Achtsamkeit für alle

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Jon Kabat-Zinn

Achtsamkeit für alle

Jon Kabat-Zinn

Achtsamkeit für alle

Weisheit zur Transformation der Welt

Aus dem amerikanischen Englisch

von Stephan Schuhmacher

und Mike Schäfer


Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel:

Mindfulness for All: The Wisdom to Transform the World bei Hachette Books, New York, USA.

Dieses Buch basiert auf einem Teil des erstmals 2006 im Arbor Verlag erschienenen Buches »Zur Besinnung kommen«. Die Neuausgabe wurde komplett neu überarbeitet, aktualisiert, erweitert und neu übersetzt.

1. Auflage 2020

© 2020 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg Copyright der Originalausgabe © 2019 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D. This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA, All rights reserved.

Lektorat: Georg Grässlin

Titelfoto: © Snaphappyraa/gettyimages.de

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten.

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-323-5

für Myla

für Stella, Asa und Toby

für Will und Teresa

für Naushon

für Serena

in Erinnerung an Sally und Elvin

sowie Howie und Roz

und für all jene, denen das am Herzen liegt,

was möglich ist

was ist, wie es ist

die sich bemühen um

Weisheit

Klarheit

Güte

und Liebe

Inhalt

Vorwort

Erster Teil Die Heilung des politischen Gemeinwesens

Die Heilung des politischen Gemeinwesens

»I read the news today, oh boy«

Selbstgerechtigkeit bringt uns nicht weiter

Politik im 21. Jahrhundert – einmal anders

Was wir von der Medizin lernen können

Die zähmende Kraft der kleinen Dinge

Achtsamkeit und Demokratie

»Talking Vietnam Meditation Blues« – Ein Schnappschuss aus der Vergangenheit. Oder aus der Gegenwart? Und der Zukunft?

Wag the dog – Lass den Schwanz mit dem Hund wedeln

»Ich weiß nicht, was ich ohne meine Praxis gemacht hätte!«

Alle Ablenkungen außer Kraft gesetzt

Momente der Stille

Die Achtsamen sind im Kommen

Zweiter Teil Was wir tun, soll die Schönheit sein, die wir lieben

Unterschiedliche Arten des Wissens machen uns klüger

Auf der Schwelle: Karma trifft Dharma – Ein Quantensprung für den Homo sapiens sapiens

Reflexionen über das Wesen der Natur und unseren Platz darin

Verborgene Dimensionen entfaltet

Die Dinge richtig einordnen

Dank

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Achtsamkeit für alle! Was für ein verwegener Gedanke.

Aber mal im Ernst: warum denn nicht? Vor allem in den heutigen Zeiten, wo wir individuell und kollektiv unter so vielfältigem Stress stehen, innerlich und äußerlich.

Und von der Weisheit her gedacht, die die Welt umkrempeln könnte, ist es keineswegs Angeberei. Diese Weisheit ist ein allseits verfügbares Potenzial, das in uns allen in kleinen, jedoch (wie ich klarzumachen hoffe) keineswegs unbedeutenden Formen bereitliegt. Diese Weisheit ist durch Achtsamkeit kultivierbar, in kleinem wie auch in ganz großem Stil. Ich hatte das Privileg, sie in den vergangenen vierzig Jahren in vielen verschiedenen Bereichen erblühen und wachsen zu sehen. Nun breitet sich diese beginnende Weisheit in der Welt aus, wird stärker und gleichzeitig immer dringlicher.

Der evolutionäre Beitrag meditativer Bewusstheit

Wenn es zum vorgebahnten Evolutionsweg von uns Menschen gehört, dass wir uns allmählich immer besser kennenlernen und dadurch ein bisschen mehr den Namen verdienen, den wir unserer Spezies gegeben haben;1 und wenn es ebenfalls zum vorgebahnten Evolutionsweg von uns Menschen gehört, dass wir uns nicht selbst zerstören oder albtraumhafte Dystopien schaffen, die noch schlimmer sind als die, die in die Welt zu setzen wir bereits geschafft haben – dann werden wir eine völlig neue Art von Verantwortung für uns selber übernehmen müssen, für unser Denken, unsere Gesellschaft, unseren Planeten. Sonst werden wir (wenn die Entwicklungen der Vergangenheit auch nur auf einen Bruchteil dessen schließen lassen, was uns erwartet) wissentlich oder unwissentlich, durch aktive Beihilfe oder durch Unterlassen unseren (vielleicht gar nicht so unbedeutenden) Teil dazu beitragen, eine hochgradig ungesunde, ja toxisch lebensfeindliche Welt zu schaffen, in der niemand mehr leben möchte. Und das ist wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrtausends. Die chronische Misere der Menschheit wächst sich vor unseren Augen immer weiter aus. Es wird auch immer schwerer, sie zu ignorieren, und wir bringen uns damit individuell und kollektiv in höchste Gefahr.

Es ist also kein Hype und auch kein Wunschdenken, sich Achtsamkeit für alle und die Ausbildung größerer, lebendiger Weisheit in Bezug auf unsere Lebensführung und unseren Umgang mit der Welt zu wünschen. Für unser kurz- und langfristiges Überleben, unsere Gesundheit und unsere Weiterentwicklung als Spezies ist es vielleicht ein, wenn nicht der zentrale Faktor. Aber um dieser enormen Herausforderung gewachsen zu sein, muss die Achtsamkeit, die ich meine, authentisch sein, eingebettet in einen universellen Dharma-Rahmen, der Weisheit und Mitgefühl stärkt und fördert.2 So, wie ich den Begriff benutze, ist Achtsamkeit eine Art zu sehen und zu sein, die auf diesem Planeten eine lange Geschichte hat. Sie hat im Moment auch eine ziemliche Eigendynamik, weil sie in zunehmendem Maße und auf verschiedenste Weise in den Mainstream verschiedener Kulturen und Gesellschaften eindringt. Der Ansatz, den ich vertrete, muss prinzipiell auf jeder Ebene von einer ethischen, konkreten, gelebten und letztendlich selbstlosen Weisheit und Handlungsweise getragen und geleitet sein (und ist es auch). Am besten stellen wir uns Achtsamkeit als einen Zufluss zum großen Strom menschlicher Weisheit vor. Während ihre tiefsten und weitestverzweigten Quellen im Buddhismus liegen, ist ihre Essenz universell und ist auf die eine oder andere Art in allen menschlichen Kulturen und Traditionen zum Ausdruck gekommen.

So wie ich es sehe, könnte eine zunehmend weitere Verbreitung und Praxis von Achtsamkeitsmeditation im Leben und Arbeiten jedes Einzelnen, ebenso wie ihre bewusste Anwendung Moment für Moment und Tag für Tag, in der Art und Weise, wie wir auf unsere Lebenswelt reagieren, für ein höchst vielfältiges Spektrum an Völkern, Kulturen und Lebenszielen auf diesem Planeten potenziell die Grundvoraussetzung liefern für authentisches Wohlbefinden, Zufriedenheit und Klarheit. Achtsamkeit hat uns allen, sei es als Individuen oder als globale menschliche Gemeinschaft, etwas zu bieten. Aber es dürfte wohl außer Frage stehen, dass – an der ganz besonderen Weggabelung in der Entwicklung unserer Spezies, an der wir auf unserer weitaus-fragileren--als-wir-bisher-gedacht-haben planetaren Heimstätte stehen –, dieses transformative Potenzial natürlich realisiert, d. h. verwirklicht werden muss.

Einer der zahlreichen Indikatoren, die in letzter Zeit darauf hindeuten, dass Achtsamkeit auf weitreichende Weise in den Mainstream übergeht, ist die Tatsache, dass der Historiker Yuval Noah Harari im letzten Kapitel seines Buches »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« über Achtsamkeit spricht.3 Darin enthüllt er, dass er seit einem zehntägigen Retreat im Jahre 2000 jeden Tag meditiert und dazu jedes Jahr an einem intensiven Schweige-Retreat von ein- oder zweimonatiger Dauer teilnimmt (bei dem Bücher und Social Media nicht erlaubt sind).4 Das allein sagt schon viel aus. Nachdem er uns zwei erstaunlich populäre, tiefschürfende, provokative und scharfsinnige Bände vorgelegt hat, in denen er die Geschichte der menschlichen Grundsituation beschreibt5 sowie die Herausforderungen, denen wir als Spezies in naher Zukunft gegenüberstehen (manches davon ziemlich erschreckend),6 destilliert sein jüngstes Buch, ebenfalls ein Bestseller, aus diesen akademischen Studien einundzwanzig zentrale Lektionen für die Gegenwart. Ich fand es enorm aufschlussreich und ermutigend, dass Harari, der so viele verschiedene Themenstränge aus der Geschichte gekonnt miteinander verwebt, um aufzuzeigen, welche enormen Herausforderungen auf unsere Spezies warten, sich in seinem eigenen Leben ganz bewusst die nüchterne Disziplin der Achtsamkeitsmeditation zu eigen gemacht hat und diese als ein zwar etwas utopisch anmutendes, aber vielleicht unverzichtbares Element unserer Entwicklung benennt, wenn wir als Spezies den künftigen Umgang mit den neuen Herausforderungen, die von der Informations- und der Biotechnologie herbeigeführt werden, geschickt einfädeln wollen – Herausforderungen, die er detailliert und ziemlich ernüchternd beschreibt.

 

Als die »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« am 9. September 2018 auf dem Titel der sonntäglichen »New York Times Book Review« unter der Überschrift »Thinking big« von Bill Gates besprochen wurden,7 denn Harari ist nun wirklich ein tiefschürfender und kreativer Denker und Lieferant historischer Synthesen, fragt Gates:

»Was meint nun Harari, was wir angesichts all dessen tun sollten? [D. h., angesichts der riesigen von Harari aufgezählten Herausforderungen, die uns als Spezies heute erwarten.] Das Buch ist gespickt mit praktischen Ratschlägen, darunter einer Dreifach-Strategie für den Kampf gegen den Terrorismus und ein paar Tipps, wie man mit Fake News umgeht. Aber seine ganz große Idee läuft auf eines hinaus: Meditiert! Natürlich will er damit nicht sagen, die Probleme der Welt würden verschwinden, wenn genügend Leute den Lotussitz einnehmen und OM summen. Aber er besteht darauf, dass das Leben im 21. Jahrhundert Achtsamkeit erfordert – dass wir uns selber besser kennenlernen und sehen, wie wir das Leid in unserem Leben selber erzeugen. Darüber kann man sich natürlich lustig machen, aber als jemand, der selbst einen Achtsamkeits- und Meditationskurs gemacht hat, finde ich es sehr überzeugend.«

Das ist eine bemerkenswerte Aussage, vor allem aus dem Mund von Bill Gates. Offensichtlich versteht er die Kraft der Achtsamkeit von innen heraus.

*

Ich würde die Grundaussage dieses Buches folgendermaßen umreißen: Bevor wir angesichts dessen, was sich am Horizont abzeichnet – künstliche Intelligenz, intelligente Roboter und die Aussicht auf digital, wenn nicht sogar biologisch aufgerüstete Menschen und vieles mehr, das Harari detailliert beschreibt – unser Menschsein aufgeben, täten wir vielleicht gut daran, erst einmal gründlich zu erforschen, was es heißen und wie es sich anfühlen könnte, voll und ganz Mensch zu sein, also ganz und gar hellwach und im Körper anwesend zu sein. Das ist sowohl der Appell als auch die Herausforderung dieses Buches (und aller vier Bände dieser Reihe). Aber es lädt Sie zu einer sehr persönlichen Form des Engagements ein, in dem Sinne, dass jede und jeder von uns nicht nur sich selbst, sondern auch der Welt gegenüber eine Verantwortung hat, durch das regelmäßige Kultivieren von Achtsamkeit – als Meditationspraxis und als eine Art zu leben – die eigene innere und äußere Arbeit zu tun und dadurch, so gut es uns möglich ist, die volle Dimensionalität unseres Seins und ihr Repertoire an Potenzialen hier und jetzt zu erkennen und zu bewohnen.

Weil die Grundelemente der universellen, auf Achtsamkeit und Meditation gegründeten Dharma-Perspektive, auf die ich mich beziehe, in den Weisheitstraditionen jeder menschlichen Kulturform zu finden sind, ist Achtsamkeit von vornherein inklusiv und fähig, Kommunikationsbarrieren zu beseitigen und gemeinsame Ziele zu entdecken, statt Zwietracht zu säen. Es gibt nicht den »einzig richtigen« Weg, sie zu kultivieren, und keinen Katechismus, kein Glaubenssystem, das man übernehmen muss. Darüber hinaus entwickelt sich diese neu entstehende Weisheits-Perspektive durch uns ständig weiter: dadurch, wie wir unser Leben führen und unsere ganz realen Herausforderungen und Chancen angehen. Sie reflektiert, was in uns Menschen – in unserer Vielfalt, aber auch in dem, was wir gemeinsam haben – immer schon das Tiefste und Beste gewesen ist.

Den eigenen Körper und Geist zum Freund machen: eine universelle Meditationspraxis

Natürlich muss die Art von Weisheit, über die wir sprechen, auf eine kontinuierliche Kultivierungsarbeit gegründet sein, und das heißt: auf irgendeine Form von Praxis, von der sie gefördert, gestärkt und vertieft wird. Denn Achtsamkeit ist nicht Achtsamkeit, wenn sie nicht gelebt wird. Und das heißt: leibhaftig verkörpert wird. Wer das auf diese Weise unternimmt, tut es nach bestem Vermögen – nicht als Ideal, sondern als kontinuierliche und sich ständig weiter entfaltende Art zu leben.

Warum?

Weil Achtsamkeit nicht einfach nur eine gute Idee ist, eine nette Philosophie, ein Glaubenssystem, ein Katechismus. Sie ist eine anspruchsvolle, universell anwendbare Meditationspraxis – universell deshalb, weil man Bewusstheit an sich, über alle Kulturen hinweg, als letztendlichen gemeinsamen Nenner unserer Menschlichkeit betrachten kann. Wenn alles gesagt ist, ist Achtsamkeit eine Art des Seins, eine Art und Weise, in Bezug auf das eigene Erleben da zu SEIN. Von Natur aus erfordert sie von uns als Individuen eine kontinuierliche Schulung und Förderung, wenn uns etwas daran liegt, als freie Menschen das Leben voll und ganz zu leben, und letztlich dies auch als solidarische und mitfühlende Gesellschaft tun wollen. Genauso, wie Musikerinnen ihre Instrumente regelmäßig vor jedem Konzert – und manchmal auch währenddessen! – immer wieder neu und exakt stimmen müssen, können wir uns Achtsamkeit als eine Art und Weise vorstellen, das Instrument der eigenen Aufmerksamkeit zu stimmen und zu »be-stimmen«, in welche Beziehung man zur eigenen Erfahrung treten will – jeder Erfahrung, aller Erfahrung. Egal, welches Niveau Sie als Musiker erreicht haben – stimmen müssen Sie Ihr Instrument immer. Und je versierter Sie als Musikerin sind, desto mehr müssen Sie üben. Es ist ein positiver »Teufelskreis«.

Sogar die genialsten Musiker und Musikerinnen üben. Wahrscheinlich sogar mehr als alle anderen. Allerdings gibt es bei der Achtsamkeit keine Trennung zwischen »Probe« und »Auftritt«. Warum? Weil es keinen Auftritt gibt und auch keine Probe. Es gibt nur den jetzigen Moment. Mehr wird es nicht. Man kann Bewusstheit nicht »verbessern«. Was wir durch die Praxis der Achtsamkeit kultivieren, ist ein breiterer Zugang zu, eine größere Vertrautheit mit unserer angeborenen Fähigkeit zur Bewusstheit – und die Fähigkeit, in diesem Bereich des Seins sozusagen einen ständigen Wohnsitz einzurichten, als Heimatbasis, aus der all unser Tun hervorfließt.

Viele Türen, ein Raum: Vielfalt und Inklusion sind oberstes Gebot

Die Praxis der Achtsamkeit (und wie sie sich in größerem Maßstab in der Welt manifestiert) muss so vielfältig sein wie die Interessengruppen, von denen sie verbreitet, betrieben, verkörpert und genutzt wird – von jeder auf eigene Art, genauso wie die Musik, die von der Menschenfamilie gespielt und genossen wird, zutiefst unterschiedlich ist, ein veritables Universum gelebter Expressivität und Verbundenheit.

Allerdings: Wenn Sie mich fragen, ob ich mir wegen des Wirbels, der mittlerweile um »Achtsamkeit« getrieben wird, nicht Sorgen mache (und angesichts der Tendenz, dass manche sich als »Achtsamkeitslehrer«/»Achtsamkeitslehrerinnen«) anpreisen, die wenig oder gar keine Basis aus ernsthafter Praxis und Studium haben), dann sage ich nur: Und ob! Und wie! Trägt der Titel dieses Buches zu diesem Hype bei? Ich hoffe jedenfalls nicht. Ich engagiere mich seit Jahrzehnten in dem Unterfangen, Achtsamkeit in den Mainstream der Welt zu tragen, auf eine Art und Weise, die den dharmischen Wurzeln treu bleibt und sie nicht denaturiert oder verwässert – und zwar genau deshalb, weil ich von ihrem tiefgreifenden, heilenden und transformativen Potenzial überzeugt bin und es selbst erlebt habe (so begrenzt das für mich als Einzelperson sein mag); von ihrer vielfältigen Anwendbarkeit und ihrer immer wieder dokumentierten Qualität, auf allen Ebenen, auf denen diese Begriffe sinnvoll sind, zu Gesundheit und Wohlbefinden beitragen zu können. Und die wissenschaftliche Erforschung der Achtsamkeit (die zwar noch in den Kinderschuhen steckt, wenn auch nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren) liefert genug Beweise, dass es in Medizin und Klinischer Psychologie viele verschiedene Anwendungsformen für sie gibt außer MBSR (Stressreduzierung auf Achtsamkeitsbasis) und MBCT (Kognitive Therapie auf Achtsamkeitsbasis), die in vielen Bereichen Entscheidendes beitragen: im Bildungswesen, in der Justiz, in der Wirtschaft, im Sport, im Sozialen, sogar in der Politik.

Meine ich mit »Achtsamkeit für alle!«, dass auf einen Schlag jeder Mensch auf der Welt eine ernsthafte und persönlich stimmige Meditationspraxis anfangen oder sich aussuchen wird? Nein. Natürlich nicht. Trotzdem (und das war, von 1979 her gesehen, als MBSR an der »Stress Reduction Clinic« der Medizinischen Abteilung der Universität von Massachusetts entstand, absolut utopisch) integrieren immer mehr Menschen auf der ganzen Welt, und auch in immer vielfältigeren und heterogeneren sozialen Zusammenhängen, eine konsequente und kontinuierliche Achtsamkeits-Meditationspraxis in unterschiedlichem Maße in ihr Leben – von Flüchtlingen im Südsudan bis zu Feuerwehrleuten der US-amerikanischen Fortsbehörde; von Kindern in Programmen zur schulischen Ganztagesbetreuung in innerstädtischen Problembezirken Baltimores bis hin zu Polizistinnen auf großen Polizeirevieren; von Menschen, die in ganz Los Angeles Woche für Woche bei den öffentlichen Meditationen vorbeischauen, die vom »Forschungszentrum für achtsame Bewusstheit« der Universität von Los Angeles angeboten werden, bis zu Patienten, die an Achtsamkeitsprogrammen teilnehmen, die von der Achtsamkeits-Initiative der »Shanghai Medical Society« gefördert werden; von der weltweiten Arbeit von Tochter-Organisationen des »Zentrums für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitswesen und Gesellschaft« bis zum noch umfassenderen, weltweiten Netzwerk von MBSR-Lehrerinnen und Lehrerausbilderinnen in klinischen und universitären Zentren und eigenständigen Programmen. Achtsamkeit schlägt auf allen Kontinenten Wurzeln (außer vielleicht der Antarktis): in Nordamerika, Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika.

Aber wenn Sie mich fragen, ob ich mit dieser Formulierung »Achtsamkeit für alle!« meine, dass wir alle, als einzigartige menschliche Wesen – jung oder alt, was wir auch tun, welche Ansichten wir auch hegen, wie die Vergangenheit und die unterschiedlichen Strömungen unseres kulturellen Erbes uns auch geprägt haben, welche Gruppen es auch immer sind, mit denen wir uns identifizieren oder denen wir angehören, religiös, spirituell, philosophisch, weltlich oder sakral, rechts oder links, pessimistisch oder optimistisch, zynisch oder großherzig – von einem geschärften Bewusstsein dafür profitieren könnten, wie »wir das Leid in unserem Leben selber erzeugen«, im eigenen, aber auch in dem von anderen; und wie wir alle von größerer Wachheit und einer gesteigerten Bewusstheit für unsere gegenseitige Verbundenheit profitieren können, für das Gewebe allen Lebens auf diesem Planeten und in dem Universum, das wir bewohnen – davon profitieren, dass wir die essenzielle, unpersönliche Nicht-Selbst-Natur aller Phänomene erkennen und einsehen, auch unserer selbst,8 dann ist die Antwort ein deutliches »Ja«. Aber selbstverständlich! Mehr noch: Ich glaube, es könnte zum momentanen Zeitpunkt die wichtigste evolutionäre Chance für die Menschheit sein, dass wir uns in unserer Ganzheit und Unversehrtheit und unserer gegenseitigen Verbundenheit als Spezies erkennen und fähig sind, aus dem Bewusstsein einer größeren Ganzheit heraus zu handeln statt aus einem kleinlichen, oft angstgetriebenen und falsch verstandenen Eigeninteresse heraus, aus beschränkten und blockierenden Narrativen, wer wir seien (die wir doch lebendige, atmende Wesen sind, auf diesem Planeten nur für kurze Zeit; die volle Spanne eines Menschenlebens, wenn wir Glück haben, ist ein Wimpernschlag angesichts kosmologischer, geologischer, evolutionärer Zeiträume).

Wenn Sie ein Mensch sind und leiden, könnte diese Praxis etwas für Sie sein

Um es einen Moment lang ganz persönlich zu machen: Warum hätten Sie überhaupt den Impuls haben sollen, dieses Buch in die Hand zu nehmen, wenn Sie sich nicht auf irgendeine Weise intuitiv von dieser Möglichkeit in sich und für sich angezogen gefühlt hätten? Ich tippe einfach mal, dass es so ist, auch wenn Sie sich nicht sicher sind oder waren, dass Sie Ihre eigene Meditationspraxis überhaupt beginnen oder über Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte aufrecht erhalten und ausbauen könnten. Tatsache ist: Sie können das. Sie können Ihre eigene Meditationspraxis auf eine Weise entwickeln, die für Sie funktioniert. Und mehr und mehr Menschen auf diesem Planeten tun das. Sie müssen nur anfangen, müssen den großen Zeh ins kalte Wasser tunken (was Sie ja schon getan haben, wenn Sie bis hierher gelesen haben). Wenn es stimmt, was ich hier sage, dann erledigt sich der Rest von selbst … es wird sich ergeben, dass das Leben Sie unterrichten wird, Sie auf eine Weise stärken und beleben wird, die Sie sich nicht hätten träumen lassen, die Sie aber mit der Zeit erkennen und wertschätzen werden, während Sie ein bisschen wacher werden, indem Sie eine nicht-wertende, jeden Moment neue Bewusstheit kultivieren.

 

Das Leben ist der ultimative Meditationslehrer

Die Praxis der Achtsamkeit läuft letztendlich darauf hinaus, wie Sie Moment für Moment für Moment entscheiden, Ihr Leben zu leben, während Sie es noch können. Etwas konkreter: darauf, wie Sie sich entscheiden, Ihr Leben im Verhältnis zu den Dingen zu leben, denen Sie auf dem Gebiet begegnen, das ich manchmal »die totale Katastrophe« der menschlichen Grundsituation nenne, oder – etwas persönlicher: die totale Katastrophe, die das Leben jeder und jedes Einzelnen manchmal ist.

Was den Hype angeht, könnte es vielleicht nützlich sein, das Wort »Achtsamkeit« mal einen Moment beiseite zu lassen. Es ist ja nur ein Wort. Wir zeigen auf etwas hinter dem Wort, auf seine tiefste Bedeutung, nämlich reine Bewusstheit – vielleicht der bemerkenswerteste Charakterzug der Menschheit und einer ihrer evolutionären Aktivposten.

Sobald wir uns im Bereich reiner Bewusstheit befinden, sind wir auch im Bereich der Relationalität. Genau deshalb nämlich, weil Sie achtgeben, wird es viel einfacher, zu sehen, wie in diesem vernetzten Universum alles mit allem zusammenhängt. Die Herausforderung für uns, die wir die Grundausstattung besitzen, in unserer Bewusstheit verweilen zu können, und uns dieser Bewusstheit auch bewusst zu sein, ist die: Wie interagieren wir innerlich und äußerlich mit der Realität, sowohl im Bereich des Da-Seins (Wachheit) und im Bereich des Tuns (Tätig-Werdens)? Sobald Sie Ihre eigene Bewusstheit einmal angezapft und zu bewohnen gelernt haben, gibt es keinen Rückweg mehr in den Schlaf. Wozu auch?

Achtsamkeit ist und war auch immer eine Sache von »Herzerfülltheit«. Im Chinesischen und vielen anderen asiatischen Sprachen ist das Wort für »Geist« und das Wort für »Herz« dasselbe. Im Chinesischen besteht das Ideogramm für Achtsamkeit aus dem Schriftzeichen für »Präsenz« oder »jetzt« über dem Zeichen für »Herz«. »Achtsamkeit« ist also »Herzerfülltheit«.9 Sie war es immer. Und das bedeutet, dass sie von Grund auf ethisch orientiert ist. Sie muss auf Nicht-Verletzen gegründet sein und ist es auch. Warum? Weil es nicht möglich ist, gelassen zu sein, im Reinen mit dem eigenen Herzen, wenn Sie aktiv andere verletzen oder töten, oder lügen, stehlen, sexuelles Fehlverhalten zeigen oder schlecht über andere reden. Diese Dinge sind das Gegenteil von Nicht-Verletzen und von grundlegender menschlicher Güte.

Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, Wie es auch hieße, würde lieblich duften …

Auf ähnliche Weise könnten wir auch sagen, dass Achtsamkeit auf eine tiefgründige Art auch Herzensgüte ist.10 Wäre gegen dieses Wort etwas einzuwenden? Wäre »Herzensgüte« zu schwierig, zu anspruchsvoll, allzu übertrieben? Ich bezweifle es. Ein Akt authentischer Güte und Freundlichkeit ist normalerweise spontan und großzügig. Er entspringt einem im Moment wahrgenommenen Bedürfnis und antwortet auf freundliche Weise, aus dem Impuls heraus, sich in Verbindung setzen und vielleicht helfen zu wollen. Aber dem Impuls geht ein Moment nicht-begrifflichen Erkennens voraus, ein spontanes Erkennen, bevor Gedanken auftauchen, dass von uns irgendetwas erwartet wird – vielleicht einfach nur, dass wir jemandem in einem heiklen Moment ein Lächeln schicken, oder auch mehr, dass wir vielleicht einem anderen unbemerkt etwas Großzügiges zukommen lassen. Dieses Erkennen ist ein Moment unaufgeforderten Wahrnehmens, der aus der Bewusstheit selber entspringt. Das ist Achtsamkeit.

Die Initiative könnte von allem ausgehen, was im jeweiligen Moment eine herzerfüllte und herzliche Antwort entstehen lässt: sei es nun eine nahestehende Person (vielleicht Ihr Kind) oder aber eine Obdachlose auf der Straße oder im Straßenverkehr die Person im nächsten Auto. Der Akt selber ist nicht so wichtig. Das Erkennen ist wichtig. Und diese Erkenntnisfähigkeit ist angeboren. Sie ist unsere menschliche Grundausstattung. Dieser Moment des Erkennens ist ein Moment spontaner Achtsamkeit. Er ist ein Moment des Nicht-Isoliert-Seins. Er ist nicht durch Gedanken vermittelt, obwohl er später natürlich durch Gedanken verstärkt und abgerundet werden kann. Er ist ein direktes, sich im Moment entfaltendes Auffassen, dem spontan eine direkte, (hoffentlich) angemessene Aktivität folgt, falls Aktivität gefragt ist oder entsteht (was nicht immer der Fall sein muss).

Zu dieser Art des Erkennens im gegenwärtigen Moment sind wir alle fähig. Wir sind von vornherein schon darin aktiv, wenn die Umstände es von uns verlangen. Warum es also nicht jeden Moment tun? Warum nicht Moment für Moment erkennen, was sich in der Wirklichkeit in Ihnen und um Sie herum entfaltet? Das ist Achtsamkeit. Es ist diese in uns angelegte Fähigkeit, zu erkennen, was im Moment am meisten ins Auge springt, am wichtigsten ist, am dringendsten gefragt ist. Sie werden erleben, dass diese Fähigkeit zutiefst vertrauenswürdig ist.

Und wir haben sie schon, oder wir könnten sagen: Wir sind sie schon. Es ist im Grunde genau diese Fähigkeit – einfach zu sehen, was zu sehen ist, und dann zu handeln! Dieses Handeln auf der Basis dessen, was wir erfassen, was wir erkennen, sieht manchmal so aus, als würden wir in diesem Moment der Bewusstheit gar nichts tun. Es ist aber nicht so, sogar wenn Sie gar nichts machen, nicht einmal lächeln. Warum? Weil sich in Ihnen schon etwas gerührt hat. Warum diese angeborene Fähigkeit zum Erkennen der Dinge, wie sie sind, nicht anerkennen? – jenseits aller Etiketten und Gedanken über sie, jenseits von Namen und Formen, sondern vorstoßend zur Essenz dessen, was im Moment vor sich geht, ohne Begriffe, bevor das Denken einsetzt, oder hinter den aufsteigenden Gedanken?

Und warum nicht dieses Erkennen fördern, damit es sich in andere Bereiche unseres Lebens ausbreitet? Warum diesen latenten Keim in uns nicht nähren? Er ist schließlich eine Form der Intelligenz! Gut möglich, dass er sogar unsere liebenswerteste Qualität darstellt, von allen unseren menschlichen Qualitäten, die Fähigkeit, die in diesem Moment unserer Entwicklung vielleicht den entscheidenden Beitrag leistet, dass wir uns als Spezies weiterentwickeln können. Natürlich werden dann ein paar geschäftstüchtige Leute bald »Herzensgüte«-Armbändchen oder -seminare anbieten. Aber warum etwas kaufen oder zur Ware machen, was man bereits besitzt? Etwas, was bereits zur Grundausstattung unseres Wesens gehört? Warum sich nicht einfach damit anfreunden? Warum es nicht als Kompass benutzen und sich im Leben davon leiten lassen?

Oder, um die Metaphern zu wechseln: Warum die Welt nicht durch das Objektiv direkter Wahrnehmung sehen – des Erkennens –, und im Einklang mit den eigenen, lebendig verkörperten Werten leben? Warum sich nicht mit anderen zusammentun, denen dieselben Dinge am Herzen liegen wie Ihnen, und neue und kreative Wege finden, um verständiger mit unseren Lebensmomenten und den Chancen, für uns und andere eine Hilfe zu sein, in Beziehung zu treten? Um die Gesellschaft umzugestalten und nicht nur das Nicht-Verletzen als Leitprinzip in allen Beziehungen zu etablieren (wie beim Hippokratischen Eid in der Medizin, wenn er ernst genommen wird), sondern auch konkrete Schritte zu unternehmen, die Wunden im sozialen Gewebe zu heilen, die Wunden des Rassismus, der Ungleichheit, des Unrechts und der Armut, so gut es uns möglich ist, indem wir ganz bewusst die archaischen Impulse unseres Stammesdenkens niederringen und sie, so ist zu hoffen, in Momenten der Klarheit überwinden? Unser »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, bei dem wir diejenigen begünstigen, die uns ähnlich scheinen, und diejenigen dämonisieren, entmenschlichen, beschimpfen oder ignorieren, die anders sind – und damit letztendlich, unwillkürlich, uns selbst.

Demokratie 2.0 – ein dringend benötigtes Update mittels Achtsamkeit und Herzerfülltheit

In diesem Buch geht es um die Verwirklichung der Achtsamkeit nicht nur im persönlichen Leben, sondern in der größeren Welt, die wir zusammen bewohnen. Thomas Jefferson sagte einmal: »Dem kollektiven Körper ist Freiheit das, was dem Körper des Einzelnen die Gesundheit ist. Ohne Gesundheit kann der Mensch sich keines Vergnügens erfreuen; ohne Freiheit kann die Gesellschaft sich keines Glückes erfreuen.« Sicher hatte er recht. Und gleichzeitig war er ein Sklavenhalter, der trotz seiner Worte in der Unabhängigkeitserklärung, alle Menschen seien gleich geschaffen, anderen menschlichen Wesen die Freiheit verweigerte. Wir haben hier also eine ziemliche Ironie und Widersprüchlichkeit vor uns und den schmerzhaften Beweis, wie langsam der Prozess hin zu echter Demokratie vor sich geht, und wie mühsam es ist, aus den zahlreichen, schwer zu erkennenden Zwängen der eigenen Zeitumstände auszubrechen, die die Evolution und die Verwirklichung solch einer Abstraktion behindern, wie nobel und ehrwürdig sie auch immer sein mag. Die Errungenschaften der Zivilisation verwirklichen sich nie für alle. Den Versklavten ist ihr Sklavendasein stets bewusst. Für sie lässt es sich mit hehrer Rhetorik nicht übertünchen. Sie kennen die Wahrheit, weil sie die Unterdrückung erleben. Sogar im alten Athen, dem wir die Idee der Demokratie verdanken, war die Sklaverei ein wesentliches Element der sozialen Struktur. Und wenn wir über Sklaverei sprechen, dieses absolute Gegenteil von Freiheit: Wer kann sich auch nur ansatzweise vorstellen, welches Leid sie in die Welt gebracht hat und immer noch bringt? Dasselbe könnte vom Status der Frauen gesagt werden, denn die Athener Frauen waren vom demokratischen Prozess ebenfalls ausgeschlossen. Und was das betrifft: Noch vor weniger als hundert Jahren existierte eine verheiratete Frau in den USA ohne ihren Ehemann rechtlich gar nicht.