicht. Dennoch haben die Akteure vom Markt viel gelernt. Auf der Suche nach der Wahrheit mussten sie feststellen, dass es die Wahrheit gar nicht gibt.

Sie kämpften in den Gräben der Ideologie und der Überzeugung, für die Wahrheit zu stehen. Dabei hatte jeder seine Wahrheit, die war dann zu klein, um die anderen zu überzeugen.

Der eine sieht es so und der andere so. Zusammen suchten sie das Traumschiff und das Paradies, darin verloren sie sich, die Ziele blieben in der Ferne zurück.

Am Ende bleibt uns der Humor und die Erkenntnis, dass die Dinge sind, wie sie sind. Mehr wird nie sein, die Leute vom Markt können es nicht besser, alle anderen auch nicht.

Inhalt

VORWORT

Kapitel 1 - Murat

Kapitel 2 - Corona-Muttiladen

Kapitel 3 - Corona-Döner Bonds

Kapitel 4 - Corona-Rügen

Kapitel 5 - Corona Oschersleben

Kapitel 6 - Corona Rollstuhl

Kapitel 7 - Corona Liebknecht

Kapitel 8 - Corona-Sommerzeit

Kapitel 9 - Corona-Waffen-Müller

Kapitel 10 - Corona-Konterrevolution

Kapitel 11 - Corona-Marktwehr

Kapitel 12 - Corona-Tribunal

EPILOG HALTESTELLE

Kapitel 1 - Murat

Immer wenn ich von unterwegs Richtung Heimat fahre, komme ich am Marktplatz vorbei und damit auch bei Murat.

Dem Marktplatz gegenüber hält Murat gegen das vereinte Finanzkapital seinen Dönerimbiss am Leben.

Es ist ein harter Kampf, die Kundschaft ist überwiegend sozial abgehängt und oftmals bleibt sie auch ganz weg. Draußen vor dem Laden, genau dort, wo einst der Vodafone-Shop mit dem netten Verkäufer gewesen ist und der nun schon lange geschlossen war, hatte Murat einen winzigen Biergarten aufgebaut, er bestand nur aus einem einzigen Tisch und vier Stühlen.

An dem Tisch mit den vier Stühlen hatte sich dann ein kleiner Stammtisch etabliert. Er bestand aus vier Männern mit speckig glänzender Haut und aufgedunsenen Gesichtern.

Dem Aussehen nach zu urteilen, hatten die Männer früher in den fotochemischen Werken der sowjetischen Besatzungszone gearbeitet und später zu viel Alkohol getrunken, obwohl diese Vorgänge auch während ihres Arbeitslebens schon Überschneidungen möglich erscheinen lassen. Die vier Männer vom Biergarten brachten Murat nur bescheidene Einnahmen, allzu oft tranken sie zwar das Bier von Murat, brachten sich aber den hartgebrannten Nachtisch to go mit.

Appetit hatten sie schon lange nicht mehr. Trotzdem waren sie für Murat wichtig, es sah immer nach gutem Besuch aus und die vier Leute brachten die neuesten Nachrichten in den Imbiss, aber was noch wichtiger war, sie brachten auch ihre Weisheit in den Laden.

Kongruent zu den konsumierten Getränken stieg der Grad dieser Weisheiten, oftmals sogar ins Unermessliche. Besonders Manni zeichnete sich in diesen Fragen aus, auch wenn er zu seiner schlechten Haut auch noch das rechte Bein etwas nachzog und an Selbigem eine offene Stelle hatte, war er für Murat der Weisheit letzter Schluss. Die vier unterhielten sich auch gern über ihr Arbeitsleben, als sei es noch greifbar, dabei lag es schon lange zurück, war wenig erfolgreich und auch recht kurz.

Dennoch brauchten sie das Thema, denn daraus entstand der Bezug zur Tagespolitik, was wiederum ihr Spezialgebiet war. Als Murat den Laden damals eröffnet hatte, wusste er nur etwas über Döner, durch die vier Musketiere wusste er dann fast alles.

Manni erklärte ihm, dass früher alles besser war, die Treuhand von der sizilianischen Mafia übernommen und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden sei, die später den Bitcoin entwickelt hat und heute über den Decknamen TESLA Riesengewinne erzielt.

Er erklärte Murat auch, dass die Deutschland GmbH ihn wegen seiner überdurchschnittlichen Intelligenz fürchtet und deshalb für Manni ein Berufsverbot erwirkt hatte.

Als Björn Höcke sich dann für ihn eingesetzt hat, kam er auf die schwarze Liste, auch weil er Extra–Rentenpunkte für Manni forderte, was Björn dann selbst erwerbslos machte.

Erst dadurch kam er zur AfD, steht aber heute noch mit Manni in Kontakt, weil man gemeinsam darum kämpft, dass Mannis deutsches Blut sich fortpflanzt, auch wenn Manni selbst schon Jahre keinen Sex mehr hatte, gleichwohl natürlich Zweifel bestehen, ob sich dazu überhaupt noch die medizinischen Möglichkeiten eröffnen. Wenn Manni Murat diese komplizierte Welt erklärte, schaute Murat immer voller Ehrfurcht.

Er hätte nie gedacht, dass die Dinge so kompliziert liegen. So gingen die Jahre ins Land, vom Frühling bis zum Spätsommer hatten sie bei Murat ihr Zuhause. Es war fast wie in den Voralpen zum Paradies. Die Arbeiterklasse siegte in Murats Biergarten. Murat konnte aber nicht wissen, dass der Sieg der Arbeiterklasse auch seine Schattenseiten hatte. So hatte Mannis rechte Hand, Hotte, der zweite Wortführer der Brigade, schon während seiner gewerblichen Beschäftigungszeit mit einer grappalen Depression zu kämpfen.

 

Dieser Umstand führte Hotte dann direkt in den Sozialhilfe-Burnout und zerstörte so seinen Aufstieg zum Dichter und Denker. Denn eigentlich wollte Hotte ins Warme, nach Italien, und dort eine Bewegung gründen. Es sollte eine Bewegung mit Sternen werden, doch als er den Anschluss an die globalisierte Welt verlor und sein Bonusheft zum Selbstläufer wurde, blieb nur noch die 5-Zähne-Bewegung bei Murat.

Seitdem fühlte Hotte sich bedroht, er erzählte Murat, dass ein Komplott aus iranischem Geheimdienst, Oscherslebener Hisbollah und serbischen Milizen seinen Erfolg in Italien verhindert hatte.

Murat machte sich Sorgen, er spürte die Gefahr. Dann plötzlich kam Manni nicht mehr, er hatte nun noch eine zweite offene Stelle an seinem rechten Bein und es wurde auch schon ein wenig schwarz, Murat wusste sofort, es wird nie mehr so sein, wie es war.

Fortan war die Brigade nur noch zu dritt und die Stimmung litt erheblich darunter. Besonders für Hotte wurde die Situation unerträglich. Obwohl Murat und die anderen beiden verbliebenen aus der Brigade, Detta und Matze, ihm Verbundenheit demonstrierten, blieb Hotte in der grappalen Depression gefangen.

Zu allem Überfluss, und es hatte sich politisch angedeutet, entstand in Murats Laden ein neues Trägervirus und bescherte Hotte noch zusätzlich eine Muslimeninfektion. Er war emotional schwer beschädigt, zumal für ihn auch die Respektrente kein Thema mehr war, auch dafür hatte sicher wieder dieses Komplott gesorgt.

Als der nächste Spätsommer Geschichte war, kam Hotte nicht mehr zu Murat. Detta und Matze waren ratlos, sie hatten plötzlich keine Führung mehr. Murat sagte zu den beiden: „Nun habe ich nur noch Euch als Gäste, da lohnt es sich bald nicht mehr, den Tisch draußen aufzustellen.“

Detta und Matze waren besorgt, jetzt ging es praktisch um die Heimat und die Existenz. Sie begannen, fieberhaft nach Hotte zu suchen. Als Erster bemerkte es Detta, er sagte:

„Es stinkt hier schlimmer als bei Murat am Mülleimer.“

Da waren sie kurz vor Hottes Gartenlaube.

Dann sahen sie es durchs Fenster, Hotte war tot.

Er starb an sich selbst, an Erbrochenem und am Alkohol.

Als Murat davon erfuhr, dachte er sofort an Mannis Bein und was nun werden soll. Eines war ihm sofort klar, zu den nächsten Wahlen könnte er unter diesen Umständen nicht gehen.

Detta und Matze waren von der Situation überfordert, sie hatten ihren Halt im Leben verloren. In ihrer Verlorenheit glaubten sie nun, der IS hätte sich in Inkontinente Salafisten umbenannt, um sich auf Kosten von Detta und Matze bei der AOK soziale Leistungen erschleichen zu können.

Diese gemeinen Sozialschmarotzer, dachten sie, und dass es solche Ungerechtigkeiten nur in Deutschland geben könne.

Das Paradies war wieder fies, zwei Helden der Arbeiterklasse standen am Abgrund. In dieser verzweifelten Situation versuchten sie, trotzdem strategisch zu denken.

So trafen sie sich bei Detta im Erdgeschoss zu einer Lageanalyse, nicht ohne vorher zu prüfen, ob die Deutschland GmbH die Wohnung verwanzt hatte. Sie spielten ihre ganze Erfahrung aus, doch dann passierte es.

Ein iranischer Fahrer von DHL klingelte, weil er die deutsche Sprache nicht komplett beherrschte, bei Detta statt bei Dettmann. Detta hatte nie Besuch, deshalb wussten beide sofort, das muss eine Falle sein, das können nur die Schergen und Volksfeinde aus den Messerländern sein. In ihrer Panik flohen beide aus dem Fenster im Erdgeschoss, rannten dann in Richtung Hauptstraße, von da waren es nur noch hundert Meter bis zu Murat. Derweil hatte der iranische Fahrer von DHL irrtümlich und vergeblich geklingelt.

Er stieg wieder ins Auto und spürte eine leichte Aggression in sich hochsteigen, vier von fünf waren nicht da, vielleicht sollte er doch etwas anderes machen.

Der Zeitdruck wurde größer, er fuhr in schnellem Tempo Richtung Hauptstraße, aus den Augenwinkeln sah er Detta und Matze, sie schienen es sehr eilig zu haben.

Er musste eine Vollbremsung machen, doch es war zu spät.

Detta und Matze liefen frontal in seinen Kühler, sie starben noch am Unfallort. Die letzten Worte von Detta waren.

„Wir müssen doch bei Murat noch den Tisch abbestellen.“

Als ich am Marktplatz vorbeikam, sah ich Murat vor dem Laden stehen, der Tisch draußen war leer und auch sonst waren keine Gäste da. Murat schaute traurig auf die Straße, ich wusste sofort, er hat ein Problem. Eins war klar, jetzt brauchte er meine Hilfe. Ich überlegte in alle Richtungen, wie man Murat und sein Geschäft retten könnte. Nach einer unruhigen Nacht hatte ich plötzlich die Idee, ich fand sie bahnbrechend.

Ich machte mich sofort auf den Weg, nahm allen Mut zusammen und ging direkt zu Murat in den Laden. Der Laden war leer, nur Murat stand mit noch leereren Augen hinter dem Tresen.

Ich wusste, jetzt geht es um alles, ich muss ihn sofort jetzt und hier überzeugen. Murat schaute mich fragend an, dann sagte ich:

„Murat, alter Frittenschlechter, vor Dir steht Deine Rettung. Du brauchst ein ganz neues Konzept, ich habe es, und Du wirst aus dem Dispo kommen, falls Du einen hast.“ Murat schaute mich verständnislos an und erwiderte: „Mir helfen kann nur Allah und Du bist balla, balla.“

Ich blieb ruhig und sagte: „Murat, komm mal zur Tür, ich werde Dir zeigen, Allah ist balla, balla.“

Murat kam langsam zur Tür, ich fasste ihn sanft am Arm, zeigte nach oben auf seine Speisetafel und sagte: „Murat, das muss alles ab, es hat keinen Sinn mehr. Du fängst jetzt neu an, Du wirst Bestattungsdiscounter.

Deine Kundschaft hat keine hohe Lebenserwartung, das ist ein riesiger Markt.“

Murat war immer noch verkrampft, er schaute verständnislos.

Ich fuhr fort: „Murat, ab morgen bist Du nicht mehr Frittenschlechter, sondern Discounter, gut, nur für Bestattungen, aber immerhin Discounter.

Du machst jetzt sofort die Schilder mit dem Essen ab, das ist nicht mehr zeitgemäß. Weißt Du, was da oben stehen muss?

Da oben wird nicht mehr halbes Hähnchen und Döner Kebab stehen, sondern: Happy Hour für Familien, sterben zum halben Preis.

Mit dem Sarg in den Park

Lebenspause ohne Brause

Gestatten von Tatten, Fachmann für Sterbeplatten

Tod preiswerter als Doppelkorn. Geh nicht fort, stirb im Ort.

Ich sah in Murats Augen, es war alles etwas schnell für ihn, er wünschte sich Manni zurück, da hatte sein Leben noch gesellschaftliche Leitplanken.

Die Situation spitzte sich zu, jetzt war Handeln gefragt.

Ich zeigte in den Innenraum der Gaststube und sagte: „Murat, Du hast hier alle Möglichkeiten.

Schau auf den großen Kühlschrank, wenn da keine Getränke mehr drin sind, können die Leute probesitzen oder Du nimmst noch einen Obolus, wenn ein Toter über Nacht bleiben soll. Dann hättest Du noch ungeahnte Möglichkeiten mit Merchandising. Du könntest Totenkopf-Bettwäsche verkaufen oder T-Shirts mit einem Sarg-Logo, Ich bin der letzte Kunde. Natürlich kannst Du Dir noch ein zweites Standbein mit Organspende aufbauen, Material ist ja genug da.“

Langsam begann Murat zu verstehen. Ich fasste ihm um die Schulter, an dem das Frittenfett klebte, und holte zum großen Schlag aus, zog ihn fast zärtlich vor den Laden, dort hatte ich nämlich schon etwas vorbereitet.

In einer Seitenstraße hatte ich ein Schild von der LBS abmontiert, nun lag es vor Murats Schaufenster.

Schnell übermalte ich mit einem Edding die Buchstaben der LBS und brachte das Schild direkt über dem Schaufenster an.

WIR GEBEN IHRER ZUKUNFT EIN ZUHAUSE!

Murat lächelte jetzt. Dann zeigte ich ihm das Logo für seinen Discounter. STIRB GÜNSTIG 2.0!

Murat hatte jetzt ganz weiche Züge, er schmeckte das Glück. Er drehte sich zu mir um, dann lagen wir uns minutenlang in den Armen und weinten vor Glück. Meine Mission war erfüllt, Murat war glücklich und er dachte auch nicht mehr an Mannis Bein und dass es für die Organspende nicht taugte. Beim Abschied umarmte ich ihn noch einmal und flüsterte ihm ins Ohr. „Das alles hier funktioniert natürlich nur, wenn Du Vorkasse nimmst. Denk nur an Detta und Matze, von beiden ist auch noch ein Deckel offen. Außerdem brauchst Du auch Investitionskapital für die Merchandising-Artikel.“ Murat nickte, er hatte verstanden.

Einige Tage später kam Manni nach einem halben Jahr zum ersten Mal wieder aus seiner Wohnung.

Es ging ihm immer noch nicht gut, sein Bein war inzwischen fast vollständig schwarz, aber er hatte von einem Nachbarn einen Gutschein für eine Flasche Wodka bekommen, den er nur persönlich einlösen konnte. Das war Grund genug.

Er musste sehr langsam gehen, die Schmerzen in seinem Bein waren unerträglich. Dann sah er Murats Laden. Er nahm alle Kraft zusammen und humpelte quer über die Straße. Mit Mühe hatte er den Gehweg erreicht, er winkte Murat schon zu.

Doch drei Meter vor Murat brach Manni plötzlich zusammen, er starb friedlich vor Murats Laden, nur sein Bein lebte noch ein bisschen weiter.

Murat stand da wie erstarrt, er verstand nur, dass ihn wohl die Vergangenheit eingeholt hatte.

Er stand noch ein paar Minuten regungslos da, dann schaute er nach links und rechts, beugte sich langsam vor und nahm Manni das Portemonnaie aus der Tasche und sagte leise: „Wir hatten doch Vorkasse vereinbart.“

Als ich eine Stunde später vorbeikam, saß Murat auf der Treppe vor seinem Laden, neben ihm lag Mannis leeres Portemonnaie.

Ich setzte mich zu Murat und fragte, wie es ihm geht. „Was hat das alles für einen Sinn mit der Vorkasse, wenn die Leute gar kein Geld dabeihaben, vielleicht hätte ich doch mehr auf Lastschrift setzen sollen“, antwortete Murat.

Ich sah ihn an und dachte, Du naiver Türke, Lastschrift ist doch wie aus der Zeit gefallen, heute braucht man für so was eine Sterbe-App, aber ich sagte ihm nichts. Ich machte einen großen Schritt, stieg über Manni und ging nach Hause, ich musste erst mal zur Ruhe kommen.

Dann war ich einige Wochen nicht in der Stadt. Als ich endlich wieder am Markt vorbeikam, stand der Tisch noch vor dem Laden, aber es standen keine Stühle mehr da. Auf dem Tisch stand jetzt, aus dem Nachlass von Manni, ein großes rosafarbenes Sparschwein, davor war ein Mini-Sarg drapiert.

Auf dem Schwein stand,

KASSE DES VERTRAUENS, BITTE VOR DEM TOD BEZAHLEN!

Ich ging zu Murat in den Laden und sagte. „Das mit der Kasse des Vertrauens haben wir vor dreißig Jahren schon mit der BZ am Abend versucht.

Die Zeitungen waren alle, bevor das Geld in der Box lag.“ Murat schaute traurig nach unten und murmelte: „Die Menschen haben nicht mal den Tod verdient.“

Kapitel 2 - Corona-Muttiladen

Zwei Sommer und zwei Winter machte Murat noch weiter. Die Kasse des Vertrauens wurde die Kasse des Grauens. Am Ende stellte er den kleinen Tisch gar nicht mehr raus.

Dann kam Corona.

Am Anfang dachte Murat noch, COVID 19 und C – 3PO aus Star Wars hatten irgendetwas miteinander zu tun. Diese Namen müssen doch zu einem einzigen Film gehören, dachte Murat.

Er hatte sich getäuscht. Murat hätte nun gern Manni gefragt, die Situation wurde ihm unheimlich. Manni konnte nicht mehr antworten, er war schon „Jenseits von Oschersleben“, doch die Situation hätte vermutlich auch Manni überfordert.

Anfang März war alles unheimlich, Mitte März geriet die Welt schon aus den Fugen. Jeder neue Tag wurde zu einem Seismografen, der die Menschen aus ihrer gewohnten Haut schälte.

Diese Haut war weich und zart, sie stammte aus Wohlstand und Frieden. Jetzt wurde sie rissig, mit jedem Tag mehr. Mit brachialer Gewalt traten Eigenschaften zutage, die schon immer da waren, jetzt aber die Leitplanken verloren hatten. Plötzlich drehte die Erde sich langsamer, für manche fühlte es sich auch schneller an. Ungefiltert wie durch ein Brennglas traten ein paar gute Eigenschaften des Menschen hervor, doch leider viel mehr schlechte.

Murat konnte es ohne Manni nicht so formulieren, doch er merkte deutlich, dass die Menschen anders wurden. Keiner gab ihm mehr die Hand und bald darauf sprach auch niemand mehr mit ihm. Es kaufte auch niemand mehr bei ihm, zum ersten Mal hatte Murat das Gefühl, die Leute hätten Angst vor ihm.

 

Das Gefühl trog ihn nicht. Murat stand vor seinem Laden, er schaute nach links, der Vodafone-Shop hatte keine Kunden, genauso wie er.

Murat schaute nach rechts, dort war dm und die Menschen bildeten eine Schlange, gleichwohl es dort sonst immer leer war.

Er hörte von anderen, die Leute standen nach Toilettenpapier an. Als Murat das erfuhr, dachte er sofort, die Virologen hatten sich geirrt. Von Corona bekommt man keine Lungenkrankheit, sondern Durchfall.

Dann brachte er aber in Erfahrung, das Toilettenpapier hatte mit dem Virus nicht direkt zu tun, das Virus hetzte Risikogruppen. Daraufhin hatte Murat die Hoffnung, die Dummen wären gut als Risikogruppe.

Doch alle Dummen, die er kannte, lebten auch Ende März noch.

Murat dachte, vielleicht brauchen die Dummen einfach mehr Zeit zum Sterben, er wusste nicht, wen er fragen sollte, er fühlte sich unwohl. Mit jedem Tag wurden die Menschen radikaler, inzwischen gingen die Leute lieber auf die andere Straßenseite als direkt an seinem Laden vorbei. Danach wechselten sie wieder die Straßenseite und reihten sich in die Schlange vor dm ein.

Freitag, der Dreizehnte, war Murats letzter Tag in seinem Laden. Er machte noch einmal sauber, stellte die Stühle ordentlich zusammen, rückte die Tische gerade, dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Er hinterließ keine Information an der Tür, er drehte sich auch nicht mehr um, er wusste, es war vorbei.

Mit ruhigen Schritten ging er auf den Eingang von dm zu, er ließ sich von den Pöbeleien der wartenden Menschen nicht beirren, ging an ihnen vorbei in den Laden. Dort ging er direkt zum Filialleiter und bewarb sich als Packer.

Der Filialleiter stellte ihn sofort ein, Murat sollte noch am selben Tag anfangen, er wurde zuständig, Toilettenpapier und Küchentücher nachzulegen. Er war jetzt so wertvoll wie ein rumänischer Erntehelfer, Murat wurde an diesem Tag systemrelevant.

Fortan hatte er gegen Mittag Feierabend, trotzdem verdiente er nun ungleich mehr als mit seinem Imbiss.

Murat dachte, Manni wäre jetzt bestimmt stolz auf ihn.

Derweil wurde die Lage draußen immer angespannter.

Vor den Regalen stießen die Menschen sich zur Seite, man kaufte jetzt nicht mehr nur Toilettenpapier auf Vorrat, sondern auch Nudeln und Eintopf aus der Büchse, selbst aus dem Korb vor der Kasse wurde gestohlen.

Die Rufe nach Rosinenbombern wurden laut, war das nicht damals eine Erfolgsgeschichte? Heute wollte aber jeder seinen eigenen Rosinenbomber, aber auch das konnte dieser Staat wieder nicht leisten. Das Land bekam tiefe Risse, es war fast unmenschlich, hier zu leben.

Nicht einmal eine defekte Glühbirne konnte das Innenministerium wechseln, alles sollte man selbst machen, die Zeit für die Ränder schien endgültig gekommen.

Bonsaihitler Höcke wollte jetzt die Feinde ausschwitzen, wen immer er damit auch meinte.

Als Murat das hörte und die Menschen in seinem Laden sah, dachte er, ohne den ganzen Tag in der Sauna zu sitzen, wird er das nicht schaffen. Der kleine Polithobbit Gysi war der Meinung, die Hamsterkäufe sind wegen des Neoliberalismus entstanden.

Murat konnte mit diesem Begriff nichts anfangen, er wusste aber von Manni, dass schon in der sowjetischen Besatzungszone Hamsterkäufe als Verpflichtung wahrgenommen wurden, gleichwohl die Möglichkeiten dazu wohl sehr begrenzt waren. Manni nannte dieses System immer Planwirtschaft. Vielleicht meinte Gysi neoliberale Planwirtschaft und hatte sich nur versprochen. Eigentlich glaubte er weder an das Ausschwitzen noch an den Neoliberalismus als Gründe, aber er konnte sich gut einschätzen und ihm war klar, seine Lernkurve war flach, vielleicht verstand er es einfach nicht.

Mit der Zeit wurden dann die Ränder still, sie hatten keine Antworten, sie hatten nicht einmal Fragen.

Murat packte weiter die Regale voll und dachte.

Die Dinge sind, wie sie sind und die Menschen auch, sie scheitern immer an ihren Erwartungen. Er war sogar ein bisschen stolz auf seine Gedanken, von Manni lernen heißt eben doch siegen lernen. Nach ein paar Wochen bei dm bekam Murat Rückenschmerzen, er war trotzdem zufrieden.

Die Kunden in seiner Filiale hatten keine Rückenschmerzen, sie waren trotzdem nicht zufrieden. Irgendwie schien Murat aus der Zeit gefallen.

Murat blieb auch weiter zufrieden bei seiner Arbeit, er war nun schon routiniert und konnte auch beim Auspacken die Kunden beobachten, wie sie mit verzerrten Gesichtern Lagerhaltung betrieben, sie sahen ein bisschen wie Jäger aus.

Immer öfter dachte er über die Welt und das Leben nach. Eine Zeit lang blieben die Gedanken diffus, doch dann traf es ihn wie ein Blitz. Einer Katharsis gleich stand plötzlich diese eine Frage vor ihm, was macht den Unterschied zwischen einem Herrn Müller und einem Schäferhund aus. Oft war er nah dran, aber er konnte die Antwort nicht greifen, er kam nicht darauf.

Dann sah er eines Tages seinen Nachbarn, vollbepackt mit viereckigen Paketen, mit seinem Hund aus einer Drogerie kommen.

Da plötzlich sah er den Unterschied zwischen Mensch und Tier, ES WAR DAS KLOPAPIER und vielleicht noch ein paar Nudeln.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?