Das heilende Potenzial der Achtsamkeit

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Das heilende Potenzial der Achtsamkeit
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Jon Kabat-Zinn

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit

Jon Kabat-Zinn

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit

Eine neue Art, zu sein

Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Schuhmacher und Lisa Baumann


Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:

The Healing Power of Mindfulness

A New Way of Being

bei Hachette Books, New York, USA.

Dieses Buch wurde erstmal 2006 als Teil des Buchs

»Zur Besinnung kommen« im Arbor Verlag 2005 veröffentlicht.

1. Auflage 2020

© 2020 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg Copyright der Originalausgabe © 2018 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D. This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA. All rights reserved.

Lektorat: Georg Grässlin

Titelfoto: ©2020 shutterstock.com/Olga Lyubkin

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book 978-3-86781-303-7

für Myla

für Stella, Asa und Toby

für Will und Teresa

für Naushon

für Serena

in Erinnerung an Sally und Elvin

sowie Howie und Roz

und für all jene, denen das am Herzen liegt,

was möglich ist

was ist, wie es ist

die sich bemühen um

Weisheit

Klarheit

Güte

und Liebe

Inhalt

Vorwort

Erster Teil Möglichkeiten der Heilung

Empfindungsvermögen

Das ist nicht persönlich gemeint, aber, verzeihen Sie… Sind wir wirklich, wer wir zu sein glauben?

Selbst unsere Moleküle berühren sich

Keine Fragmentierung

Keine Trennung

Orientierung in Zeit und Raum – Im Gedenken an meinen Vater

Orthogonale Wirklichkeit – Quantensprünge des Bewusstseins

Orthogonale Institutionen

Heilung und Bewusstsein

Glück erforschen: Meditation, das Gehirn und das Immunsystem

Homunkulus

Propriozeption – Die gefühlte Empfindung des Körpers

Neuroplastizität und die unbekannten Grenzen des Möglichen

Zweiter Teil An der eigenen Tür ankommen

»Ich kann meine eigenen Gedanken nicht hören!«

Ich bin nicht einen Moment zum Durchatmen gekommen

Der Selbstbetrug der Geschäftigkeit

Sich selber unterbrechen

All unsere Augenblicke anfüllen

Vor Ort ankommen

Von hier aus kommen Sie dort nicht hin

Überwältigt

Dialog und Diskussion

Auf der Bank sitzen

Sie verrückt!

Übergänge

Sie machen, Sie haben

Jede Idealvorstellung einer Praxis ist auch nur eine Fabrikation

Meinst du das ernst?

Wer hat den Super Bowl gewonnen?

Arroganz und Anspruchsdenken

Tod

Stirb, bevor du stirbst

Stirb, bevor du stirbst (Teil II)

Der Weiß-nicht-Geist

An der eigenen Tür ankommen

Danksagung

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Achtsamkeit ist eine weise und potenziell heilsame Art, mit dem, was uns im Leben widerfährt, in Beziehung zu sein. Und, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, das beinhaltet alles und jedes, was Ihnen und einer jeden von uns geschehen kann. Selbst angesichts extrem herausfordernden Lebensumständen wohnt der Kultivierung von Achtsamkeit ein tiefreichendes Versprechen inne. Vielleicht überrascht es Sie, wie breitgefächert die möglichen Auswirkungen sind – beziehungsweise sein können, wenn Sie dafür offen sind, zumindest einmal die Zehen in das Wasser der formalen und informellen Meditationspraxis zu strecken und zu sehen, was sich daraus entwickelt.

Die meisten Menschen, die an einem MBSR-Kurs teilnehmen oder auf irgendeinem anderen Wege zur Achtsamkeit finden, entdecken schon bald, dass das Curriculum in nichts Geringerem als dem Leben selbst besteht: Es geht darum, dem Leben, so wie es ist, ins Auge zu blicken und es anzunehmen, mitsamt allem, womit auch immer man es gerade zu tun hat. Und Sie können »womit auch immer« ruhig unterstreichen. Die Herausforderung bei der Praxis und der Seinsweise der Achtsamkeit besteht immer darin: Wie können wir mit diesem Augenblick, so wie er ist, weise in Beziehung sein, mitsamt all den ärgerlichen, ungewollten oder erschreckenden Elementen, die er vielleicht enthält und denen wir uns stellen müssen? Ist es möglich, einen radikal neuen Umgang mit dem Leben und all den Augenblicken, aus denen es besteht, zu finden und daran zu wachsen?

Meiner Ansicht nach lässt sich der Begriff heilsam am besten damit umschreiben, mit den Dingen Frieden zu schließen, so wie sie sind. Das bedeutet nicht, etwas zu reparieren oder wiederherzustellen, etwa einen vormaligen Zustand, oder das, was problematisch ist, einfach zum Verschwinden zu bringen.

Der Prozess und die Praxis, mit den Dingen Frieden zu schließen, so wie sie sind, bedeutet hingegen, für sich selbst zu untersuchen, ob man überhaupt weiß, wie die Dinge sind, oder man lediglich glaubt, es zu wissen – und somit möglicherweise bereits schon in der Art und Weise, wie man über die Situation denkt, die tatsächlichen Gegebenheiten mit der eigenen Geschichte darüber verwechselt. Mit den Dingen Frieden zu schließen, so wie sie nun einmal sind, beinhaltet, damit zu experimentieren, wie wir unsere Beziehung zu den Gegebenheiten neu definieren und damit transformieren könnten, eingedenk der Tatsache, dass wir ganz offensichtlich nicht wissen, wie sich die Dinge bereits im nächsten Moment entfalten werden. Diese innere Haltung eröffnet uns nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, von denen wir vielleicht gar nichts geahnt haben. Warum? Weil eben unsere Denkmuster an sich so begrenzend sind, beladen mit unseren erstaunlicherweise meist unhinterfragten mentalen Gewohnheiten. In diesem Buch werden wir diese Gewohnheiten aufbrechen, immer wieder und buchstäblich Moment für Moment, und auf diese Weise die Öffnungen und Gelegenheiten erfassen, die dabei entstehen, wenn wir, mit den Worten von Derek Walcott, uns selbst »an unserer eigenen Tür begrüßen«.

Auf meinen Reisen begegne ich häufig Menschen, die mir berichten, dass Achtsamkeit ihnen ihr Leben zurückgegeben hat. Oft erzählen sie mir Geschichten von unfassbar schrecklichen Lebensumständen, Ereignissen oder Diagnosen, die man wirklich niemandem wünscht. Meistens drücken sie es in etwa so aus: »Achtsamkeit (oder auch «die Praxis») hat mir mein Leben zurückgegeben« oder »hat mir das Leben gerettet«, oft gefolgt von einem Ausdruck tiefer Dankbarkeit. Jedes Mal, wenn mir jemand eine solche Erfahrung schildert, sei es im Gespräch oder per Brief oder E-Mail, klingt es so authentisch und persönlich, dass ich mir ganz sicher bin, dass es sich nicht um eine Übertreibung handelt.

Interessanterweise gehen alle Menschen, die sich einigermaßen systematisch der Achtsamkeitspraxis widmen, mit der Zeit ihren eigenen Weg, während sie zugleich immer wieder auf die stets gleichbleibenden formalen Meditationspraktiken zurückgreifen, die wir auch im MBSR üben (den Body-Scan, die Sitzmeditation, achtsames Yoga und achtsames Gehen) und die im zweiten Buch »Wach werden und unser Leben wirklich leben« dieser Serie beschrieben werden, und natürlich auch, während sie in ihren alltäglichen Begegnungen mit dem Leben Achtsamkeit üben.

Ich möchte an dieser Stelle einen Ausdruck der Dankbarkeit wiedergeben, den mir mein Verleger in Großbritannien kürzlich weiterleitete:

Lieber Professor Kabat-Zinn,

ich habe all Ihre Bücher gelesen (einige sogar mehrmals) und etwas überlebt, das man mir als Speiseröhrenkrebs im Endstadium beschrieben hat. Nun schreibe ich, um Ihnen zu sagen, welch wichtige Rolle Ihre Bücher in meinem Genesungsprozess gespielt haben. Es ist jetzt fünf Jahre her, seit man mir an einem Tag im Juli (ziemlich emotionslos) mitteilte: »Sie schaffen es wahrscheinlich noch bis Weihnachten. Manche halten auch länger durch. Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach das Hospiz an.«

Der Weg durch meine Krankheit ist gesäumt von zahlreichen Irrtümern, unter anderem wurde bei der Planung einer radikalen Chemo- und Strahlentherapie meine Patientenakte verwechselt. Infolge der überdosierten Strahlentherapie waren zwei meiner Wirbel gebrochen, aber nun, am 19. Oktober 2017 bin ich immer noch da – und seit sechs Wochen in den Studiengang Achtsamkeit an der Universität von Aberdeen eingeschrieben. Mein Traum ist es, die nötige Qualifikation zu erlangen, um schwer erkrankten Menschen mit den Techniken zu helfen, die ich von Ihren CDs, Videos und Büchern gelernt habe, und zwar in den Unterstützungszentren für Krebspatienten hier vor Ort. Dort dürfen nur ausgebildete Ehrenamtliche mit den Patienten arbeiten.

 

In meiner schwersten Zeit haben Ihre Bücher Gesund durch Meditation und Stark aus eigener Kraft mich inspiriert, sie sind zu meinen Bibeln geworden. Im Moment plane ich meine erste größere Hausarbeit im Rahmen meines Studiums, und man hat mir gesagt, dass mein Thema (»Meditation ist heilsam«) für eine akademische Seminararbeit nicht gut geeignet ist. Das erstaunt mich, und ich frage mich, ob Sie mir wohl einen Rat geben könnten, wo ich Inspiration dazu finden kann…

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die Lektüre Ihres Werks mir das Leben gerettet hat, und ich versuche, das Beste aus jedem Atemzug zu machen, von dem man mir gesagt hat, dass ich ihn nicht nehmen würde. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir einen Hinweis geben könnten, sodass ich meinen Traum verwirklichen kann, kranken Menschen wirkungsvoll dabei zu helfen, ihre eigene Kraft zur Selbstheilung zu entdecken. Wie lässt sich daraus am besten eine akademische Studie machen?

Mit Dankbarkeit und herzlichen Grüßen aus Aberdeen

MARGARET DONALD

PS: Ich werde nächstes Jahr 80, insofern zählt für mich jede Minute!

Natürlich schrieb ich zurück. Unter anderem versicherte ich Margaret, dass sie ganz im Einklang mit den neuesten Strömungen der akademischen Medizin sei, offenkundig sehr viel mehr als diejenigen, die ihr von ihrem Vorhaben abgeraten hatten. Ich schickte ihr Liste mit Literaturangaben zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, in denen ihr Thema, der Zusammenhang zwischen »Meditation« und »Heilung«, untersucht wurden.

*

In verschiedenen Studien hat sich gezeigt, dass bei Versuchspersonen, die man anwies, während einer Untersuchung im Computertomographen einfach nur da zu liegen und nichts zu tun, ein wichtiges Netzwerk in einer diffusen Region des zerebralen Kortex, die sich unterhalb der Mittellinie der Stirn nach hinten erstreckt, in hohem Maße aktiv wird. Dieses Netzwerk, das aus einer Reihe verschiedener spezialisierter Strukturen besteht, ist inzwischen als »Ruhezustandsnetzwerk« (Default Mode Network – DMN) bekannt. Dieser Name stammt daher, dass wir automatisch in ein gedankliches Umherschweifen verfallen, wenn man uns auffordert, »nichts zu tun« und »einfach da zu liegen«. Und raten Sie mal, wohin uns das meist führt? Richtig: Wir fangen an, über unser liebstes Thema zu sinnieren – uns selbst, natürlich! Wir verfallen in Geschichten über die Vergangenheit (meine Vergangenheit), die Zukunft (meine Zukunft), Gefühle (meine Sorgen, mein Ärger, meine Depression), verschiedenste Lebensumstände (mein Stress, mein Druck, meine Erfolge, mein Scheitern), oder auch das, was mit dem Land, der Welt, den anderen nicht stimmt … Sie wissen sicher, was ich meine.

Interessanterweise konnte in einer Studie, die an der Universität von Toronto1 durchgeführt wurde, bei den Teilnehmerinnen eines MBSR-Kurses nach acht Wochen eine verringerte Aktivität des DMN und zugleich eine gesteigerte Aktivität in einem lateralen (seitlich gelegenen) neuronalen Netzwerk festgestellt werden. Dieses zweite Netzwerk nennt man das Experiental Network. Nach ihrem Erleben im Computertomographen befragt, berichteten diejenigen Studienteilnehmerinnen, die an dem achtwöchigen MBSR-Kurs teilgenommen hatten, einfach da gewesen zu sein, einfach atmend, sich ihres Körpers, ihrer Gedanken, ihrer Gefühle und der Geräusche bewusst, während sie da lagen.

Vielleicht ist es also so (obwohl noch viele weitere Forschungsarbeiten nötig sein werden, um das mit Sicherheit sagen zu können), dass die Achtsamkeitspraxis zu einer Verschiebung des Default Mode von unbewusster (man könnte auch sagen achtloser) Selbstversunkenheit, gedanklichem Umherschweifen, Geschichtenerzählen, Tagträumen und Gedankenverlorenheit hin zu mehr Präsenz, mehr Achtsamkeit und mehr Bewusstheit führt, auch wenn Gedanken und Gefühle natürlich weiterhin auftauchen.

In dieser Studie zeigte sich, dass sich die beiden Netzwerke (das geschichtenerzählende und das erfahrungsbasierte Netzwerk) nach einem achtwöchigen MBSR-Kurs entkoppeln. Selbstverständlich funktionieren beide Netzwerke weiterhin. Schließlich ist es für Kreativität und Vorstellungskraft wichtig, gelegentlich Tagträumen nachzuhängen.2 Es ist ebenfalls sehr wichtig, die eigene Vergangenheit von der Gegenwart und der imaginierten Zukunft unterscheiden zu können, wie in der Geschichte über meinen Vater im Kapitel »Orientierung in Zeit und Raum« deutlich werden wird. Doch nach acht Wochen Achtsamkeitspraxis scheint es so zu sein, dass das erfahrungsbasierte, nicht an Zeit gebundene laterale Netzwerk im Kortex auf das zentral gelegene DMN einwirkt, sodass durch dieses Zusammenspiel mehr Weisheit und Entscheidungsfreiheit in einem jeden Moment möglich wird, statt bloßem automatischen Funktionieren und dem gewohnheitsmäßigen Glauben an implizite Geschichten über ein Selbst, das viel zu klein ist, um auch nur dem nahezukommen, wer und was wir eigentlich sind, in all unserer Fülle, genau hier und jetzt.

In den zwölf Jahren, seit mein Buch Zur Besinnung kommen erstmals erschien, ist die Zahl an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu Achtsamkeit und an Belegen bezüglich ihrer klinischen Effektivität geradezu explodiert. Zu den Befunden zählen Veränderungen in der Größe und dem Durchmesser verschiedener Gehirnstrukturen bei Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, sowie eine gesteigerte funktionale Verbundenheit zwischen verschiedenen Gehirnregionen. In einigen Studien zeigen sich Veränderungen in der Genexpression auf der Ebene der Chromosomen – auch genannt »epigenetische Effekte« – in anderen wurden Auswirkungen auf die Länge der Telomere nachgewiesen: ein biologisches Maß für die Auswirkung von Stress auf unser Leben, insbesondere von intensivem Stress. Der Tenor der Beweislage in diesen Studien sowie in Hunderten weiteren, die Jahr für Jahr veröffentlicht werden, ist, dass an der Praxis der Achtsamkeit etwas dran sein muss, das einen großen Einfluss auf unsere Biologie, unsere Psychologie und sogar auf unsere Interaktionen miteinander, also unsere Sozialpsychologie, haben kann. Zwar steckt die wissenschaftliche Forschung zu Meditation noch immer in den Kinderschuhen, doch inzwischen ist sie deutlich ausgereifter als vor zwölf Jahren. Wenn Sie sich für einige der beständigsten Befunde interessieren, die einerseits aus zahlreichen Studien an Mönchen und Nonnen stammen, die auf Zehntausende Stunden Meditationspraxis zurückblicken, und andererseits aus Studien an Menschen, die an MBSR- und MBCT-Kursen teilgenommen haben, empfehle ich Ihnen, einen Blick in das Buch Altered Traits von meinen Kollegen Richard Davidson und Daniel Goleman zu werfen, das im Oktober 2017 erschienen ist. Darin sind viele der besten Studien und deren Befunde zusammengefasst. Da das Feld inzwischen so weit geworden ist und weiterhin rapide wächst, habe ich in diesem Buch darauf verzichtet, jüngere Studien im Detail zu schildern, obgleich ich einige davon erwähne. Falls Sie die neuesten Entwicklungen genauer nachvollziehen möchten: Eine Reihe von ausgezeichneten Büchern zum Thema, hauptsächlich von Wissenschaftlerinnen für eine Laienleserschaft verfasst, sind in den Literaturverweisen am Ende dieses Buches aufgelistet, daneben auch einige, die sich eher an ein wissenschaftlich und medizinisch versiertes Publikum richten.

*

Wenn wir die formale Meditationspraxis in unser alltägliches Leben hinein ausweiten, dann wird das Leben selbst zu unserem Achtsamkeitslehrer. Es bietet uns zudem das beste Curriculum für unsere Heilung, nämlich genau da ansetzend, wo wir uns sowieso gerade befinden. Die Prognose ist sehr gut: Auch Sie können von dieser neuen Seinsweise profitieren, wenn Sie sich mit ganzem Herzen der Praxis widmen und einen der zahlreichen Zugangswege nutzen, die Ihnen durch Ihr Menschsein an sich und in Ihren aktuellen Umständen offen stehen. Jeder Umstand, egal wie ungewollt oder schmerzhaft, ist eine potenzielle Tür in die Heilung. In der Welt der Achtsamkeit als Praxis und als Seinsweise gibt es viele, viele Türen. Sie alle führen in den gleichen Raum, den Raum des Gewahrseins an sich, den Raum des eigenen Herzens, den Raum Ihrer eigenen innewohnenden Ganzheit und Schönheit. Ganzheit und Schönheit sind bereits da, in Ihnen, wie auch Ihre intrinsische Fähigkeit zu Wachheit, selbst unter den aufreibendsten Umständen.

Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis zu etablieren, bedeutet eine große Veränderung des eigenen Lebensstils, wie MBSR-Teilnehmerinnen meist schnell selbst herausfinden, auch wenn sie das stets gesagt bekommen, bevor sie sich anmelden. Aber wenn wir die Disziplin einer täglichen formalen Achtsamkeitspraxis als Experiment durchführen und uns, so gut es uns gelingt, mit ganzem Herzen jeden Tag aufs Neue darauf einlassen, entdecken wir bald, dass wir einige Freiheitsgrade in unserer Entscheidung haben, wie wir uns auf das Unerwünschte oder das Beängstigende in unserem Leben beziehen, – ohne dabei zu leugnen, wie unerwünscht oder beängstigend manche Dinge sein können. In genau dieser Kultivierung von Achtsamkeit, als formale Meditationspraxis und als Seinsweise, entdecken wir, dass wir kraftvolle innere Ressourcen haben, aus denen wir schöpfen können, wenn wir dem Unerwünschten, Stressigen, Schmerzhaften oder Erschreckenden ins Auge blicken. Wir erleben, dass wir zahllose Gelegenheiten haben, uns dem, was auftaucht, zuzuwenden und uns damit anzufreunden, anstatt davor davonzulaufen oder uns einzumauern – ihm sozusagen den roten Teppich auszurollen. Warum? Aus dem einfachen Grund, dass es ohnehin bereits da ist. Und das Gleiche gilt für das Erwünschte, das Angenehme, das Verführerische, für Verstrickungen aller Art. Auch diese Erfahrungen können zu Objekten unserer Aufmerksamkeit werden, sodass wir uns vielleicht weniger darin verfangen oder sogar süchtig danach werden auf Weisen, die uns und anderen schaden oder uns von unseren eigentlichen Absichten ablenken.

Und genau an dieser Stelle kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Es ist tatsächlich eine neue Seinsweise… eine neue Weise, in Beziehung zu den Dingen zu sein, so wie sie in diesem Moment sind, ob wir die Umstände, in denen wir uns befinden, nun mögen oder nicht, und unabhängig von unseren Gedanken darüber, was diese Umstände für die Zukunft bedeuten mögen. In der Praxis können wir Nicht-Wissen erkunden; wir können lernen, darin zu verweilen, und zumindest für diesen einen Augenblick mit dem Nicht-Wissen in Frieden zu sein. Es ist eine eigene Form von tiefer und heilsamer Intelligenz, sich damit vertraut zu machen und sogar damit einverstanden zu sein, zu wissen, dass wir nicht wissen. Zum einen befreit uns das von extrem eingrenzenden oder größtenteils nicht zutreffenden Geschichten, die oft auf Angst basieren und die wir nie müde werden, uns selbst zu erzählen, aber so gut wie nie wirklich darauf hin untersuchen, ob sie tatsächlich wahr sind, oder zumindest wahr genug in Anbetracht der Umstände, in denen wir uns befinden. Die meisten Gedanken, die das Wort sollte beinhalten, fallen wahrscheinlich in diese Kategorie. Wir denken, dass die Dinge auf eine bestimmte Weise sein sollten, aber stimmt das denn überhaupt?

Diese neue Seinsweise lädt zu etwas ein, das zunächst so wirken mag, als würden Sie sich selbst und die Welt ein klein wenig anders betrachten. Wie klein dieser Wandel auch sein mag, er ist zugleich auch riesig, tiefgreifend und vielleicht sogar befreiend, so wie er es für Margaret Donald war, die Verfasserin des obenstehenden Briefes. Wenn Menschen, oft sehr emotional, davon sprechen, dass die Praxis ihnen ihr Leben zurückgegeben oder es gerettet habe, nehme ich an, dass sie sich auf diesen kleinen Wandel, der gar nicht so klein ist, hin zu einer neuen Seinsweise beziehen.

Durch stete Hinwendung, Zugewandtheit und Sanftheit – und genau darum geht es bei den formalen und informellen Achtsamkeitsübungen, die in Teil 2 detailliert beschrieben werden – sind wir nun in der Lage, Achtsamkeit als Seinsweise zu leben. Wenn Achtsamkeit ein Diamant mit vielen Facetten wäre, dann könnte man sich jedes Kapitel in diesem Buch als eine von potenziell unendlich vielen einzigartigen Facetten vorstellen, von denen eine jede eine Eintrittspforte in die kristalline Struktur Ihrer eigenen Ganzheit und inneren Schönheit darstellt.

Man könnte aber auch eine andere Metapher verwenden und sagen, dass Achtsamkeit uns eine Reihe von fein geschliffenen Linsen anbietet, durch die wir einen Blick darauf werfen können, wie wir das, was in unserem Leben auftaucht, sei es erwünscht oder unerwünscht, in jedem Moment aufs Neue willkommen heißen und in der Tiefe betrachten können. Im zweiten Teil dieses Bandes stelle ich eine ganze Reihe solcher Perspektiven dar; viele davon stammen aus meiner eigenen Erfahrung. Doch es gibt unzählige weitere, die sich aus Ihrem eigenen Leben und Ihrer eigenen Kultivierung von Achtsamkeit ergeben werden, wenn Sie sich mit ganzem Herzen darauf einlassen, und sei es nur als Experiment für eine gewisse Zeit, damit Sie selbst sehen können, was sich daraus entfaltet.

 

Diese neuen Perspektiven werden Ihnen letztlich vielleicht helfen, Ihre jeweiligen eigenen Lebensumstände und Herausforderungen dazu zu nutzen, sich selbst an Ihrer eigenen Tür willkommen zu heißen, wie im letzten Kapitel dieses Buches vorgeschlagen, und mithin Ihre eigene ursprüngliche Fülle und Schönheit zu erkennen, wiederzuentdecken und zu verkörpern. Dies kann sich nur von Moment zu Moment entfalten, insbesondere, wenn Sie sich dazu entschließen, Ihr Leben so zu leben, als käme es wirklich darauf an, und zwar in dem einzigen Moment, den Sie, genau wie wir alle, je haben werden.

»So lange Sie atmen, ist mehr mit Ihnen in Ordnung, als mit Ihnen nicht stimmt, ganz egal, was das Problem ist«, sagen wir oft zu den Menschen, die für einen MBSR-Kurs in die Stress Reduction Clinic kommen. Achtsamkeit zu kultivieren ist ein Weg, Energie in Form von Aufmerksamkeit, Bewusstheit und Akzeptanz in das fließen zu lassen, was bereits mit Ihnen stimmt, was bereits heil ist, in Ergänzung zu und nicht als Ersatz für die Hilfe, die Unterstützung und die Behandlungen, die Sie gegebenenfalls bekommen oder benötigen – und zu sehen, was dann passiert.

Für dieses lebenslange Abenteuer wünsche ich Ihnen das Allerbeste.

Jon Kabat-Zinn

Northampton, MA

16. Mai 2018

1 Farb, Norman et al., Attending to the present: Mindfulness meditation reveals distinct neural modes of self-reference. In: Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2 (4), 2007, S. 313–322. Auf: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18985137 (Stand: 22. 11. 2019) (doi: 10.1093/scan/nsm030)

2 Gedankenabschweifung und Tagträumerei werden unterschiedlich definiert. Das Abschweifen von Gedanken tritt bei spezifischen Tätigkeiten auf, wie Lesen oder Meditieren, wenn Sie versuchen, konzentriert zu bleiben. Tagträumen geschieht nach Definition, wenn Sie nicht versuchen, konzentriert zu bleiben, um etwas zu erledigen. Vgl. Amishi Jha auf www.youtube.com oder www.ted.com