Medienwandel

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Medienwandel
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[1]utb 4540

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[2] [3]Joseph Garncarz

Medienwandel

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz

mit UVK / Lucius · München

[4]Priv.-Doz. Dr. Joseph Garncarz lehrt am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Er hat mehrere medienhistorische Bücher veröffentlicht und Forschungsprojekte geleitet.

Online-Angebote und elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Titelfoto: Shutterstock.com

Lektorat und Satz: Michael Ross, Köln

Druck: Pustet, Regensburg

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz · Deutschland

Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band-Nr. 4540

ISBN 978-3-8252-4540-5 (Print)

ISBN 978-3-8463-4540-5 (EPUB)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

[5]Inhalt

Einleitung

Teil I: Instrumente zur Analyse des Medienwandels

1. Was sind Medien?

2. Was bedeutet Wandel?

3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben?

4. Was treibt den Medienwandel voran?

5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren?

Teil II: Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur

6. Mobiles Kino (1900er-Jahre)

7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre)

8. Der Spielfilm und die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre)

9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre)

10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre)

11. Filmproduzenten von europäischem Ruf (1930er-Jahre)

12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre)

13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre)

14. CASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre)

15. Der Wandel der TAGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre)

16. Medien- und Generationswandel (1960er- bis 1990er-Jahre)

17. Globalisierung der Kinokultur (1970er- bis 2000er-Jahre)

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Index

[6][7]Einleitung

Was sind Medien? Wie und warum wandeln sich Medien? Wie kann ich das selbst herausfinden? Ziel dieses Buchs ist es, auf diese und ähnliche Fragen plausible Antworten zu geben.

Das Wissen um das Vergangene ist ein wichtiges Orientierungsmittel für Menschen. Wenn ein Mensch seine Erinnerung verliert (etwa bei einer Demenz), dann verliert er seine Identität und kommt im Leben nicht mehr zurecht – zumindest nicht ohne die Hilfe anderer. Der Blick zurück in die Geschichte ermöglicht zugleich den klareren Blick in die Zukunft. Um uns optimal orientieren zu können, brauchen wir nicht nur ein verlässliches Wissen über die Vergangenheit, sondern zunächst einmal die methodische Fähigkeit, ein Wissen über unsere Vergangenheit zu bilden.

Das Wissen um Mediengeschichte ist auch die Voraussetzung dafür, auf den Prozess des Medienwandels einen wie auch immer gearteten Einfluss nehmen zu können. Keine Person oder Institution – wie stark auch immer ihre Position in Wirtschaft und Gesellschaft sein mag – kann den Prozess der Etablierung und Verbreitung eines neuen Mediums allein kontrollieren und gestalten. Ein solcher Prozess ist immer von einer Vielzahl von Menschen abhängig, die Medienangebote machen und diese wahrnehmen. Je besser man den Medienwandel versteht, desto größer wird die Chance, ihn selbst beeinflussen zu können.

Einführende Bücher zur Mediengeschichte konzentrieren sich entweder auf die Geschichte der Theorien oder auf eine Geschichte der Fakten.1 Das vorliegende Buch möchte hier eine Lücke füllen, indem es den Lesern Instrumente an die Hand gibt, wie sich der Wandel der Medien beschreiben und erklären lässt.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, einen theoretisch-systematischen und einen historischen. Im ersten Teil des Buchs wird erklärt, wie wir ein Wissen über den Wandel der Medien bilden können. Hierzu werden die Begriffe Medien und Wandel erläutert sowie methodologische Fragen der Medienhistoriografie diskutiert. Als Medienhistoriografie wird die Erforschung der Mediengeschichte bezeichnet. Es wird ein Modell des Medienwandels entworfen, das begreifen hilft, wie Medien erfunden, etabliert, verbreitet und differenziert werden und warum sich die Entwicklungsdynamik unterschiedlicher Medien in verschiedenen Zeiten und Kulturen unterscheidet.

Der zweite Teil des Buchs besteht aus zwölf Fallstudien. Sie thematisieren unterschiedliche Aspekte des Medienwandels wie die Etablierung neuer Mediennutzungsformen und -institutionen, die Rolle der Mediennutzer für die Verbreitung[8] und kulturelle Differenzierung der Medien sowie die Nationalisierung bzw. Globalisierung von Medienmärkten und -kulturen. Die Studien sind chronologisch organisiert, sodass das erste Beispiel aus der Zeit um 1900 und das letzte aus der Zeit um 2000 stammt. Da die Fallstudien thematisch ausgerichtet sind, sind zeitliche Überschneidungen zwischen einzelnen Studien nicht immer zu vermeiden.

Da die Verwendungsweise über das kulturelle Profil und die Funktion der Medien entscheidet, lassen sich Medien nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext analysieren. Die Fallstudien stellen die Medien in diese Kontexte und nähern sich ihrem Gegenstand daher nicht philosophisch, sondern kultur- und sozialwissenschaftlich. Ich wähle Deutschland im 20. Jahrhundert als Kontext und konzentriere mich aufgrund meines eigenen Forschungsschwerpunkts auf die Medien Film und Fernsehen.

Für die Fallbeispiele selbst wurden im Lauf der vergangenen 20 Jahre umfangreiche und grundlegende Recherchen durchgeführt, sodass jede Fallstudie das bisher in dem entsprechenden Bereich verfügbare Wissen erweitert bzw. revidiert. Der systematische Teil beruht nicht nur auf einer Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, sondern auf jahrzehntelanger, eigener Forschungsarbeit zum Medienwandel.

Im systematischen Teil wird immer wieder auf die Fallbeispiele im zweiten Teil des Buchs Bezug genommen (insbesondere in den hervorgehobenen Kästen). Grundsätzlich können Sie dieses Buch linear lesen oder Ihre Lektüre im systematischen Teil unterbrechen, um den jeweiligen Querverweisen zu folgen. Wenn Ihnen das systematische Vorgehen weniger liegt, können Sie auch vorab einige der Fallstudien lesen (beginnen Sie etwa mit Kapitel 15, das zeigt, wie die TAGESSCHAU als Nachrichtensendung etabliert wurde, um einen Eindruck davon zu gewinnen, was Medienwandel ist und wie man ihn beschreiben und erklären kann).

Das Wissen um den Wandel der Medien ist nicht in dem Sinn praxisrelevant, dass man es im Berufsalltag unmittelbar anwenden kann. Das Wissen um den Wandel der Medien ist vielmehr ein Orientierungswissen, das für den Umgang mit Medien von mittelbarer Bedeutung ist. Die mediale Unterhaltung – über Fernsehen, DVD/Blu-Ray oder das World Wide Web – gehört in den meisten Haushalten zum Alltag. In den meisten Berufen gehört der Umgang insbesondere mit Kommunikations- und Wissensmedien zu den selbstverständlichen Arbeitsmitteln. »Die Beherrschung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien wird zu einer basalen Kulturtechnik werden, deren Stellenwert dem Lesen und Schreiben gleichkommt.«2 Um eine solche Medienkompetenz zu erwerben, braucht man neben einem technischen und sozialen Wissen auch ein Wissen um die Geschichtlichkeit der Medien.

[9]Zwei Bemerkungen zum Abschluss dieser Einleitung:

Dieses Buch verzichtet auf einen ausführlichen Literaturbericht und führt stattdessen problemorientiert in die Mediengeschichte ein. Die Sicht des Autors ist dabei von den Fachgegenständen und -methoden geprägt, die er vertritt. Als Theater-, Film- und Fernsehwissenschaftler stellt er daher Programmmedien in den Vordergrund.

 

Dieses Buch gibt nicht in allen Punkten den Forschungskonsens wieder, sondern folgt den Überzeugungen des Autors. Diese beruhen auf einer Fülle film- und fernsehhistorischer Forschungen, von denen einige in diesem Buch als Fallbeispiele erläutert werden. Für die Fallbeispiele wurden umfangreiche und grundlegende Recherchen durchgeführt, deren Ergebnisse den mit der Sekundärliteratur vertrauten Leser womöglich überraschen werden. Es bleibt dem Leser überlassen, sich selbst eine Meinung darüber zu bilden, ob er sich von den in diesem Buch gemachten Argumenten überzeugen lässt.

Die Ursprünge dieses Buchs liegen in einem Studienbrief, den der Autor vor einigen Jahren für den Fernstudiengang »Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen« an der Technischen Universität Kaiserslautern geschrieben hat und der ohne die Anregung und Unterstützung von Gebhard Rusch und Thomas Heinze nie entstanden wäre. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Viele haben Anregungen geliefert, darunter Studierende des Studiengangs, mit denen ich im Lauf der Jahre etliche Präsenzveranstaltungen durchführen durfte. Mein Dank gilt zudem Peter Krämer, der meine Arbeit über viele Jahre hin begleitet hat, und Michael Ross für seine Kritik und das sorgfältige Lektorat. Nicht zuletzt danke ich meinem Lektor von der UVK Verlagsgesellschaft, Rüdiger Steiner, dessen kompetenter Rat dem Buch zugute gekommen ist. Irrtümer liegen allein in der Verantwortung des Autors.

[10][11]Teil I

Instrumente zur Analyse

des Medienwandels

Im theoretisch-systematischen Teil des Buchs wird gezeigt, wie sich Mediengeschichte sinnvoll schreiben lässt. Zu diesem Zweck werden zentrale Begriffe wie Medien und Wandel erläutert und gezeigt, was den Medienwandel vorantreibt. Zudem wird ein Modell des Medienwandels entworfen, das begreifen hilft, wie Medien erfunden, etabliert, verbreitet und differenziert werden.

[12][13]1. Was sind Medien?

Jede Forschung sollte damit beginnen, dass Fragen gestellt werden. Wer nicht fragt, kann auch nichts herausfinden. Der Autor dieses Buchs ist der Auffassung, dass in der Medien- und Kommunikationswissenschaft viel zu wenig Fragen gestellt werden. Vor allem mangelt es an Kinderfragen, also an Fragen, die auf Grundsätzliches zielen, wie zum Beispiel: Was sind Medien? Was bedeutet Wandel? Wie und warum wandeln sich Medien?

Der Medienbegriff hat heute eine große Fülle verschiedener Bedeutungen. Als Medien gelten so unterschiedliche Phänomene wie Geld und Liebe, Menschen mit paranormalen Fähigkeiten wie Geisterseher, Träger physikalischer Vorgänge wie Luft oder Wasser, das Hintergrundrauschen des Weltalls infolge des Urknalls, die Mode oder die Haartracht, Mittel der Kommunikation wie Sprache und Schrift, Technologien der Informationsübermittlung wie Rundfunk, Druck und Fernsehen, Nutzungsformen wie Buch und Zeitung sowie Institutionen wie Kino und Fernsehen.

Eine Begriffsdefinition ist umso notwendiger, je mehrdeutiger ein Begriff ist. Definiert man den Begriff Medien nicht hinreichend, wird es zwangsläufig zu Missverständnissen kommen, weil man über ganz unterschiedliche Phänomene spricht, dies aber den Gesprächsteilnehmern nicht hinreichend deutlich ist. Nur wenn man den Begriff hinreichend klar und für den jeweiligen Kontext zweckmäßig definiert, kann man sich über die Sache so auseinandersetzen, dass prinzipiell ein Austausch von Argumenten zu einem Lernprozess führt. Einen Begriff für den jeweiligen Kontext zweckmäßig zu definieren, bedeutet nicht automatisch, ihn so zu fassen, dass er für alle Zeiten und Kulturen gilt. Oft ist es sinnvoll, Begriffe so zu fassen, dass für bestimmte Zeiten und Kulturen primäre (mit anderen Worten: dominante oder typische) Merkmale (z. B. einzelner Medientechnologien wie dem Film) bestimmt werden.

Ziel dieses Kapitels ist es, den Medienbegriff so klar zu definieren und die Funktionen von Medien so klar voneinander zu unterscheiden, dass hinreichend deutlich wird, was den Gegenstand der Medienhistoriografie ausmacht.

Um die Kommunikation weniger störanfällig zu gestalten, soll hier keine Terminologie für Spezialisten im Elfenbeinturm entwickelt, sondern eine Definition gewählt werden, die sich an der dominanten Verwendungsweise des Begriffs in der Alltagssprache orientiert.

[14]Zur Karriere eines Begriffs

Der Begriff Medien hat ohne Zweifel Karriere gemacht. Wurde er Anfang des 20. Jahrhunderts noch selten verwendet, so ist er zu Beginn des 21. Jahrhunderts in aller Munde. Der Begriff wird jedoch nicht nur deutlich häufiger verwendet, sondern hat auch einen fundamentalen Bedeutungswandel erfahren. Ein Blick in einschlägige Enzyklopädien gibt einen ersten Eindruck der Begriffsgeschichte:

Meyers Großes Konversationslexikon von 1905-1909 definiert den Begriff Medium folgendermaßen:

»Medĭum (lat.), Mitte, Mittel, etwas Vermittelndes; in der griechischen Sprache ein eignes Genus des Verbums (s[iehe] d[ort]); in der spiritistischen Weltanschauung jemand, der den Verkehr mit der Geisterwelt vermittelt (→ Spiritismus); flanellartiger Wollenstoff für Frauenjacken u. dgl. mit 18-22 Fäden auf 1 cm aus Streichgarnen 14,000 m auf 1 kg.«3

In den älteren indogermanischen Sprachen wurde die Art, in der sich das Subjekt zur Welt verhält, durch eine bestimmte Form des Verbs ausgedrückt.

»Es gab dafür zwei Reihen von Formen: für das aktive Verhältnis oder Activum und für das Medium, d. h. für dasjenige Verhältnis, wobei das V[erbum] in der reflexiven oder einer sonstigen besonders nahen Beziehung zum Träger der Aussage steht. Auch das Passivum konnte mit den letztern Formen bezeichnet werden. Auch diese Verhältnisse, das sogen[annte] Genus des Verbums, gelangten an den Endungen zum Ausdruck.«4

Als Medium galt also die Form des Verbs, die deutlich macht, dass sich die Aussage in einem besonderen Maß auf den Sprecher selbst bezieht.

Meyers online definiert den Begriff Medium einhundert Jahre später so:


»1.[lateinisch ›Mitte‹] das, Plural Medien, allgemein: Mittel, vermittelndes Element.
2.[lateinisch ›Mitte‹] das, Plural Medien, Kommunikationswissenschaft: jedes Mittel der Publizistik und Kommunikation (→Medien).
3.Physik: Träger physikalischer oder chemischer Vorgänge, insbesondere im Sinne der Vermittlung von Wirkungen (z. B. Luft als Träger von Schallwellen); häufig synonym mit ›Stoff‹, ›Substanz‹ verwendet. Elektromagnetische, Gravitations- und Materiewellen breiten sich ohne Medium aus.
4.Parapsychologie: ein Mensch mit paranormalen Fähigkeiten. (→Okkultismus, →Parapsychologie, →Spiritismus)«5

[15]Unter »Medien (Publizistik)« heißt es:

»Medien [lateinisch], Vermittlungssysteme für Informationen aller Art (Nachrichten, Meinungen, Unterhaltung), die durch die →Neuen Medien starke Erweiterung erfahren haben; im engeren Sinn die Massenmedien (→Massenkommunikation).«6

Die Bedeutung des Begriffs Medium bleibt im 20. Jahrhundert zumindest in zweierlei Hinsicht konstant: Der Begriff wird im Sinn von »vermittelndes Element« unverändert verwendet, und zudem bleibt die parapsychologische Verwendung des Begriffs als konkrete Objektbedeutung bestehen.

Zu diesen tradierten Bedeutungen kommen im Verlauf des 20. Jahrhunderts neue Bedeutungen hinzu, die die älteren, wenn nicht verdrängen, so doch im alltäglichen Sprachgebrauch überlagern. Eine hervorragende Quelle für Wortbedeutungen ist über Enzyklopädien hinaus das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS), das über rund 80.000 Texte mit 100 Millionen Wörtern verfügt.7 Die Texte entstammen den Textsorten Belletristik, Gebrauchsliteratur, Zeitung und Wissenschaft. Sie verteilen sich gleichmäßig auf alle Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Wertet man dieses Textkorpus aus, kann man grundlegende Aussagen über den Wandel des Medienbegriffs machen.

Der Begriff Medium wird erst seit den 1980er-Jahren inflationär verwendet. Taucht er im Textkorpus seit 1900 etwa 100-mal pro Jahrzehnt auf, so steigert sich die Nutzung in den 1990er-Jahren um den Faktor 10. Die häufigere Verwendung des Begriffs in den 1980er- und 1990er-Jahren erfolgt nicht primär in der Belletristik oder in der Gebrauchsliteratur, sondern in journalistischen und wissenschaftlichen Texten.

Der Begriff wird – wie auch die zitierten Enzyklopädie-Artikel zeigen – Anfang des 20. Jahrhunderts in aller Regel nur im Singular gebraucht, Ende des 20. Jahrhunderts aber ganz überwiegend im Plural. Der Begriff, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegend auf konkrete Objekte bezog (»ein Genus des Verbums«, »jemand, der den Verkehr mit der Geisterwelt vermittelt«, »flanellartiger Wollenstoff«), wird am Ende des Jahrhunderts in einem stärkeren Maß als ein Begriff auf einem höheren Syntheseniveau verwendet (»jedes Mittel der Publizistik und Kommunikation«, »Träger physikalischer oder chemischer Vorgänge«).

Die häufigste Verwendung des Begriffs in den 1990er-Jahren bezieht sich auf die sogenannten Massenmedien Presse, Rundfunk und Fernsehen. Der Begriff zielt dabei in aller Regel nicht auf Unterhaltung, sondern auf aktuelle Berichterstattung und Meinungsbildung (weshalb der Film in einer solchen Aufzählung in aller Regel nicht auftaucht). Da es oft um eine wertende Benennung einer Wirkungsmacht von Presse, Rundfunk und Fernsehen geht, ist in der Regel von »den Medien« (und nicht etwa vom einzelnen Medium) die Rede.

[16]

Wortverlauf Medienim 20. Jahrhundert nach der Zahl der Nennungen im Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts(www.dwds.de)

Basisbegriffe

Je mehrdeutiger und abstrakter ein Begriff ist, desto sorgfältiger muss man darauf achten, dass er klar definiert wird. Es gibt nicht die richtige Definition; es gibt nur konkurrierende Definitionen. Allerdings gibt es sinnvollere und weniger sinnvolle Definitionen. Eine Definition ist dann sinnvoll, wenn sie als Basiskonsens einer Gegenstandsbeschreibung zwischen Kommunikationspartnern dient und damit eine Wissensbildung bzw. -vermittlung über den jeweiligen Gegenstand befördert.

Dieses Buch folgt nicht dem in Teilen der deutschen Medienwissenschaft anzutreffenden Trend, den Medienbegriff im Sinn der ursprünglichen lateinischen Bedeutung als »Mittel, etwas Vermittelndes« auf einer sehr hohen begrifflichen Syntheseebene zu fassen. Wenn man mit einem derart abstrakten Medienbegriff arbeitet, wird der Gegenstand der Medienwissenschaft unscharf, da Urknall und Mode, Geld und Luft, Rundfunk und Liebe nur so viel miteinander zu tun haben, dass sie »etwas vermitteln«. Je unpräziser der Medienbegriff definiert wird, desto rätselhafter wird, was der Gegenstand der Medienwissenschaften (und damit auch der der Medienhistoriografie) ist. Je unklarer die Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs einer wissenschaftlichen Disziplin jedoch ist, desto weniger relevant dürfte diese Disziplin für die Gesellschaft sein.

[17]Als Medien werden in diesem Buch technische Verbreitungsmittel von Informationen von Mensch zu Mensch, ihre Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen, verstanden. Als technische Mittel gelten hier von Menschen gemachte, aus Werkstoffen bestehende Systeme (wie z. B. Druckerpresse, Filmkamera und -projektor, Fernseher, Smartphone, Computer), die mechanisch, elektrisch oder elektronisch funktionieren. Der Informationsbegriff wird hier semantisch definiert; eine Information ergibt für Produzenten und Rezipienten »Sinn«. Es geht also um die nachrichtentechnische Übertragung von Bits und Bytes nur insofern, als damit eine codierte Bedeutung übertragen wird. Die Information hat für die Produzenten und Rezipienten eine Bedeutung wobei es nur darum geht, dass der Empfänger die Botschaft versteht, nicht um deren Wert für den Empfänger. Weder muss eine Information den Empfänger interessieren noch muss er mit ihr einverstanden sein.

Im Folgenden soll die Definition hinsichtlich ihrer drei Teilaspekte, der Technologie, Nutzungsform und Institution, erläutert werden. Als Medientechnologien werden alle technischen Mittel bezeichnet, die zur Übermittlung von Informationen zwischen Menschen dienen. Im Vergleich zum Begriff Technik wird der Begriff Technologie hier als ein Begriff auf einer höheren Syntheseebene verwendet. Als Technologie (altgr. téchne »Fähigkeit, Kunstfertigkeit, Handwerk« und lógos »Lehre, Vorgehensweise«) wird hier nicht die Lehre der Technik, sondern die Anwendung von komplexen Techniken verstanden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. So bedient sich etwa die klassische Filmtechnologie physikalischer, chemischer und wahrnehmungspsychologischer Kenntnisse, um mittels diverser Techniken wie des intermittierenden Filmtransports eine Bewegtbildaufnahme bzw. -wiedergabe zu erreichen. Der Begriff Technologie tritt im Deutschen meist in Wortkombinationen auf, etwa bei Gentechnologie, Biotechnologie oder Medientechnologie, und bezeichnet komplexe Techniken, die in diesen besonderen Bereichen zur Anwendung kommen, um bestimmte Probleme zu lösen.

 

Technologien wie der Druck, der Film und der Rundfunk sind in diesem Sinn Medientechnologien, da mit ihnen Informationen verbreitet werden. Als Druck bezeichnet man die Reproduktion von Texten oder Bildern durch Übertragung von Druckfarben mittels einer Druckform auf einen zu bedruckenden Stoff (wie Papier). Als Film werden sequenziell, auf einer mit einer lichtempfindlichen Emulsion beschichteten, transparenten Folie aufgenommene Bilder verstanden, die so wiedergegeben werden, dass eine perfekte Bewegungsillusion entsteht. Unter Rundfunk versteht man die Übertragung von Tönen, unter Fernsehen die Übertragung von Bildern mittels elektromagnetischer Wellen, wobei der Rezipient sie in dem Moment empfängt, in dem sie gesendet werden.

Ein Problem solcher Definitionen ist, dass sie sich selbst mit dem Wandel der Medientechnologien verändern können. Filme werden heute überwiegend digital[18] und nicht mehr auf lichtempfindlichen Folien, den Filmstreifen, aufgenommen, und Fernsehbilder werden nicht mehr analog, sondern digital als Nullen und Einsen codiert, gesendet und decodiert. Das Verständnis solcher Definitionen wird zudem dadurch erschwert, dass mit den Begriffen Film, Rundfunk und Fernsehen heute kaum mehr die Medientechnologien, sondern vielmehr die Mediennutzungsformen bzw. -institutionen assoziiert werden. Ist vom Film die Rede, denken wir heute in erster Linie an den abendfüllenden Spielfilm, dessen Entstehung und Etablierung in Kapitel 8 behandelt wird, und kaum mehr an die Medientechnologie, ohne die diese Nutzungsform nicht hätte entstehen können.

Harry Pross differenziert Medien danach, ob sich nur der Sender oder auch der Empfänger einer Technologie bedient:

»Wir nennen Sekundärmedien solche Kommunikationsmittel, die eine Botschaft zum Empfänger transportieren, ohne dass der ein Gerät benötigt, um die Bedeutung aufnehmen zu können, also Bild, Schrift, Druck, Graphik, Fotographie, auch in ihren Erscheinungen als Brief, Flugschrift, Buch, Zeitschrift, Zeitung – alle jene Medien also, die nach einem Gerät, der Druckerpresse, als Presse im weitesten Sinn bezeichnet werden.«8

Als tertiäre Medien fasst Pross Telegrafie, Film, Radio und Fernsehen zusammen:

»Eine dritte Gruppe, bei deren Gebrauch sowohl Sender wie Empfänger Geräte benötigen, beginnt mit der elektrischen Telegraphie und umfasst die elektronischen Kommunikationsmittel. Sie heißen tertiäre Medien.«9

Als primäre Medien, bei denen keiner der Kommunikationspartner technische Hilfsmittel benutzt (z. B. ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht), bezeichnet Pross alle »Mittel des menschlichen Elementarkontaktes« wie Sprache, Weinen und Lachen. Primäre Medien sind im oben definierten Sinn jedoch keine Medien, da sie keiner Technologie bedürfen.

Der Begriff der Medientechnologie kann auch in anderer Hinsicht weiter ausdifferenziert werden: Alle Medientechnologien verbreiten Informationen, nur einige können sie jedoch auch speichern oder verarbeiten. Technische Verbreitungsmittel von Informationen lassen sich hinsichtlich der Frage differenzieren, ob sie nicht nur der Verbreitung von Informationen dienen, sondern darüber hinaus auch ihrer Speicherung bzw. Verarbeitung. Mit dem Computer lassen sich Informationen, die über das Internet übermittelt werden, auch verarbeiten, indem man mit den übermittelten Daten etwa eine Tabellenkalkulation durchführt. Mit Film kann man Bilder speichern, die Übertragungstechnik Fernsehen speichert dagegen keine Bilder – hier sind zusätzliche Technologien zur Aufzeichnung erforderlich wie der Film bzw. der Videorekorder, der erst nach der Etablierung des Fernsehens als Institution entwickelt wurde. Speicherung und Verarbeitung sind[19] also keine notwendigen Bedingungen, um eine Technologie als Medium zu bezeichnen.

Folgt man der oben gegebenen Definition des Begriffs Medien, sind nicht alle Technologien auch Medientechnologien. Die Brille, das Fernglas, das Nachtsichtoder Hörgerät zum Beispiel, die in Teilen der Medienwissenschaften als Medien verstanden werden, sind keine Medientechnologien, da mit ihnen keine Informationen zwischen Menschen vermittelt werden. Sie lassen sich besser als technische Hilfsmittel der Wahrnehmung begreifen, die die eigene Sinneswahrnehmung optimieren. Wer kurzsichtig ist, braucht eine Brille, um Dinge, die nicht im unmittelbaren Nahbereich liegen, klar sehen zu können. Wer gut sieht, aber auch nachts im Dunkeln den Überblick bewahren muss (wie zum Beispiel die Polizei oder Naturforscher), bedient sich eines Nachtsichtgeräts, um die visuelle Wahrnehmung zu verbessern.

Auch Sprache und Schrift dienen dazu, Informationen zwischen Menschen zu vermitteln. Sie sind jedoch im definierten Sinn deshalb keine Medien, weil sie für die Übermittlung von Informationen nicht auf eine Technologie angewiesen sind. Sprache und Schrift sind symbolische Repräsentationssysteme;10 Sprache arbeitet mit lautlichen Symbolen, Schrift mit visuellen. Wie Medien sind Sprache und Schrift menschengemacht und zudem gesellschaftlich-kulturell differenziert. Es gibt eine große Sprachenvielfalt und eine deutlich geringere Vielfalt bei den Schriftsymbolen. Auch wenn Sprache und Schrift im hier definierten Sinn keine Medien sind, so ist eine Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz oft eine entscheidende Voraussetzung medialer Kommunikation. Man muss lesen können, um ein Buch zu verstehen, und man muss die Sprache verstehen, in der es geschrieben ist, um die Botschaft entschlüsseln zu können. Man muss die Sprache(n), die der Adressat versteht, beherrschen, damit die E-Mail, die man schreibt, auch verstanden wird.

Als Medien werden in diesem Buch nicht nur technische Verbreitungsmittel von Informationen von Mensch zu Mensch verstanden, sondern auch deren Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen. Mediennutzungsformen sind kulturell klar definierte Verwendungsweisen von Medientechnologien. Nutzungsformen der Medientechnologie Druck sind zum Beispiel die Zeitung und die Zeitschrift, wohingegen der Spielfilm eine Nutzungsform der Medientechnologie Film und die Nachrichtensendung des Hörfunks eine Nutzungsform der Medientechnologie Rundfunk darstellt.

Man kann Nutzungsformen unterschiedlicher Ordnung unterscheiden. Das Buch ist eine Nutzungsform der Technologie Druck, Roman und Sachbuch wiederum unterschiedliche Formen des Buchs. Eine Nutzungsform der Technologie Film ist der Spielfilm, bei dem sich wiederum verschiedene Genres wie zum Beispiel Komödien, Thriller oder Kriminalfilme unterscheiden lassen. Diese lassen sich wiederum in verschiedene Subgenres differenzieren, Komödien etwa in Slapstick,[20] Screwball-Komödien und Verwechslungskomödien. Welche Nutzungsformen sich herausbilden, ist von der Nachfrage der Mediennutzer abhängig und damit kulturell und zeitlich differenziert. So bildet sich das Genre der Screwball-Komödie mit Filmen wie IT HAPPENED ONE NIGHT (1934) und ARSENIC AND OLD LACE (1944) in den Vereinigten Staaten von Mitte der 1930er- bis Mitte der 1940er-Jahre aus.

Damit eine Medientechnologie unterschiedliche Funktionen wie zum Beispiel Kommunikation oder Unterhaltung übernehmen kann, muss sie institutionalisiert werden. Als Medieninstitutionen werden gesellschaftliche Einrichtungen wie das Kino, das Fernsehen oder das Internet bezeichnet, die Verwendungsweisen der Medientechnologie wie Nutzungs- und Programmformen definieren. Indem die Institutionen die Verwendungsweisen der Medientechnologie definieren, lenken sie das Verhalten der Medienproduzenten und -nutzer. Sie legen ihren Handlungsrahmen fest und damit ihre Möglichkeiten, mit den Medientechnologien bzw. -nutzungsformen umzugehen.

Medieninstitutionen bringen Nutzungsformen hervor und verwenden diese aus unterschiedlichen Gründen, also z. B. um Geld zu verdienen, Menschen zu unterhalten und zu informieren oder um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen auszutauschen. Indem sie Medientechnologien und -nutzungsformen in einer bestimmten Art verwenden, entstehen klar konturierte soziale und kulturelle Profile der Institutionen. Die Zeitung etabliert sich als Nachrichtenmedium, der Film als Unterhaltungsmedium und das World Wide Web als multimedialer Dienst (mit Text-, Bild- und Tondokumenten).