Meditation ist nicht, was Sie denken

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Jon Kabat-Zinn

Meditation ist nicht, was Sie denken

Jon Kabat-Zinn

Meditation ist nicht, was Sie denken

Warum Achtsamkeit so wichtig ist

Aus dem amerikanischen Englisch

von Stephan Schuhmacher

und Lisa Baumann


Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:

Meditation is not what you think.

Mindfulness and why it is so important

bei Hachette Books, New York, USA.

Dieses Buch wurde erstmal 2006 als Teil des Buchs

„Zur Besinnung kommen“ im Arbor Verlag 2005 veröffentlicht.

© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D.

This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA. All rights reserved.

Lektorat: Ralf Lay

Titelfoto: ©2019 plainpicture/Cultura/Le Club Symphonie

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2019

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-269-6

für Myla

für Stella, Asa und Toby

für Will und Teresa

für Naushon

für Serena

in Erinnerung an Sally und Elvin

sowie Howie und Roz

und für all jene, denen das am Herzen liegt,

was möglich ist

was ist, wie es ist

die sich bemühen um

Weisheit

Klarheit

Güte

und Liebe

Inhalt


VorwortWas ist Meditation überhaupt?
EinführungDie Herausforderung eines Lebens – und eine lebenslange Herausforderung
Erster TeilMeditation ist nicht, was Sie denken
Meditation ist nichts für Feiglinge
Ein Zeugnis hippokratischer Integrität
Meditation ist überall
Ursprüngliche Momente
Odysseus und der blinde Seher
An nichts festhalten
Wie die Schuhe entstanden: Eine Fabel
Meditation ist nicht, was Sie denken
Zwei Sichtweisen der Meditation: instrumentell und nichtinstrumentell
Warum sich überhaupt die Mühe machen? – Die Bedeutung von Motivation
Ausrichten und aufrechterhalten
Präsenz
Ein radikaler Akt der Liebe
Gewahrsein und Freiheit
Übertragungslinien – Nutzen und Grenzen von Gerüsten
Ethik und Karma
Achtsamkeit
Zweiter TeilDie Macht der Aufmerksamkeit und das Un-Wohlsein der Welt
Warum Aufmerksamkeit so ungemein wichtig ist
Un-Wohlsein
Dukkha
Dukkha-Magneten
Dharma
Die Stress Reduction Clinic
Die unaufmerksame Gesellschaft
Rund um die Uhr verfügbar
Permanent geteilte Aufmerksamkeit
Das Gefühl verstreichender Zeit
Gewahrsein hat kein Zentrum und keine Peripherie
Leere
Danksagung
Literatur
Über den Autor

Vorwort

Was ist Meditation überhaupt?

Viele Menschen glauben zu wissen, was Meditation ist, insbesondere seit alle Welt darüber spricht und sie auf zahllosen Bildern, in beiläufigen Bemerkungen und Podcasts und Online-Konferenzen thematisiert wird. Doch tatsächlich haben die meisten von uns noch immer ein recht eng gefasstes oder unvollständiges Verständnis davon, was Meditation tatsächlich ist und was sie uns bringen kann, und das ist auch sehr nachvollziehbar. Nur allzu leicht verfällt man in bestimmte Klischees, wie etwa, Meditation bestehe darin, auf dem Boden zu sitzen und sämtliche Gedanken aus dem Geist zu verbannen, man müsse sie häufig und für lange Zeitspannen praktizieren, um einen positiven Effekt zu erzielen, oder mit der Meditation gehe unausweichlich einher, sich ein bestimmtes Glaubenssystem oder einen spirituellen Überbau aus einer sehr alten Tradition anzueignen. Manche Menschen scheinen auch zu glauben, dass sie geradezu magische positive Wirkungen auf Körper, Geist und Seele hat. All das trifft nicht wirklich zu, wenngleich in allem auch ein Fünkchen Wahrheit steckt. Aber in Wirklichkeit ist es noch weitaus interessanter.

Was also ist Meditation wirklich? Und warum könnte es sinnvoll sein, zumindest einmal den Versuch zu unternehmen, ihr einen Platz im eigenen Leben einzuräumen? Genau darum soll es in diesem Buch gehen.

Meditation ist nicht, was Sie denken wurde erstmals im Jahr 2005 als Teil des Buchs mit dem Titel Zur Besinnung kommen: Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt veröffentlicht (die deutsche Ausgabe erschien 2006). In der Zeit seit der Erstveröffentlichung ist Achtsamkeit unglaublich populär geworden und längst in den Mainstream eingegangen. Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben die formale Meditationspraxis zu einem Bestandteil ihres Alltags gemacht. Meiner Meinung nach ist das eine sehr positive und vielversprechende Entwicklung, eine, auf die ich gehofft hatte und die ich über etliche Jahre hinweg und gemeinsam mit vielen anderen Menschen voranzubringen versucht habe, trotz der Tatsache, dass mit dem Eintritt in den Mainstream unausweichlich ein gewisser Hype, mitunter auch kommerzielle Ausbeutung und Opportunismus einhergehen, zum Beispiel indem einige Menschen sich für befähigt halten, Meditation zu lehren, obwohl sie wenig bis gar keine persönliche Erfahrung damit oder eine Ausbildung dazu haben. Dennoch kann selbst dieser Rummel als ein Zeichen des Erfolgs gewertet werden, wenn auch als eines, das hoffentlich eher kurzlebig und überschaubar ist, während die bemerkenswert heilsame und transformative Kraft der Achtsamkeit als Praxis und als Art und Weise, mit unserer lebendigen Erfahrung in Beziehung zu sein, langsam immer umfassender verstanden und angenommen wird.

Zwar geht es bei Meditation bei Weitem nicht bloß darum, still auf dem Boden oder auf einem Stuhl zu sitzen, doch ist es wortwörtlich wie auch metaphorisch ein wichtiges Element der Achtsamkeit, dass wir unseren Platz einnehmen. Man könnte sagen, dass es im Wesentlichen eine direkte und sehr praktische Weise ist, mehr Intimität mit dem eigenen, sich entfaltenden Leben zu entwickeln sowie mit der uns innewohnenden Fähigkeit zum Gewahrsein – und eine Möglichkeit, sich bewusst zu werden, wie wertvoll, leicht zu übersehen und zu wenig wertgeschätzt das Geschenk dieses Gewahrseins ist.

Eine Liebesgeschichte mit dem Leben

Der Akt, unseren Platz in unserem eigenen Leben oder, anders gesagt, eine bestimmte Haltung einzunehmen, und das immer wieder, ist schon an und für sich ein tiefgreifender Ausdruck menschlicher Intelligenz. Letztendlich ist es ein radikaler Akt der Vernunft und der Liebe – wenn wir nämlich all das Tun sein lassen, das uns durch den jeweiligen Augenblick trägt, ohne dass wir uns wirklich darin niederlassen, und ins Sein sinken, sei es auch nur für einen flüchtigen Moment. Dieses Hineinsinken ist der überaus einfache und zugleich auch absolut radikale Akt, der Achtsamkeit als Meditationspraxis und auch als Seinsweise ausmacht. Es ist einfach zu erlernen. Es ist einfach, es zu tun. Aber genauso leicht passiert es, dass man die Praxis vergisst, auch wenn diese Art von Hineinsinken so gut wie gar keine Zeit erfordert, sondern lediglich, sich daran zu erinnern.

Zum Glück interessieren sich immer mehr Menschen für ein solche Intimität mit dem eigenen Bewusstsein und dessen Kultivierung in der ein oder anderen Form, sodass sie langsam einen Weg in die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft findet: von Schulkindern bis zu Senioren, von Akademikern bis zu Geschäftsleuten, von Ingenieuren bis zu Aktivisten, von Studenten bis zu – ob Sie es glauben oder nicht – Politikern und Sportlern aller Ränge. Und zum größten Teil ist Achtsamkeitspraxis dabei nicht Luxus oder Modeerscheinung, sondern wird in dem wachsenden Verständnis kultiviert, dass diese Qualität eine absolute Notwendigkeit ist, um das Leben in aller Fülle und mit Integrität zu leben. Man könnte auch sagen, um es auf ethische Weise zu leben, angesichts der sich deutlich abzeichnenden Herausforderungen, mit denen wir alle jeden Tag konfrontiert sind, sowie auch angesichts der ebenfalls enormen und faszinierenden Gelegenheiten und Möglichkeiten, die uns in dieser Zeit offenstehen. Dazu müssen wir zumindest einen Moment lang in der Lage sein, die selbst konstruierten und gewohnheitsmäßigen Einschränkungen unseres Geistes, die Geschichten, die wir uns selbst erzählen und die nicht oder nicht ganz wahr sind, sowie unsere epidemische Blindheit zu durchschauen und hinter uns zu lassen. Dieses Unterfangen ist letztlich ein einziges großes und bedeutungsvolles Abenteuer – voller Höhen und Tiefen, genau wie das Leben selbst. Doch die Art und Weise, wie wir mit diesen Höhen und Tiefen umgehen, wird entscheidend dafür sein, wie dieses Abenteuer, das Abenteuer unseres Lebens, sich entfaltet. Und dabei haben wir viel mehr Einflussmöglichkeiten, als wir vielleicht ahnen.

 

Es gibt viele verschiedene Wege, mittels einer formalen Meditationspraxis, aber auch im Alltags- und Arbeitsleben Achtsamkeit zu kultivieren. Wie Sie sehen werden, kann formale Meditation in den verschiedensten Haltungen praktiziert werden: im Sitzen, Liegen, Stehen oder Gehen. Und das, was wir „informelle Meditationspraxis“ nennen – letzten Endes die wahre Meditationspraxis –, bedeutet, das Leben selbst und die Meditationspraxis eins werden zu lassen und zu erkennen, dass alles, was darin auftaucht, das Erwünschte, das Unerwünschte und auch das Unbemerkte, den eigentlichen Lehrplan ausmacht. Wenn wir Meditation in einem so weiten Sinne verstehen, ist alles, was sich in unserem Geist, unserem Leben oder in der Welt zeigt, Teil davon, und jeder Moment ist ein perfekter Moment, um Bewusstheit in das zu bringen, was sich entfaltet, und daran zu lernen, zu wachsen und zu heilen.

Das Wichtigste ist, dass Sie mit der Zeit Ihren eigenen, authentischen Praxisweg finden, einen Weg, der sich intuitiv richtig und vertrauenswürdig anfühlt, der für Sie persönlich stimmig ist, aber auch noch mit der Essenz der alten Traditionen im Einklang steht, aus denen die Achtsamkeitspraxis hervorgegangen ist. Genau dabei soll dieses Buch Ihnen helfen, oder zumindest dabei, zu diesem lebenslangen Abenteuer aufzubrechen. Sie werden lernen, wie Sie eine tägliche Achtsamkeitspraxis entwickeln können, falls das etwas Neues für Sie ist, beziehungsweise Ihre Praxis zu vertiefen, falls Sie bereits eine haben. In beiden Fällen werden Sie lernen, sie als eine Liebesbeziehung zu betrachten statt als Aufgabe oder Bürde, ein weiteres „Sollte“, das Sie in Ihrem ohnehin schon viel zu vollen Tag unterbringen müssen. Was letztendlich dazu führt, dass Sie das Leben, das Ihnen gegeben wurde, im tiefsten Sinne bewohnen. Wie jahrzehntelange Forschungen gezeigt haben, kann Achtsamkeit im Laufe des Lebens zu einem machtvollen Verbündeten werden, wenn wir mit Herausforderungen wie Stress, Schmerz und Krankheit umgehen müssen.

Tun und Nichttun

Manchmal kann achtsam sein bedeuten, dass wir etwas tun. Und manchmal sieht es aus, als täten wir nichts. Von außen betrachtet, lässt sich das nur schwer sagen. Doch auch wenn es so aussieht oder sich so anfühlt, als täten wir nichts, ist es nicht so. Tatsächlich geht es gar nicht um irgendein Tun. Das mag sich ein wenig verrückt anhören, aber Achtsamkeitsmeditation ist eher eine Frage des Nichttuns, vielmehr davon, sich einfach ins Sein sinken zu lassen, in den einzigen Moment, den wir überhaupt haben – diesen einen Moment –, als davon, etwas zu tun oder irgendwohin zu gelangen. So, wie Sie in jedem beliebigen Moment sind und wo auch immer Sie sind, ist es gut genug, zumindest für jetzt. Es ist sogar perfekt, wenn Sie bereit sind, den Moment im Gewahrsein zu halten und dabei sanft mit sich umzugehen, ohne etwas zu erzwingen.

Die regelmäßige Praxis der Achtsamkeitsmeditation hilft uns, zu der inneren Weite und dem offenen Herzen Zugang zu finden, die reines Gewahrsein ausmachen, und dies darin zum Ausdruck zu bringen, wie wir in der Welt handeln. Achtsamkeit als regelmäßige Praxis kann Ihnen wortwörtlich und auch sinnbildlich Ihr Leben zurückgeben, insbesondere wenn Sie Stress oder Schmerzen haben oder in Ungewissheit und emotionalem Aufruhr gefangen sind – was natürlich auf uns alle bis zu einem gewissen Grad in manchen Momenten oder Situationen zutrifft.

Auch wenn Achtsamkeit gerade im Trend liegt und sehr populär, zuweilen auch verrufen sein mag, ist sie doch vor allem eine Praxis, und zwar mitunter eine mühselige. Für die meisten Menschen bedeutet dies, dass sie sie absichtsvoll und beständig kultivieren müssen. Dies geschieht schlicht und einfach durch die regelmäßige, disziplinierte Praxis der Meditation. Und einfach ist sie wirklich, wenn auch nicht immer leicht. Aber sie ist den Einsatz wert. Es lohnt sich, die Zeit und die Energie zu investieren. Sie ist heilsam, und sie kann sehr transformativ sein. Das ist einer der Gründe, weswegen Menschen oft sagen, die Praxis der Achtsamkeit habe ihnen ihr „Leben zurückgegeben“.

Achtsamkeit erobert den Mainstream

Es gibt viele verschiedene Ursachen, warum die Meditationspraxis und insbesondere die Achtsamkeitsmeditation in den letzten vierzig Jahren immer mehr im Mainstream angekommen ist. Zum einen ist das der Arbeit des stetig weiterwachsenden, weltweiten Kreises von Kollegen zu verdanken, dem anzugehören ich das Privileg habe. Ich unterrichte MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), ein Programm, das ich 1979 am Medical Center der University of Massachusetts entwickelt und eingeführt habe. Inspiriert durch MBSR, wurden in den darauffolgenden Jahren weitere achtsamkeitsbasierte Praktiken entwickelt und wissenschaftlich beforscht, wie etwa MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) zur Anwendung bei Depressionen sowie andere spezialisierte Programme in Anlehnung an MBSR, deren Nutzen und Effektivität inzwischen in zahlreichen wissenschaftlichen Studien belegt werden konnte.*

Die ursprüngliche Absicht von MBSR in Form eines achtwöchigen ambulanten Kurses bestand darin zu überprüfen, welchen Nutzen Achtsamkeitstraining potenziell dafür haben kann, das mit Stress, Schmerzen und Krankheit einhergehende Leid von Patienten mit chronischen Erkrankungen zu lindern, die nicht auf die medizinischen Standardbehandlungen ansprechen und daher durch das Raster des regulären Gesundheitssystems fallen. MBSR sollte eine Art Sicherheitsnetz sein, das die Menschen in solchen Fällen auffangen und sie dazu auffordern würde, etwas für sich selbst zu tun und daran mitzuwirken, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu verbessern. MBSR war nicht als eine neue medizinische Behandlung oder eine Therapieform gedacht. Vielmehr sollte es eine gesundheitsfördernde edukative Maßnahme sein, die im Laufe der Zeit und durch die Teilnahme von immer mehr Menschen das Potenzial haben könnte, für mehr Gesundheit, Wohlbefinden und Weisheit in der Gesamtbevölkerung zu sorgen. In einem gewissen Sinne brachten wir den Menschen bei, besser mit dem zu kooperieren, was auch immer die Ärzte und das Krankenhaus für sie tun konnten, indem sie durch die Achtsamkeitspraxis ihre eigenen inneren Ressourcen mobilisierten. Dadurch, so glaubten wir, würden sie nicht mehr oder zumindest sehr viel seltener ins Krankenhaus müssen, da sie lernten, sich besser um sich zu kümmern und neue Umgangsweisen mit ihrem Stress- und Schmerzpegel sowie ihren gesundheitlichen Problemen und chronischen Krankheiten zu entwickeln.

Wir wollten so genau wie möglich herausfinden und dokumentieren, ob meditative achtsamkeitsbasierte Praktiken (während der acht Kurswochen täglich 45 Minuten und an sechs Tagen in der Woche praktiziert) einen signifikanten Unterschied in der Lebensqualität und der Gesundheit der Teilnehmenden bewirken würden. Und bei der Mehrheit der Teilnehmenden bestand von Anfang an keinerlei Zweifel daran, dass das der Fall war. Wir konnten es den Menschen im Verlauf der acht Wochen geradezu ansehen. Im Kurs erzählten sie erfreut von einigen der Veränderungen, die sie erlebten und die ihnen ein Gefühl der Kraft gaben, und unsere Datensammlung bestätigte diese Entwicklung zusätzlich.

Im Jahr 1982 veröffentlichten wir unsere Erkenntnisse erstmals in der medizinischen Fachliteratur. Innerhalb weniger Jahre schlossen sich weitere Wissenschaftler und Ärzte der immer strengeren Kriterien genügenden Achtsamkeitsforschung an und leisteten ihren Beitrag zu dem inzwischen sehr umfassenden Kenntnisstand in der wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Heute floriert die Forschung zum Thema Achtsamkeit und deren potenziellem Nutzen in der Medizin, der Psychologie, der Neurowissenschaft und vielen anderen Feldern. Das ist schon an und für sich ziemlich bemerkenswert, da es die Zusammenführung von zwei Wissensbereichen repräsentiert, die sich noch nie zuvor begegnet sind: moderne Medizin und Wissenschaft auf der einen Seite und uralte kontemplative Praktiken auf der anderen.

Als die amerikanische Ausgabe im Januar 2005 erschien, gab es in der medizinischen und wissenschaftlichen Literatur lediglich 143 Veröffentlichungen, die den Begriff „Mindfulness“ im Titel trugen. Das entspricht gerade einmal 4,6 Prozent der über 4000 Veröffentlichungen zum Thema „Achtsamkeit“, die bis zum Jahr 2017 erschienen. In der Zwischenzeit ist in der Medizin und in weiteren Disziplinen ein ganzes Feld entstanden, in dem die Auswirkungen von Achtsamkeit auf so ziemlich alles untersucht werden, von der bemerkenswerten Fähigkeit des Gehirns, seine Gestalt zu verändern (Neuroplastizität), über die Auswirkungen auf die Gene und die Genregulation (Epigenetik), auf die Telomere und damit auch auf den biologischen Alterungsprozess, auf Gedanken und Gefühle (insbesondere im Hinblick auf Depressionen, Ängste und Süchte) bis hin zum Familien-, Arbeits- und Sozialleben.

Ein neues Format für eine neue Zeit

In Anbetracht all dessen, was seit 2005 geschehen ist, erschien es mir sinnvoll, das Buch für eine neue Generation von Lesern in vier kürzere Bände zu unterteilen. Da Sie gerade das erste dieser Bücher in der Hand halten, nehme ich an, dass Sie zumindest ein wenig neugierig auf Meditation im Allgemeinen und Achtsamkeit im Besonderen sind, sonst hätten Sie es wohl nicht aus dem Regal genommen und bis hierher gelesen. Aber selbst wenn Sie nicht mal besonders neugierig sind oder den Gedanken, Meditation in Ihren Alltag zu integrieren, eher abschreckend finden – noch etwas, was Sie tun müssen und was Zeit in Anspruch nimmt, kostbare Augenblicke, die Sie nicht zu haben glauben, oder die Sorge darüber, was Ihre Familie und Freunde denken könnten … vielleicht ist Ihnen auch bereits die bloße Vorstellung von formaler Meditation unangenehm, oder so etwas erscheint Ihnen weit hergeholt und unnütz –, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das alles ist kein Problem. Denn Meditation, und ganz besonders Achtsamkeitsmeditation, ist wirklich nicht das, was Sie denken.

Was Meditation tatsächlich für Sie tun kann, ist, Ihr Verhältnis zu Ihrem Denken zu verwandeln. Sie kann Ihnen helfen, sich mit Ihrer Denkfähigkeit anzufreunden als eine, aber eben nur eine von verschiedenen Intelligenzen. Da Sie bereits darüber verfügen, können Sie sie zur Ihren Gunsten nutzen, statt sich davon gefangen nehmen zu lassen, wie es uns nur allzu oft mit unseren Gedanken geschieht, wenn wir vergessen, dass es sich dabei lediglich um Gedanken handelt, also um Ereignisse im Feld unseres Gewahrseins und nicht etwa um die Wahrheit. In diesem Sinne könnte man sagen, dieses Buch handelt von dem Was und dem Warum der Achtsamkeit.

Der nächste Band mit dem Titel Wach werden und unser Leben wirklich leben befasst sich ausführlich damit, wie sich Achtsamkeit im alltäglichen Leben systematisch kultivieren lässt. Die heilende und verwandelnde Kraft der Achtsamkeit liegt in der Praxis selbst. Achtsamkeit ist keine Technik. Sie ist ein Weg, eine weise Beziehung zu der Gesamtheit der inneren und äußeren Erfahrung zu pflegen. Das bedeutet, dass Ihre Sinne, und zwar all Ihre Sinne – denn es gibt weitaus mehr als nur fünf, wie Sie noch sehen werden –, eine große und bedeutsame Rolle spielen. Wir könnten also sagen, dass dieses zweite Buch detailliert von dem Wie der Achtsamkeit handelt, sowohl im Sinne einer formalen Meditationspraxis als auch im Sinne einer Seinsweise.

 

Band drei Das heilende Potenzial der Achtsamkeit ist ganz dem Versprechen gewidmet, das der Achtsamkeit innewohnt. Die potenziellen positiven Auswirkungen von Achtsamkeit werden darin aus verschiedensten Blickwinkeln geschildert, unter anderem aus dem zweier Studien, an denen ich unmittelbar beteiligt war. Ich habe darauf verzichtet, die Ergebnisse all der neuen wissenschaftlichen Studien vollständig zu dokumentieren, die seit 2005 erschienen sind; das würde nicht nur den Rahmen sprengen, es werden zudem auch ständig neue Studien veröffentlicht. Stattdessen finden sich im Vorwort dieses Bandes eine Zusammenfassung des derzeitigen Forschungsstandes und Verweise auf weiterführende Literatur, in der einige der spannendsten aktuellen Studien beschrieben werden.

Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen weckt dieses dritte Buch der Serie auch etwas von der Schönheit und der Poesie, die dem ganzen Spektrum von Perspektiven und Umständen innewohnen, die sowohl erhellend als auch heilsam für uns sein können. Einige basieren auf meditativen Traditionen, insbesondere auf Zen, Vipassanā, Dzogchen und Hatha-Yoga, die mich persönlich tief berührt und dazu bewegt haben, Achtsamkeit in mein eigenes Leben zu integrieren, seit ich einundzwanzig Jahre alt war. Sie alle deuten auf den Wert von verkörperter Wachheit und unserer intrinsischen wechselseitigen Verbundenheit hin, und ihre kraftvollen Perspektiven, Einsichten und Praktiken sind über Jahrhunderte hinweg weitergegeben worden.

Der vierte Band Achtsamkeit für alle handelt von der Verwirklichung von Achtsamkeit in Ihrem eigenen Leben, wobei mit „Verwirklichung“ hier gemeint ist, Achtsamkeit zu etwas Realem werden zu lassen und sie auf Ihre eigene Weise zu verkörpern, so gut es Ihnen gelingt, und zwar nicht nur als Individuum, sondern auch als Angehöriger der Menschheitsfamilie. Dieser Band konzentriert sich mehr auf den politischen als auf den physischen Körper sowie auf den Wert, den die Erkenntnisse der Medizin aus den letzten vierzig Jahren und die der kontemplativen Traditionen aus den letzten Tausenden Jahren für uns als Homo sapiens sapiens in diesem Augenblick auf der Erde haben könnten. Außerdem geht es darin um unser Potenzial als einzigartige, lebendige, atmende menschliche Wesen und um unseren ganz eigenen Platz in der Welt. Beides können wir finden, wenn wir unsere Fähigkeit zu Wachheit beständig kultivieren und einen Geschmack bekommen von der Kreativität, Großzügigkeit, Fürsorge, Leichtigkeit und Weisheit, die ganz natürlich daraus hervorgehen. Dieser Band dreht sich also nicht nur um individuelle Verwirklichung, sondern auch um ein Erwachen zu unserer vollen menschlichen Wirkungsfähigkeit, die die Gesellschaft und letztlich die ganze Spezies durchdringt.

Ich hoffe, mit diesen vier Büchern einer neuen Generation die zeitlose Kraft der Achtsamkeit und einen Einblick in die vielen verschiedenen Weisen vermitteln zu können, auf die man sie beschreiben, kultivieren und in der heutigen Welt verwirklichen kann. Ich vertraue darauf, dass die kommenden Generationen auf ihre eigene Weise viele neue Anwendungsfelder und Ansätze entwickeln und implementieren werden, die ihren jeweiligen Umständen gerecht werden. Beispiele aus unserer heutigen Zeit für diese Umstände wären etwa ein neues Bewusstsein für die globale Erwärmung, für die irrationalen Kosten und die Destruktivität von Kriegen und für Missstände wie die institutionalisierte ökonomische Ungerechtigkeit, Rassismus, Sexismus, die Diskriminierung älterer Menschen, implizite Vorurteile, sexuelle Belästigungen und Übergriffe, Mobbing, Fragen rund um Geschlechteridentitäten, Cyber-Hacking, die endlose Konkurrenz um Aufmerksamkeit (die sogenannte „Ökonomie der Aufmerksamkeit“), den allgemeinen Mangel an Anstand sowie die extreme Polarisierung und politische Hetze, die unsere Regierungen untereinander und mit uns betreiben – neben all den anderen Gräueln, aber auch der außerordentlichen Schönheit, die schon seit Anbeginn der Geschichte Teil des menschlichen Lebens waren.

Zugleich, und es ist wichtig, auch diese Perspektive nicht außer Acht zu lassen, hat sich in Wirklichkeit gar nicht so viel verändert. Wie die Franzosen gern sagen: „Plus ça change, plus c’est la même chose.“ („Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind.“) Gier, Hass und Verblendung sind seit Anbeginn aller Zeiten im menschlichen Geist am Werk, und sie haben endlose Gewalt und unendliches Leid hervorgebracht. Somit ist eigentlich klar, was wir derzeit auf der Erde zu tun haben – insofern wir diesen Weg zum eigenen Wohl und zum Wohl der Welt wählen. Und zugleich können wir sagen, dass der menschliche Geist, so er sich denn in der Tiefe selbst erkennt, auch seit Anbeginn aller Zeiten Schönheit, Güte, Kreativität und Einsicht gekannt hat. Großzügigkeit und Güte, Zärtlichkeit und Mitgefühl gehören ebenso wesentlich zur menschlichen Natur, wie auch in der Kunst, Musik, Poesie und Wissenschaft schon immer herausragende Werke geschaffen wurden und wie die Möglichkeit zu Weisheit und beständigem inneren und äußeren Frieden seit jeher existiert.

Die Kraft von Gewahrsein und Präsenz

Es steht außer Frage, dass Achtsamkeit, Mitgefühl und Weisheit wichtiger sind als je zuvor – auch wenn die Essenz der Achtsamkeit zeitlos und schon immer aktuell gewesen ist, zumal sie mit unserem Verhältnis zu diesem Moment und zu einem jeden anderen zu tun hat, wie auch immer er beschaffen sein mag. Nur in diesem gegenwärtigen Moment ist uns die Vergangenheit zugänglich. Und genauso ist es mit dem, was sich noch entfalten wird in einer Zukunft, die wir uns stetig vorzustellen und zu kontrollieren versuchen. Wenn Sie die Zukunft beeinflussen möchten, besteht Ihre einzige Möglichkeit darin, sich vollständig in den gegenwärtigen Moment zu begeben, was bedeutet, sich achtsam und mit ganzem Herzen darin niederzulassen. Das ist bereits eine Handlung, wenn es auch wirken mag wie Nichttun. Schon der nächste Moment wird voller neuer Möglichkeiten sein, wenn Sie bereit sind, in diesem ganz da zu sein. Lässt man sich vollständig im gegenwärtigen Augenblick nieder, zeigt sich, dass bereits der nächste (die Zukunft) ganz anders sein kann. Ein jeder Moment im Jetzt ist eine Weggabelung: Im nächsten kann sich alles Mögliche entfalten. Doch was sich entfaltet, hängt davon ab, ob und zu welchem Ausmaß man gewillt ist, in diesem Moment ganz, und ganz wach, da zu sein. Natürlich ist es mitunter wichtig, im Dienste von Weisheit, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Freiheit zu handeln. Aber die Handlungen an sich können achtlos oder wirkungslos sein, wenn wir unser Tun nicht aus unserem Sein kommen lassen. Denn dann entsteht eine vollkommen andere Form von Tun … das, was wir „weises Tun“ oder „weises Handeln“ nennen, ein authentisches Tun, das in Achtsamkeit geformt wird.

Welchen besseren Zeitpunkt als jetzt könnte es geben, um in die Gewässer der Achtsamkeit als Praxis und Seinsweise zu steigen und damit einen lebenslangen Weg des Lernens, Wachsens, Heilens und der Transformation zu beginnen, fortzusetzen oder neu zu beleben? Dabei werden Sie paradoxerweise nirgendwo „hingehen“, da Sie schon sind, wer Sie sind, und zwar mit allem, was Sie ausmacht. Bei der Achtsamkeit kann und darf es nicht um eine Selbstoptimierung gehen, weil Sie bereits ganz, bereits vollständig, bereits vollkommen sind (mitsamt all Ihren „Unvollkommenheiten“). Vielmehr gibt Achtsamkeit Ihnen die Gelegenheit, sich genau so zu erkennen, trotz jeglicher Gegenargumente, die ein cleverer Teil Ihres Verstandes in ebendiesem Moment mobilisieren mag. Es geht darum, sich die volle Dimensionalität und Potenzialität dieses einen Lebens zurückzuerobern, welches das Ihre ist, um es zu leben, solange Sie die Möglichkeit dazu haben, und es auf eine oder mehrere von unendlich vielen kreativen Weisen zu verkörpern. Es birgt eine enorme Entscheidungsfreiheit und Kreativität, wenn wir unser Dasein Moment für Moment wach und bewusst leben.

Ein evolutionärer Bogen

Die Praxis der Achtsamkeit reicht über Tausende von Jahren in die indische und chinesische Kultur zurück, sogar noch vor Lebzeiten des historischen Buddha, obschon er und seine späteren Anhänger es waren, die die Praxis am klarsten und detailliertesten beschrieben haben. Der Buddha sprach von Achtsamkeit als dem „direkten Pfad“ zur Befreiung von Leid. Wie wir gesehen haben, kann man Achtsamkeit als eine Seinsweise betrachten, bei der immer wieder neu untersucht und neu artikuliert wird, was Wachsein ausmacht und wie diese Qualität in der jeweiligen Zeit und Kultur und angesichts neuer Herausforderungen verkörpert werden kann. Der Begriff „Achtsamkeit“ steht inzwischen für einen evolutionären Weisheitsbogen, der über die Jahrhunderte entstanden ist und nun neue Wege und Formen findet, um uns dabei zu helfen, die intrinsische Ganzheit unserer Leben als in hohem Maße miteinander verbundene Erdenbewohner zu erkennen und somit die Weiterentwicklung unserer äußerst jungen und frühreifen Spezies voranzubringen. Durch stetige Forschung und den Dialog zwischen Wissenschaftlern und Menschen, die sich der Kontemplation widmen, sowie durch die Arbeit einer steigenden Zahl von engagierten und gut ausgebildeten Achtsamkeitslehrern aus verschiedenen Traditionen und Kulturen können wir Achtsamkeit und ihre heilsamen und transformativen Auswirkungen auf immer fundiertere Weise verstehen und finden neue Wege, sie in verschiedenen Bereichen zu implementieren. Selbst Politiker und Regierungsinstitutionen werden auf die Qualität der Achtsamkeit aufmerksam. Sie bemühen sich um ihre Kultivierung und Praxis und setzen auf ihr Potenzial, um die Gesundheit bestimmter Bevölkerungsgruppen oder einer ganzen Nation zu fördern. Aber natürlich sollten wir nicht zu viele Hoffnungen auf die Politik setzen, außer vielleicht darauf, dass auch Politiker Menschen und unter Umständen in der Lage sind, für das größere Gute zu handeln und denjenigen zu helfen, die in der Gesellschaft systematisch entrechtet und entmachtet wurden.