Umverteilung neu

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Umverteilung neu
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Josef Taus • Oliver Tanzer




Cover

Titel

Vorwort: Die Krise – ein Symptom

TEIL I Die Geschichte der Umverteilung und ihr modernes Erbe

Es begann mit einem göttlichen Fluch

1. Kapitel: Die griechische Idee

Die Erfindung des gerechten Staates

2. Kapitel: Das christliche Fundament

Das römische Verteilungssystem und der Aufstieg des christlichen Gesellschaftsmodells

3. Kapitel: Von Mammon und Hölle

Thomas von Aquin und seine Schüler suchen nach einer Synthese von Wirtschaft und Gerechtigkeit

4. Kapitel: Ein Utopia gegen die Wirklichkeit

Mit der Renaissance erhält die Welt ein neues Ziel: den Idealstaat

5. Kapitel: Fortschritt und Elend

Die Erben von Thomas Morus: Karl Marx und die französischen Sozialisten und Utopisten

6. Kapitel: Die Schöpfung des Kapitalismus

Adam Smith und die Entstehung des liberalen Kapitalismus

7. Kapitel: Von Arbeit und Konsum

Wie Arbeit und Eigentum die Verteilung der Güter prägen

8. Kapitel: Die Vergessenen der Globalisierung

Warum die Suche nach globaler Verteilungsgerechtigkeit einen falschen Weg geht

9. Kapitel: Der ewige Streit um den Staat

Die Auseinandersetzung um die Rolle des Staates in der Wirtschaft verläuft entlang 200 Jahre alter ideologischer Bruchlinien

10. Kapitel: Chancen der Synthese

Plädoyer für eine neue Sicht der Ökonomie

TEIL II Ideen für die Zukunft des Finanzsystems

Großer Fortschritt braucht kleine Schritte

11. Kapitel: Was bleibt vom Neoliberalismus?

Gibt es einen neuen Neo-Keynesianismus oder herrscht Pragmatismus?

12. Kapitel: Die gegenwärtige Krise

Eine von vielen – ist sie bewältigt?

13. Kapitel: Das Finanzsystem

Seine Funktion und seine Schwächen

14. Kapitel: Hüter der Realwirtschaft

Das Finanzsystem hilft Unternehmen – kann sie aber auch gefährden

15. Kapitel: Wie geht es weiter mit dem Finanzsystem?

Möglichkeiten einer grundlegenden Reform

16. Kapitel: Währungspolitik

Instrumente der Geldpolitik

17. Kapitel: Der Überlebenskampf des Euro

Kann die gemeinsame Währung bestehen?

18. Kapitel: Und alles trägt der Mittelstand

Die unbedankte Funktion der echten Wertschöpfer

19. Kapitel: Eine neue Vermögenspolitik für Bürgerinnen und Bürger

So funktioniert ein Stabilitätspakt für Sparer und Wirtschaft

20. Kapitel: Ein Weg für Österreich

Möglichkeiten für eine Sozialbindung des Eigentums

21. Kapitel: Resümee

Die verbindende Moral

Anhang

Expertise der RA-Kanzlei Wildmoser/Koch & Partner zu Basel III

Literatur

Endnoten

Glossar

Register

Weitere Bücher

Impressum

Fußnote

Vorwort
Die Krise – ein Symptom

„Die Krise ist überstanden“, so schallt es allenthalben aus den Medien und freudig aus dem Mund manches Politikers. Die Krise ist überstanden? Ja, wenn man damit meint, dass es der Konjunktur wieder besser geht. Aber wie aussagekräftig sind Konjunkturdaten und Börsenentwicklungen, wenn es um das Große und Ganze unserer Wirtschaft und Gesellschaft geht? Wenn es um Griechenland, Portugal und Irland geht? Oder wenn man auf Spanien blickt, das mit chinesischen Staatsfonds seine Sparkassen stützt?

Wer jemals Zeuge von Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise war, weiß um den Verlauf solcher Debatten. Sie beginnen bei den Problemen der Finanzwirtschaft und enden in Besorgnis über unser wirtschaftlichdemokratisches System als Gesamtes.

Es offenbart sich da eine tiefe Ahnung, dass etwas nicht stimmt in unserem Zusammenleben und dass die Krise der Finanzmärkte letztlich nur das Symptom einer schweren Krankheit ist, die unser Gemeinwesen erfasst hat. Dann wird vom Prinzip des Egoismus und von der Gier gesprochen, von der ungleichen Vermögenszuteilung, von der Bereicherung der Eliten und vom bedauernswerten Zustand des Staates und der Politik, die beide, so die gängige Analyse, ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.

Diese Pflichten bestünden darin, die Kohäsion, den Zusammenhalt der Gesellschaft, zu fördern, indem alle Bürgerinnen und Bürger – gleich welcher Herkunft – mit Chancen ausgestattet werden, sich in dieser Gemeinschaft zu verwirklichen. Es geht aber auch um die Verteilung der gemeinsamen Güter unter der Bedachtnahme, dass nicht der eine viel zu viel, der andere aber trotz Arbeit gar nichts habe – weder Vermögen noch Rechte.

Wir sind nicht die erste Generation, die sich in einer existenziellen und moralischen Krise wähnt. Die abendländische Geschichte ist voll von solchen Krisen – aber auch von Konzepten und Ideen zu ihrer Beseitigung. Sie haben ihre Wurzeln teilweise im antiken Griechenland und sind bis heute wirksam. Wir wollen die bedeutendsten von ihnen im ersten Teil des Buches vorstellen.

Platon und Aristoteles bilden den Ausgangspunkt. Ihr Einfluss reicht weit über das Mittelalter hinaus: bis zu den ersten Kapitalisten und – auf der anderen Seite – bis zu den utopischen Sozialisten und Karl Marx. Der Leser wird entdecken, dass einige der bekanntesten ökonomischen Schriften vorsätzlich missverstanden, sinnentstellend interpretiert oder ganz einfach verdrängt wurden – zumeist aus ideologischen Gründen. Er wird aber auch entdecken können, dass viele dieser Ideen heute aktueller wären denn je.

So wie wir in den vergangenen Jahrhunderten die Frage der Gerechtigkeit und der Verteilung innerhalb eines Staates diskutierten, so müssen wir heute auch die Globalisierung und ihre Wirkung auf die weltweite Verteilung der Güter betrachten. Denn das Ungleichgewicht, das von jeher zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen besteht, vergrößert sich tendenziell, anstatt sich zu vermindern. Wir haben es also mit einem doppelten Verteilungsdrama zu tun: einem nationalen und einem globalen.

Diese Kapitel werden Basis und Anregung bieten für eine Auseinandersetzung mit Politik und Finanzwirtschaft der Moderne, die den zweiten Teil des Buches bildet. Welche Änderungen in Staat und Wirtschaft sind notwendig, um die Zukunft zu meistern? Welche Reformen braucht das System, um seine Ziele der gesellschaftlichen Kohäsion wieder erfüllen zu können? Wie können vor allem jene wieder gefördert und gestärkt werden, die den Löwenanteil zum Reichtum durch ihre tägliche Arbeit beitragen: die Unternehmer sowie die Arbeiter und Angestellten der Realwirtschaft? Wie kann dieser Mittelstand gefördert und vergrößert werden? Was kann die Finanzwirtschaft zu einer gerechten Verteilung von Chancen und Gütern beitragen? Die im zweiten Teil enthaltenen Antworten auf diese Fragen und konkrete Vorschläge sollen Anhaltspunkte für ein Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts bilden. Denn wir wollen nicht den Pessimismus zum Leitmotiv unserer Überlegungen machen. Für Österreich lässt sich doch sagen, dass wir – ökonomisch – noch nie in einer so guten Situation waren. Leider halten viele die gegenwärtigen Zeiten für schlechte. Was wir aber wollen, ist einige Ideen vorstellen, die für manche der offenen Fragen Lösungsansätze bieten. Wir betreiben also vorsichtigen Optimismus – auch wenn’s manchmal nicht ganz leicht ist.

 

Oliver Tanzer

Josef Taus

Wien, Mai 2011


Es begann mit einem göttlichen Fluch

Plutos, der Gott des Reichtums, wurde geboren aus Wollust und Mord. Die Göttin der Fruchtbarkeit, Demeter, verfiel während eines Festes der Himmlischen dem Charme und der Schönheit des Titanen Iasion. Ein frisch gepflügtes Feld war das Bett, auf dem die beiden Plutos zeugten. Die Erde an ihrem Rücken aber verriet Demeter, als sie in den Kreis der Götter zurückkehrte. Zeus entdeckte das Verhältnis und tötete Iasion mit einem Blitz. Das Kind der Demeter aber blendete er. So klammert sich der kleine Plutos an sein Füllhorn, randvoll mit den Reichtümern der Erde. Und er verschüttet sie blind und ohne Ansehen der Verdienste über einzelne Menschen.

Der Autor, der vor gut 2600 Jahren diese Sage erfand, hatte einen tiefen poetischen Sinn für verborgene Schatten der Psyche und gleichzeitig die hellste Klarsicht über die ehernen Gesetze gesellschaftlicher Realität: die Sucht und das Verlangen, aus denen Reichtum entsteht, die natürlichen Ressourcen der Erde, aus denen er sich speist, die Willkür, mit der er sich fortpflanzt.

Aus diesen Komponenten werden wir im Folgenden das Problem der Verteilung herausschälen. Dies und die Frage, welche Rolle dabei das Gemeinwesen einzunehmen hat, sind die Kernfragen der menschlichen Gesellschaft. An ihr entzünden sich seit mehr als 2000 Jahren Intrigen, Aufstände, Kriege und Revolutionen.

Lange schien das Problem nicht aktuell zu sein – zumindest nicht für die reichen Teile der Menschheit. In einer Gesellschaft des überbordenden Konsums und des scheinbar unbegrenzten Wachstums hatte ein jeder sein Auskommen – und sehr viele hatten sehr viel mehr als das. Nun aber fallen die Schatten der Globalisierung und der Wirtschaftskrise auf uns. Das ändert das Bild. Brüche werden sichtbar und Sprünge klaffen in der scheinbar heilen kapitalistischen Fassade.

Die Sicherheit als Grundpfeiler, der allgemeine Reichtum als Substanz, das solide Sozialgefüge als Polster der Gesellschaft scheinen verloren zu gehen. Warum ist das so? Gibt es Lehren und Modelle, die zu einem gerechteren Miteinander führen würden, die gleichsam Plutos die Augen öffnen könnten?

Auf den folgenden Seiten werden wir einige von ihnen vorstellen. Platon und Aristoteles suchen wir im antiken Athen auf, Thomas von Aquin im mittelalterlichen Paris, Adam Smith im schottischen Glasgow des 18. Jahrhunderts – um nur einige zu nennen. Die Werke der großen Wirtschaftsdenker sollen auf die Themen Arbeit, Zins, Geldwirtschaft und Gerechtigkeit hin durchforstet werden.

In diesem Sinne begeben wir uns auf eine Reise durch die Geschichte der Verteilung von Gütern und Chancen, die im Zentrum der abendländischen Welt um 500 v. Chr. beginnt: in Griechenland – nur einen historischen Wimpernschlag nach dem Sündenfall Demeters und Iasions. Dort öffnet sich ein Kosmos des politischen Denkens, der die schönsten, manchmal seltsamsten und bizarrsten Blüten treibt, welche – ehe sie zugrunde gehen – ihre Samenkörner über das gesamte Abendland ausstreuen.


Speckbrei und Hunger

In Athen, dem Mittelpunkt der griechischen Antike, heißt es nun Anker werfen. Als Berater und Führer durch diese Zeit wird uns Diogenes zur Seite stehen, landläufig bekannt als schrulliger Mann, der aus einem Fass heraus Alexander den Großen anschnauzte, ihm gefälligst aus der Sonne zu gehen. Was ihn für unsere Zwecke besonders geeignet macht, ist, dass er auch selbst einiges von Wirtschaft verstand. Er war der Spross eines Finanzbevollmächtigten und Bankiers in Sinope am Schwarzen Meer. Vater und Sohn waren aber auch mit der künstlichen Vermehrung von Geld beschäftigt – sie wurden jedenfalls wegen Falschmünzerei angeklagt und aus der Stadt gejagt. Diogenes hat daraus die Konsequenz gezogen, fortan arm zu bleiben. Geldgier, so meint er, ist „die Metropole aller Übel“.1

Mit krummem Rücken schreitet er uns nun voran, alles und jedes kritisierend, mit allem und jedem seinen Spott treibend. Das Erste, wovor er uns warnt, ist, sich unter den alten Griechen eine Ansammlung hoch kultivierter Damen und Herren in blütenweißen Togen am azurblauen Meer vorzustellen. In Wahrheit seien sie verrottet, eitel und verroht, wie die Tiere, meint Diogenes. Zur Unterstreichung dieses Urteils geht er an manch sonnigem Tag mit einer entzündeten Öllampe über den dicht belebten Marktplatz von Athen. Sobald jemand an ihn herantritt und fragt, was er denn da treibe mit seinem Licht, antwortet er: „Ich suche Menschen.“2 Alles Tiere also? Diogenes übertreibt und karikiert, doch der wirtschaftliche Zustand dieser ersten Demokratie ist tatsächlich alles andere als erhaben. Extreme Güterknappheit prägt die Ökonomie. Wer gut bürgerlich wohnt, tut das in primitiven, fensterlosen Häusern, gebaut aus Holzrahmen und Lehmziegeln, mit einem von Säulen umrahmten Vorhof. Im Haus ist auch das Vieh – zumeist Rinder und Schweine – untergebracht. Die öffentlichen Bäder der Zeit gleichen eher Kaltwasser-Kneippanstalten als Warmwasser-Thermen und scheinen in einem teilweise erbärmlichen sanitären Zustand zu sein. „Wo säubern die sich, die sich hier säubern?“, fragt Diogenes.3

So karg die Häuser und Wascheinrichtungen sind, so dürftig ist es auch um die lebensnotwendigen Güter bestellt. Mangel ist ein ungebetener Dauergast in den städtischen Kornkammern. Per Gesetz ist deshalb für alle Athener die Ausfuhr von Getreide verboten, und ein ganzer Beamtenapparat überwacht Qualität, Menge und Preis des Mehls. Jedes Handelsschiff, das Piräus mit den üblichen athenischen Exportgütern (Textilien, Eisenwaren, Waffen, Handwerkszeug, Kunstgegenstände) verlässt, ist angehalten, mit Korn beladen wiederzukehren. Der Mangel macht das tägliche Brot auch extrem anfällig für Inflation und Spekulation: Jedes Gerücht von einem ausgefallenen oder verunglückten Transport lässt die Brotpreise oft um bis zu 30 Prozent pro Tag ansteigen.

An einer Vielzahl historischer Quellen lässt sich ablesen, wie sparsam die Athener leben mussten. Eine einzige Mahlzeit pro Tag dürfte die Regel gewesen sein. Bezeichnend deshalb auch die bescheidenen Wunschvorstellungen der Bürger: In dem von den Dichtern der Zeit entworfenen „Schlaraffenland“ altgriechischer Prägung fliegen keine luxuriösen Bratgänse durch die Luft. Der Komödiendichter Pherekrates kann seine Landsleute noch mit der Vorstellung eines „nie verebbenden Stromes von Brühe und Speckbrei“ begeistern, den er durch die Straßen wallen lässt.4

Wo die Bedürfnisse oft schon am Lebensnotwendigen scheitern, dort wird umso auffälliger, wer sich viel mehr als das Notwendigste leisten kann. Athen ist nicht nur voll von Bettlern, auch „Hunde“ genannt, sondern auch Wirkungsstätte zwar weniger, dafür umso reicherer Menschen. Die Konzentration von Grund und Vermögen in der Hand weniger führt immer wieder zu Revolten. Schuldknechtschaft und Kredite, mit Zinsen jenseits der zwölf Prozent, scheinen schon seit dem Beginn des hellenischen Geldwesens5 eines der drückendsten gesellschaftlichen Probleme gewesen zu sein. Der Schweizer Historiker Jacob Christoph Burckhardt (1818– 1897) berichtet von den „Pyramiden aus Schuldsteinen“, die sich auf den Feldern erhoben, zum Zeichen der Hypotheken, welche auf den Grundstücken lasteten. Wer kein Land mehr zu beleihen hat, verpfändet den eigenen Körper, was zu einem tausendfachen Aderlass führt, da Schuldknechte wie Tiere gehandelt und als Zwangsarbeiter ins Ausland verkauft werden.

Schon der erste Verfechter wirtschaftlicher Rechtschaffenheit und Arbeit, Hesiod, beklagt in seinem Lehrstück Werke und Tage um 700 v. Chr. die Verworfenheit des Menschengeschlechts und sieht für die Zukunft tiefschwarz, nachdem Pandora, so Hesiod, von Zeus gesandt, ihre Büchse geöffnet und alle Übel über die Menschheit ausgegossen hat: „Das Recht liegt in den Fäusten. Der Schurke schädigt den Ehrenmann mit krummen Worten und schwört Meineid, Neid wird alle Menschen begleiten, lärmend, hämisch, Hass im Blick. Da nun verlassen Anstand und Ehrgefühl die Menschheit und gehen beide von der Erde zum Olymp. Übrig bleiben den sterblichen Menschen nur bittere Schmerzen und nirgends ist Abwehr des Unheils […] Davor nehmt euch in Acht ihr Könige und Gabenfresser!“6

Immerhin könne sich die Menschheit aus eigener Kraft vor dem moralischen Niedergang retten: durch Arbeit, Rechtschaffenheit und Fleiß. „Vor das Gedeihen haben die Götter den Schweiß gesetzt“, warnt der Dichter, „dem aber zürnen die Götter, der faul dahinlebt, nach Art der stachellosen Drohnen, die faule Prasser sind und den mühsam geernteten Honig verfressen.“7

Diese gut gemeinten Ratschläge scheinen kaum Auswirkungen auf das reale Leben gehabt zu haben. Etwa einhundert Jahre nach Hesiod deklamiert der Dichter Theognis von Megara: „Der Pöbel verführt das Volk, gewährt das Recht den Ungerechten, sei’s um den eigenen Gewinn, sei’s um den Genuss der Gewalt.“8 Selbst der Kriegerstaat Sparta scheint seiner sprichwörtlichen Zucht abhold und dem Mammon verfallen zu sein. Tyrtaios, ein spartanischer Staatspoet, klagt bitter: „Geldgier ist’s, die Sparta zerstört, nichts anderes weiter.“

Verfassung gegen Ungerechtigkeit

Aus der gesellschaftlichen Schieflage scheint zumindest in Athen die Erkenntnis zu wachsen, dass es einer grundlegenden Änderung bedürfe: Im Jahr 594 v. Chr. entsteht die erste Verfassung mit dem Ziel der „Eunomia“, der Wohlgesetzlichkeit. Ihr Verfasser ist Poet und nüchterner Staatslenker in einer Person. Die Athener nennen ihn auch den „Versöhner“: Solon9, der Sohn des Exeketides aus Salamis. Seine Rechtsvorlesungen sind Lehrgedichte, so wie das folgende über die triste soziale Lage:

Die Bürger selbst in Unverständnis zerstören

Unsere herrliche Stadt, schnorriger Habsucht voll.

Ungerecht ist der Sinn der Bürger und ihrer Führer

Die, in Sünden verstrickt, leichtsinnig Drangsal erleiden.

Und Solon zur notwendigen Reform:

Solches gebeut mir der Geist, dem athenischen Volke

zu lehren,

wie viel Leiden dem Staat schlimme Verfassung aufzwingt.

Eunomia jedoch bringt gefügte Ordnung zum Lichte,

Fesseln legt sie auf, denen, die Unrecht bejah’n,

ebnet, was rau, und bannt in Schranken

schändlichen Hochmut.

Unheilsblüten jedoch machet sie sprossend schon welk,

hämmert gerad das verbogene Recht und beseitigt

 

den Ingrimm,

der aus innerm Zwist unter Bürgern entstand,

so entsprießt ihr dann verständige Eintracht der Menschen.

Man möchte nicht glauben, wie groß die praktischen Auswirkungen sind, die diese blumigen Worte haben: Solon kassiert alle Schuldforderungen und befreit die Schuldner von der Knechtschaft. Alle Zwangsarbeiter, die ins Ausland verkauft worden waren, werden auf Staatskosten zurückverhandelt.10

Ferner verbietet er den Kredit mit Leibesbesicherung und führt eine Höchstgrenze für Grundbesitz ein, dazu noch das Erbrecht auf Basis des freien Testaments. Geschworenengerichte sprechen nun Recht, die Bürgerversammlung wird geschaffen, das spätere Zentralorgan der Demokratie.

Bei allem Fortschritt ist Solon skeptisch, was die gesetzliche Verordnung des Guten bewirken mag. Denn wirklich zwingend sei die Ordnung nur für die Armen. Reiche und Mächtige könnten das Recht leicht in ihrem Sinne verdrehen. „Gesetze sind gleich Spinnweben. Sie halten etwas Leichtes und Schwaches fest, während etwas Größeres sie durchschlägt und davonkommt.“ Gegen dieses Größere arbeitet er über zwanzig Jahre lang mit aller Kraft und muss schließlich nach Kilikien emigrieren, als der Tyrann Peisistratos in Athen die Macht ergreift.

So durchdacht Solons Reformen im Bereich der Justiz auch erscheinen, sie berühren jenen Teil der gesellschaftlichen Ordnung kaum, der den eigentlichen Grund für die Missstände bildet: die Erwerbstätigkeit und den Handel mit Gütern.

Hesiods Bild von Arbeit, Schweiß und göttlichem Lohn war weder bei den Staatslenkern noch bei Privatpersonen gefragt. Als „Banausen“ verspotten die Griechen jene Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Sie lassen vielmehr Sklaven arbeiten.

Die Staatseinnahmen werden aus den Erträgen der staatlichen Silbergruben von Laurion lukriert und zum Teil auch durch fragwürdige Privatisierungen. So verkauft die Polis ihre Wegerechte und Zölle an Unternehmer zu einem festgesetzten Betrag. Die wiederum vergeben Lizenzen teurer an Subunternehmer, welche nichts Besseres zu tun haben, als den Wegzoll kräftig in die Höhe zu schrauben, um selbst auch noch zu verdienen. So kam es, dass der Zöllner bald so beliebt war wie ein Straßenräuber – vermöge ähnlicher Tätigkeit – und diesen Ruf bis ins Spätmittelalter behalten hat.

Die von Perikles (500 – 429 v. Chr.) eingeführte Bezahlung von Theatergeld und Sold für die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen festigt zwar die Beständigkeit der Demokratie, plündert aber die Staatskassen. Aus dem chronischen Geldmangel entstehen fragwürdige Formen der Haushaltsfinanzierung: Reichen Bürgern wird unter dem Vorwurf des „Müßiggangs“ das Vermögen entzogen – und zwar per Volksentscheid durch das berüchtigte Scherbengericht (Ostrakismos). So öffnet die Gerichtsbarkeit in Händen einer von Demagogen geleiteten Plebs dem als Volksjustiz getarnten Faustrecht Tür und Tor. Aristophanes nennt das Volk einen „Wespenschwarm“, eine „Menge von ungezügelter Gier“. In der Endausbaustufe dieses korrupten Systems im 5. Jahrhundert halten sich Reiche zum eigenen Schutz bezahlte „Gegendenunzianten“, die im Fall des Falles den gierigen Angreifer selbst zum Objekt des Volkszorns machen sollen.

Dabei suchen einige Athener sehr wohl nach Finanzierungsalternativen für die öffentlichen Aufgaben. Der Politiker und Feldherr Xenophon11 erfindet staatliche Anteilscheine – und damit die schuldenfinanzierte Budgetpolitik: Mit den Erlösen einer Investitionsanleihe, so Xenophon, könne die Infrastruktur Athens ausgebaut werden. Weiters könnten 6.000 Staatssklaven gekauft werden, die man danach vermieten könne. Der Erlös aus diesem Sklavenleasing würde nach Xenophons Berechnung ausreichen, um jedem Vollbürger das Existenzminimum zu sichern.