Wach werden und unser Leben wirklich leben

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Jon Kabat-Zinn

Wach werden

und unser Leben wirklich leben




Jon Kabat-Zinn





Wach werden und unser Leben wirklich leben







Wie wir Achtsamkeit im Alltag praktizieren





Aus dem amerikanischen Englisch

von Stephan Schuhmacher

und Mike Schäfer









Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:



Falling Awake. How to Practice Mindfulness in Everyday Life

 bei Hachette Books, New York, USA.



Dieses Buch wurde erstmals 2006 als Teil des Buchs



„Zur Besinnung kommen“ im Arbor Verlag 2005 veröffentlicht.



1. Auflage 2019



© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg



Copyright der Originalausgabe © 2018 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D. This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA. All rights reserved.



Titelfoto: ©2019 Samuli

Vainionpää/gettyimages.de



Hergestellt von

mediengenossen.de



E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund,

www.readbox.net



Alle Rechte vorbehalten



E-Book 2020





www.arbor-verlag.de





ISBN E-Book 978-3-86781-302-0






für Myla







für Stella, Asa und Toby







für Will und Teresa







für Naushon







für Serena







in Erinnerung an Sally und Elvin







sowie Howie und Roz







und für all jene, denen das am Herzen liegt,







was möglich ist







was ist, wie es ist







die sich bemühen um







Weisheit







Klarheit







Güte







und Liebe






Inhalt



Vorwort Was meinen wir, wenn wir sagen, wir „kultivieren Achtsamkeit“?



Erster Teil

Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen



Sehen



Gesehen werden



Hören



Landschaften des Hörens



Landschaften der Luft



Landschaften des Berührens



In Fühlung mit deiner Haut



Landschaften des Riechens



Landschaften des Schmeckens



Landschaften des Geistes



Die Landschaft des Jetzt



Zweiter Teil

Sich auf die Praxis einlassen: Achtsamkeit kosten



Meditationen im Liegen



Meditationen im Sitzen



Meditationen im Stehen



Meditationen im Gehen



Yoga



Einfach wissen



Bloßes Hören



Bloßes Atmen



Die Meditation der liebevollen Güte



Mache ich es richtig?



Was uns häufig am Praktizieren hindert



Hilfen für Ihre Praxis



Danksagung



Literatur



Über den Autor




Vorwort



Was meinen wir, wenn wir sagen, wir „kultivieren Achtsamkeit“?



 Es ist keine Frage, dass Achtsamkeit eines der Dinge dieser Welt ist, das kontinuierlich in unser Leben einzubeziehen uns Menschen enorm schwerfällt (obwohl sie ja kein „Ding“ ist). Und das, obwohl wir sie kosten können und diesen Geschmack sofort wiedererkennen. Jedes Mal.



Die Einladung lautet immer gleich: Halte einen Moment inne – nur einen Moment – und lass dich in die Wachheit

hineinfallen.

 Das ist alles. Halt inne und lass los: soll heißen, falle in das Erleben deines Daseins und halte es im Gewahrsein, auch wenn es nur ein winziger Moment ist. Augenblicklich – oder anders ausgedrückt: in diesem zeitlosen Moment namens „jetzt“ (dem einzigen Moment, den wir überhaupt jemals haben).



Glücklicherweise gibt es, wenn wir diesen Moment verpassen – weil wir von irgendetwas abgelenkt sind, in Gedanken oder Emotionen verstrickt sind, im Trubel all der Dinge, die scheinbar ständig irgendwie erledigt werden müssen –, den nächsten Moment, in dem wir wieder anfangen können. Anhalten und in die Wachheit fallen, in diesem Moment des Jetzt.



Es scheint so einfach. Ist es auch.



Aber es ist nicht leicht.



Mehr noch, und einmal anders betrachtet: Ein Moment der Achtsamkeit, mit keiner Agenda außer der, bewusst da zu sein, gehört für uns Menschen so ziemlich zu den am schwersten erreichbaren Dingen. Noch schwieriger ist es für uns, zwei Momente der Achtsamkeit aneinander zu knüpfen.



Und doch geht es bei Achtsamkeit paradoxerweise überhaupt nicht darum, irgendetwas zu tun. Im Gegenteil, sie ist ein Nicht-Tun, ein radikales Nicht-Tun. Und in jedem Moment des Nicht-Tuns liegen Friede, Einsicht, Kreativität und neue Möglichkeiten, trotz alter Denk- und Lebens-Gewohnheiten. Genau in diesem, in jedem Moment des Nicht-Tuns sind Sie bereits okay, bereits vollkommen, in dem Sinne, dass Sie vollkommen Sie selbst sind. Und deshalb sind Sie genau in diesem Moment bereits zu Hause, auf eine tiefreichende Art, viel tiefer als alles, was Sie über sich denken, tiefer als die Ideen und Meinungen, die Ihre Perspektive für das große Ganze prägen und manchmal schmerzhaft einengen. Ganz zu schweigen von Ihren eigenen Möglichkeiten, diese Ganzheit zu erleben und davon zu profitieren. Am interessantesten von allen ist die Erkenntnis, dass es keinen „anderen Moment“ zu einem anderen Zeitpunkt gibt – außer im Denken. In Wirklichkeit gibt es nur diesen einen Moment, um da zu sein.



All das bedeutet überhaupt nicht, dass Sie im praktischen Leben nichts geschafft kriegen. Im Gegenteil, wenn Ihr Tun wirklich aus Ihrem Sein kommt, wenn es wirklich ein

Nicht-Tun

 ist, ist es ein viel besseres Tun und viel kreativer, ja sogar müheloser, als wenn Sie sich ohne kontinuierliches, jeden Moment neues Gewahrsein abmühen, ihre Angelegenheiten auf die Reihe zu bringen. Wenn unser Tun unserem Sein entspringt, wird es ein integrales und intimes Element einer Liebesaffäre mit dem Bewusst-Sein selbst und mit unserer Fähigkeit, diesen Raum in unserem Geist und Herzen zu bewohnen; ihn mit anderen zu teilen, die sich ebenfalls auf diese Art zu leben eingelassen haben – potenziell also mit uns allen.



Und natürlich bedeutet all das überhaupt nicht – und das wird in den vier Bänden dieser Reihe ziemlich detailliert beschrieben –, dass immer angenehm sein wird, was Sie erleben, ob nun in der formellen Meditationspraxis oder in der Entwicklung Ihres Lebens. Kann es nicht sein und wird es nicht sein. Der einzige Grund, warum Achtsamkeit einen Wert hat, ist der: Sie ist voll und ganz dazu geeignet, mit jeder Erfahrung klug umzugehen, egal, ob angenehm, unangenehm oder neutral, erwünscht oder unerwünscht, womöglich auch grauenerregend oder unvorstellbar. Achtsamkeit ist fähig, sich jedem Leid frontal zu stellen und es anzunehmen (wenn und falls es Leiden ist, was Ihr Leben in einem bestimmten Moment gerade dominiert).



In der Schule lernen wir nicht viel über das Nicht-Tun, wenn überhaupt,

1

 aber die meisten von uns haben als Kind Momente eines radikalen Nicht-Tuns erlebt. Eigentlich sogar haufenweise. Manchmal kommen sie als Staunen. Manchmal kommen sie als Spiel. Manchmal entstehen sie als Fürsorge für andere, als ein Moment der Freundlichkeit.



Man könnte es auch so sagen: Bei der Achtsamkeit geht es um das Da-

Sein:

 „an-

wesen

-d sein“ sein wie in dem Wort „menschliches

Wesen“,

 und um das Leben, wie es ist, wie es sich hier und jetzt entfaltet und in Gewahrsein umfangen wird. Deshalb ist dazu praktisch keine Anstrengung nötig, weil es ja bereits geschieht. Nötig ist lediglich, im direkten Erleben dieses Augenblicks wohnen zu lernen, wie er auch immer sein mag, ohne dabei notwendigerweise zu denken, er „gehöre Ihnen“. Auch das „Ihnen“ ist ja letztendlich nur ein Gedankenkonstrukt, wenn Sie es unter das Mikroskop legen und untersuchen. Wenn Sie das tun, entdecken Sie vielleicht: Was Ihrer Meinung nach Ihre Persönlichkeit ausmacht, ist nur ein sehr kleiner und zumindest teilweise unzutreffender Ausschnitt dessen, was Sie tatsächlich sind. In einem einzigen Moment können Sie erkennen, wie riesig die volle Dimensionalität Ihres Wesens wirklich ist. Sie sind bereits ganz, bereits vollständig – so, wie Sie sind. Und gleichzeitig sind Sie Teil eines viel größeren Ganzen, wie immer Sie das auch definieren wollen. Und dieses größere Ganze, nennen wir es einmal „die Welt“, hat diese voll und ganz anwesende, selbstverwirklichte Version Ihrer bitter nötig!



Unsere Ganzheit manifestiert sich im Alltag als Wachheit, als reines Gewahrsein. Unser Gewahrsein ist eine angeborene menschliche Fähigkeit, aber eine, auf die wir kaum achten, die wir kaum würdigen oder zu bewohnen lernen. Ironischerweise aber gehört Sie Ihnen bereits, konventionell gesprochen. Sie wurden mit ihr geboren. Sie müssen sie also nicht erwerben, sondern sich einfach nur vertraut machen mit dieser Dimension Ihres eigenen Wesens. In Ihrer Fähigkeit zum Gewahrsein sind Sie „mehr Sie selbst“, und sie ist nützlicher als praktisch alles andere an Ihnen, einschließlich all Ihrer Gedanken und Meinungen (so wichtig Gedanken und Meinungen sein mögen, solange wir sie nicht glauben und an ihnen als absolute Wahrheiten festhalten).



Und weil das Paradoxe darin liegt, dass wir alle bereits wir selbst sind, in all unserer Fülle, bedeutet das: Im Kultivieren von Achtsamkeit gibt es buchstäblich kein Ziel zu erreichen, nichts zu tun und kein spezielles Erlebnis, das man haben sollte oder verpassen könnte. Die Tatsache, dass Sie in der Lage sind, überhaupt etwas zu erleben, ist an sich schon etwas Besonderes! Ironischerweise jedoch wird diese Tatsache kaum je erkannt, während wir jenem „ganz besonderen Etwas“ nachjagen, das uns irgendwie immer zu entschlüpfen oder uns zu enttäuschen scheint – vielleicht jenem perfekten meditativen Moment (in Ihrer Fantasievorstellung davon, was bei Meditation herauskommen müsste, wenn Sie sie „richtig“ machen würden).

 



Es gibt nichts zu erwerben, weil Ihnen nichts fehlt und nichts mangelt, auch wenn Ihnen die Gewohnheitsmuster Ihres Denkens und Haben-Wollens immer wieder etwas anderes erzählen. Sie sind bereits komplett, ganz, lebendig in diesem Moment und so, wie Sie sind, schön! „Verbesserungen“ sind weder notwendig noch möglich. Das ist alles!



Das Einzige, was uns entgeht,

ist die Erkenntnis,

 dass das Leben sich in diesem Moment tatsächlich entfaltet – in Form Ihrer Person, in Form meiner Person –, in jeder Dimension dieser Entfaltung in zeitloser Gegenwart, die wir „jetzt“ nennen; und das

Begreifen

 dieser Tatsächlichkeit, sodass sie erfasst und in ihrer ganzen Fülle Wirklichkeit wird. Dafür gibt es keine Worte, weil Worte, trotz aller Kraft und Schönheit wohlgesetzter Formulierungen, lediglich Elemente des Denkens

über

 Dinge sind und deshalb vom direkten Wahrnehmen immer einen Schritt entfernt. An diesem Punkt betreten wir das Reich reiner Dichtung, in dem wir Worte benutzen, um über Worte hinauszuweisen, um zu vermitteln, was in Prosa zu sagen nicht möglich ist. An diesem Punkt berühren wir auch das, was ein Kollege

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 bezeichnenderweise „implikative holistische Sinngebung“ nennt – etwas, das viel mehr einem direkten Fühlen ähnelt, einem Wissen, das uns in den Knochen steckt, im Herzen, weit entfernt von den Worten und Vorstellungen, die wir später vielleicht auf das Erlebnis anwenden. Vielleicht ist es letztendlich diese Fähigkeit, die uns aus Automaten in Menschen verwandelt. Und genau hier ist der Ort, an dem wir das Gebiet einer im ganzen Körper lebendigen Achtsamkeitspraxis betreten.



Das Geheimnisvolle am Gewahrsein ist, dass es wirklich und wahrhaftig jenseits aller Worte liegt. Es ist in unserem Wesen angelegt. Wir alle haben es bereits, haben es immer. Es ist uns näher als nah. Und doch habe ich, paradoxerweise, schon jetzt eine ganze Menge Worte gebraucht, um Sie zu einer Ahnung dessen zu verleiten, was Ihnen schon gehört, was Sie sind – was Sie in Wirklichkeit sind, einfach nur, indem Sie Mensch sind. Ich hoffe, dass dieses mein „Zeigen mit Worten“ bei Ihnen und in Ihnen Widerhall findet, auf einer tiefen intuitiven Ebene, weit weg von Worten und Geschichten.



Dieses Buch und die anderen in dieser Reihe sind voll mit Worten, mit Tausenden von Worten. Und doch sind sie alle nur Fingerzeige, Visierlinien, entlang derer Sie anpeilen, nachfühlen, nachspüren können, während Sie innehalten und loslassen, innehalten und loslassen, innehalten und ankommen, Moment für Moment. Wo? In dem, was gerade zur Hand ist, was relevant ist, Ihnen in diesem Moment ins Auge springt. In die Aktualität des Jetzt, der Dinge, wie sie sind.



Einfach? Ja! Können Sie das? Natürlich! Muss man dazu etwas machen? Eher nicht. Jein. Es sieht nur so aus, als müsste man etwas machen. Eigentlich geht es darum, ins Wachsein zu fallen. Und das ist, wie wir gesehen haben, eine Liebesaffäre mit dem, was ist, und mit dem, was im nächsten Moment möglich sein könnte, wenn wir bereit sind, im Jetzt voll da zu sein, ohne ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten oder darauf angewiesen zu sein.



Wenn Sie denken, bei der Meditation müsse man etwas machen, dann können Sie es auch bleiben lassen – es sei denn, Sie erkennen, dass in der scheinbaren Verrücktheit oder Sinnlosigkeit des Nicht-Tuns eine Methode liegt. In der alten chinesischen Zen-Tradition wird dies manchmal als „Methode, keine Methode zu haben“ bezeichnet. Dies ist der Punkt, an dem die Einheit zwischen dem instrumentellen Ansatz (etwas tun, etwas geschafft bekommen) und dem nicht-instrumentellen Ansatz (Nicht-Tun), die ich im ersten Band behandelt habe, ins Spiel kommt. Unsere angeborene Wachheit lässt sich nicht aufbauschen, lässt sich nicht verkaufen, lässt sich nicht korrumpieren. Sie kann nur aufgezeigt und erkannt werden. Und der einzige Weg, sie zu erkennen, ist: sich selber nicht im Weg zu stehen, sondern für einen Moment einfach innezuhalten und anzukommen. Innehalten und ankommen. Innehalten und ankommen.



Ein sehr praktischer Weg, das zu tun, führt über ein bewusstes Erleben der Sinneswahrnehmungen.



Wir können also experimentieren: Ist es uns möglich, genau jetzt, in diesem Moment, „bei Sinnen“ zu sein? Können wir hören – und zwar nur das, was auch wirklich zu hören ist? Können wir sehen – und zwar nur das, was auch wirklich zu sehen ist? Können wir fühlen – und zwar nur das, was auch wirklich zu fühlen ist? Ist es uns möglich, in der Tatsächlichkeit dieses jetzigen Moments aufzuwachen und in dem, was wir „unsere eigentliche Natur“ nennen könnten – was

hinter

 all unserem Denken, unseren Vorstellungen, Perspektiven, Weltmodellen, religiösen Lehren, Philosophien, unserer Bildung usw. liegt? Denn nichts davon ist unverzichtbar für den Prozess, in dem wir ins hellwache Dasein fallen – obwohl all diese Dinge natürlich paradoxerweise auf eine schöne Weise wichtig sein können, solange man sich nicht an sie klammert. Sich nicht zu identifizieren mit irgendetwas; nicht zu sagen: „Das bin ich, das gehört zu mir, das macht mich aus“: Das ist der Schlüssel. Denn wir haben im Grunde keine Ahnung (oder eben nur vage Ahnungen), worauf sich diese Personalpronomina der ersten Person eigentlich beziehen. Deshalb steht am Anfang und am Ende aller meditativen Übungen dieses: „Wer bin ich?“, und dann folgt das Innehalten und Ankommen in Gewahrsein, im Nicht-Wissen, hinter allem Denken. Innehalten und ankommen. Wann? Wenn Sie sich daran erinnern. Wie wäre es mit jetzt? Und jetzt? Und jetzt? Nichts muss anders werden. Sie müssen nichts tun. Nur sich erinnern.



*



Während die Welt immer komplexer wird, unsere Tage aus endlosen Listen von Dingen bestehen, die erledigt und abgehakt werden müssen, oder aus Momenten, in denen wir aufgefordert werden, nicht bloß herumzustehen, sondern etwas zu unternehmen – da ist es sehr leicht, sich immer mehr in den Narrativen im Kopf zu verlieren, den Erzählungen darüber, was eigentlich vor sich geht, wo unser Platz in all dem ist; darüber, wo wir dereinst landen werden oder anzukommen hoffen oder im Gegenteil fürchten, eben gerade nicht anzukommen – und dabei fast völlig aus den Augen zu verlieren, welches Wunder, welche Pracht es ist, überhaupt am Leben zu sein.



Wir konstruieren im Kopf Identitäten, „Zu-erledigen“-Listen und Zukunftspläne und verlieren uns dann in diesen Konstrukten, in unseren Realitätsmodellen und in unseren Gedanken, die, sogar wenn sie zutreffend sind, nur teilweise zutreffen, definitiv nicht hundertprozentig – und im Normalfall reicht das eben nie. An diesem Punkt angelangt, sind wir wahrscheinlich schon viel zu beschäftigt, viel zu sehr schon in die Eigendynamik dieser Geschäftigkeit verstrickt, um noch daran zu denken, dass wir auch wach sein könnten. Wir schalten so schnell in den Autopiloten-Modus – rutschen in die vertrauten ausgetretenen Pfade unseres Denkens und unserer Emotionen, verlieren uns darin, Punkt für Punkt auf unserer Liste abhaken zu müssen, und werden immer süchtiger nach den vielen Ablenkungen, die uns Smartphone, Tablet & Co. mit ihrer „grenzenlosen Vernetzung“ liefern –, dass wir aus den Augen verlieren, was direkt vor unserer Nase liegt und was jetzt gebraucht wird, und jetzt, und jetzt.



Wenn wir Achtsamkeit kultivieren, sei es formell oder informell, können wir die Blase genau in dem Moment, in dem sie aufsteigt, platzen lassen, oder sobald wir merken, was vor sich geht. Sie kann verborgene Dimensionen unserer selbst aufdecken und wiedergewinnen helfen, die wir für unser Weiterleben dringend brauchen werden, wenn wir unserer Menschlichkeit und ihrer vollen Entfaltung treu bleiben wollen. Keine(r) von uns will eigentlich, dass auf seinem oder ihrem Grabstein steht: „Ich hätte mehr arbeiten sollen“ oder „Ich hätte mich mehr ablenken lassen sollen“, aber in der Art und Weise, wie wir unsere Energien einsetzen, und in der Summe aller unserer verpassten Gelegenheiten leben wir genau so. Achtsamkeit kann ein Gegengewicht gegen all das sein, ohne es gewaltsam zu stoppen. Nur wir müssen stoppen, und nur für diesen zeitlosen Moment.



Da dieses Buch davon handelt, wie man im alltäglichen Leben Achtsamkeit praktiziert, stellen wir eines am besten gleich klar: Es gibt kein Leben außer dem alltäglichen.



Nichts wird aus dem alltäglichen Leben ausgegrenzt, auch nicht all die Gedanken und Emotionen, die wir jeden Moment haben, unabhängig von der Situation. Im Wesentlichen findet alles, was entsteht, in der Sphäre unseres Lebens statt. Und deshalb wird es in diesem Moment Teil des „Achtsamkeits-Lehrplans“, könnte man sagen. (Und wenn es immer wieder auftaucht, wird es in vielen, vielen Momenten Teil des Lehrplans, denn manchmal lässt der Lehrplan uns einfach nicht gehen.) Letztendlich kann

jeder

 Moment unseres Lebens zur Kultivierung von Achtsamkeit beitragen, nicht nur die Tageszeit, die wir für formelle Meditation reserviert haben. Das Leben selber wird zum Lehrplan. Das Leben selber wird zur Meditationspraxis.



Darauf läuft es im Wesentlichen hinaus, wenn wir Achtsamkeit kultivieren und zur „Be-Sinn-ung“ kommen wollen (das ist sowohl wörtlich als auch metaphorisch gemeint). Wenn wir nur dieses eine Leben zu leben haben – wollen wir es wie Schlafwandler verbringen, verloren in Gedanken und Geschichten und Emotionen? Oder wollen wir Wege finden, wach zu werden für die Fülle jedes Augenblicks und dessen, was er bereithält, wenn wir ihn – und uns – nur annehmen und berühren, egal, was in einem einzigen Moment oder im Laufe eines Tages alles entsteht? Dieses Buch lädt Sie zu einem Training ein (und ich sollte sagen, „uns“, denn ich bin keine Ausnahme, und wir arbeiten in diesem Forschungsabenteuer zusammen, so wie Millionen andere, die sich dafür entscheiden, ihr Leben in diese Richtung zu orientieren), im Laufe eines Tages immer wieder ins hellwache Dasein zu fallen. Und es auch zu bestimmten Zeiten in einem formelleren Rahmen zu üben, indem man bestimmte Zeiten reserviert, die allein dem Dasein gewidmet sind, in denen es keine Agenda gibt, was zu tun oder zu erledigen wäre (auch keine geheime Agenda, besser meditieren zu lernen!). Die Fülle Ihres Erlebens ist in jedem Moment vollständig, also lässt sie sich nicht verbessern. Die Herausforderung lautet immer: Können wir voll bei der Sache sein, dafür da sein, darin sein, bis wir erkennen, dass alles, was sich in einem gegebenen Moment entfaltet, der Lehrplan dieses Moments ist? Und somit erkennen, was in einem alten Cartoon des „New Yorker“ ein Mönch zu Beginn der Meditation zum anderen sagt: „Es passiert nichts. Genau darum geht’s.“



Vom Anfang bis zum Ende werden wir auf den Seiten dieses Buches lebendige, leibhaftige Achtsamkeit kultivieren. Jedes Kapitel bildet auf gewisse Weise eine andere Tür in denselben Raum: den Raum Ihres Gewahrseins. Jede Eingangstür – und natürlich auch jeder Ihrer Sinne – hat ihre eigenen, ziemlich staunenswerten Eigenschaften. Der verbindende Faktor der Praxis ist jedoch, dass der Raum, den wir betreten, der Raum unseres eigenen Gewahrseins ist, egal, durch welchen Eingang wir gekommen sind. Wir nehmen unseren Platz ein – im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne – und erden uns in der Praxis, ohne das, was Moment für Moment in unserem Erleben entsteht, zu bearbeiten oder zu beurteilen. Wir tun das, so gut wir können, ohne uns in Fragen zu verstricken, ob unsere meditative Erfahrung „gut“ ist oder ob unsere Erfahrung so ist, wie sie „sein soll“. Wenn Sie etwas erleben und sich dessen bewusst sind, dann ist das, was Sie erleben, für diesen Moment perfekt – perfekt als das, was es ist.



Die wirkliche Frage ist: „Welche Beziehung werden Sie zu dem haben, was sich im jeweiligen Moment entfaltet – der immer der jetzige Moment ist?“ Mit anderen Worten: Können Sie das, was Sie erleben, im Gewahrsein halten, ohne es auf irgendeine Weise zu beurteilen oder eine Geschichte über Ihr Erleben – sei es angenehm, unangenehm oder neutral – zu erfinden, die Sie schließlich selber glauben? Die Bereitschaft, in ruhigem Gewahrsein bei dem zu verweilen, was Ihr Erleben im Moment ausmachen mag (erwünscht, unerwünscht oder nahezu unbemerkt; angenehm, unangenehm oder weder noch), lädt zu einer

ganz neuen Art von Beziehung zu unserem Erleben

 ein (wozu auch gehört, wie viel wir urteilen und werten!). Dies bringt eine neue Möglichkeit mit sich, einen Raum der Freiheit zu bewohnen, der viel größer ist als Vorlieben und Abneigungen und bevorzugte Ansichten, wie die Welt ist (oder nicht ist). Und somit lädt es Sie dazu ein, zu sein, wer und was Sie sind, und wenn es nur für einen kurzen Moment ist: jenseits Ihres Namens, jenseits von „Das ist meine Geschichte!“, überhaupt jenseits des Denkens, oder vielleicht sollten wir sagen:

hinter

 allem Denken.

 



Was Sie entdecken werden, ist kein Geheimnis, und doch ist es gleichzeitig eine versteckte Goldmine. Es ist Ihr eigenes Gewahrsein, das sich einen klaren Blick