Sterben in Mexiko

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Sterben in Mexiko
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John Gibler

Sterben in Mexiko

Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs

Aus dem Englischen von Norbert Hofmann

FUEGO

Über dieses Buch

In Mexiko befinden sich die staatlichen Institutionen in Auflösung. Drogenkrieg, Korruption und ein gigantischer illegaler Geldfluß bringen ein ganzes System zum Kollabieren. Die Bevölkerung ist der Gewalt zwischen rivalisierenden Drogenkartellen, Polizei und paramilitärischen Organisationen hilflos ausgeliefert. Es handelt sich nicht um einen Krieg gegen die Drogen, wie die mexikanische Regierung Glauben machen will, sondern um die Neuaufteilung der Märkte, bei der der Staat mitmischt. Gibler führte in vielen Landesteilen Mexikos Gespräche mit Journalisten und Opfern. Er enthüllt dabei das Innenleben einer Nation, die durch und durch korrupt ist. Ein Beitrag zur Debatte, daß der Drogenkrieg nicht gewonnen werden kann, so lange die Drogen nicht legalisiert werden.


Morir en México (Sterben in Mexiko) von Antonio Helguera. Veröffentlicht von der mexikanischen Tageszeitung La Jornada am 15. März 2010. Die Grabinschriften lauten im Uhrzeigersinn von oben links: »Sie muss an etwas beteiligt gewesen sein; Es war eine Bandenfehde; Sie brachten sich gegenseitig um; Was machte er dort zu der Stunde?; Rechnungen wurden beglichen; Sie kleidete sich provozierend; Wer weiß, worin er verwickelt war; Sie war eine Hure.«

EINS

»Das Schweigen verlangt, daß seine Feinde plötzlich und spurlos verschwinden.« Ryszard Kapuscínskí

Die nackten Tatsachen sind so grauenerregend, daß sie die Grenze alles Glaubwürdigen überschreiten. Wer würde für wahr halten, daß die Direktorin eines Staatsgefängnisses verurteilten Mördern des nachts die Gefängnistüren öffnet und ihnen Dienstfahrzeuge, Schnellfeuergewehre und kugelsichere Westen zur Verfügung stellt, so daß sie in einem benachbarten Bundesstaat Dutzende unschuldiger Menschen niedermähen können, um anschließend ins Gefängnis zurückzukehren, mit einem perfekten Alibi? Wer würde glauben, daß eine paramilitärische Drogenorganisation, formiert aus Ex-Spezialkräften der mexikanischen Armee, einen einheimischen Polizisten kidnappen, ihn durch Folter zu dem Geständnis all der obigen Details über das Todeskommando der Häftlinge zwingen, das Geständnis auf Video aufnehmen, den Mann vor laufender Kamera mit einem Schuß ins Herz hinrichten und dann das Video auf YouTube zeigen? Wer könnte begreifen, daß der Generalbundesanwalt wenige Stunden nach dem Erscheinen des Videos im Internet die Gefängnisdirektorin festnehmen läßt und dann ein paar Tage später eine Pressekonferenz abhält, auf der er eingestand, daß das Killerkommando monatelang ungestört agierte und im Januar 2010 zehn Menschen in einer Bar, im Mai 2010 acht Menschen ebenfalls in einer Bar und im Juli siebzehn Menschen auf einer Geburtstagparty ermordete?

Schwer zu glauben, aber all das ist wahr.

Die Stadt heißt Torreón im Bundesstaat Coahuila, der eine Grenze mit Texas teilt. Am 30. Januar 2010 attackierte ein bewaffneter Konvoi drei Bars in Torreón und tötete zehn Menschen, vierzig wurden verwundet. Fünf Monate später, am 15. Mai, griff ein bewaffneter Konvoi die Einweihungsparty einer anderen Bar in Torreón an, acht Tote und zwanzig Verwundete. Am 18. Juli, etwa um halb zwei morgens, tauchte eine Gruppe Bewaffneter bei einer privaten Geburtstagsfeier im Quinta Italia Inn in Torreón auf. Fünf Männer, die kugelsichere Westen und AR-15-Sturmgewehre trugen, stürmten in den Festsaal und schossen wahllos um sich. Sie töteten siebzehn Menschen, darunter Carlos Antonio Mota Méndez, der seinen einunddreißigsten Geburtstag feierte, sein Bruder Héctor José und vier Mitglieder der gemieteten Band Ríos. Achtzehn weitere Personen wurden verwundet. Nach jedem Massaker fuhren die Mörder über die Staatsgrenze zwischen Durango und Coahuila zurück zum Staatsgefängnis von Gómez Palacio, das sich »Zentrum für Soziale Wiedereingliederung« nennt.

Die Gefängnisdirektorin Margarita Rojas Rodríguez hatte Anweisungen gegeben, die Häftlinge unauffällig wieder hereinzulassen.

Niemand hätte das geglaubt. Die Todeszahlen im Drogenkrieg stiegen, Schlagzeilen der Zeitungen listeten bei jeder Massakerszene die Toten auf, und Bundesermittler spekulierten, daß der Barbesitzer irgendwelche Verbindungen zum organisierten Verbrechen gehabt haben muß. Die Toten hätten bestimmt Dreck am Stecken. Und dann stellte jemand am 23. Juli 2010 ein Video ins Internet, das kurz danach auf der Website blogdelnarco.com zu sehen war.

Was man sieht, ist nur schwer zu ertragen.

Auf dem Video sind zunächst drei Männer zu sehen – das Bild ist ein wenig verwackelt, die Auflösung niedrig. Zwei Männer stehen mit AR-15-Gewehren da, sie tragen T-Shirts, darüber Armeewesten, beladen mit Munitionsstreifen, und ihre Gesichter sind von der Stirn bis zum Kinn mit etwas bedeckt, was wie schwarze Hockeymasken aussieht. Der dritte Mann zwischen ihnen ist auf den Knien, ohne Hemd, die Hände sind hinter seinem Rücken zusammengebunden. Nur sein Gesicht und ein Teil des Oberkörpers sind in dem Bildrahmen sichtbar. Eine Stimme hinter der Kamera fragt: »Wie heißt du?« Der kniende Mann antwortet: »Rodolfo Nájera.«

Nájeras Gesicht ist entstellt. Die Schwellung unter seinem linken Auge läßt es aussehen, als ob ein Stein chirurgisch unter die Haut implantiert worden wäre. Sein linkes Ohr ist halb abgerissen. Blut rinnt aus dieser Wunde über seine Brust. Nájera schaut in die Kamera und beantwortet alle Fragen schnell und präzise. Er weiß, daß die Männer ihn töten werden.

»Beruf?« fragt die Stimme.

»Ich bin Polizeibeamter in Lerdo«, antwortet Nájera.

Das Sprechen fällt ihm schwer. Seine Stimme scheint unnatürlich leise im Gegensatz zu der Stimme hinter der Kamera, die klar, ruhig und entschieden mit der Artikulation einer Person spricht, die gewöhnt ist, Autorität auszuüben.

»Alter?«

»Fünfunddreißig.«

»Für wen arbeitest du?«

Nájera zögert einen Moment. »Für den Piraten.«

»Wer ist das?«

»Einige Dealer in Lerdo.« Nájera benutzt den Ausdruck puchadores, der von »pusher«, dem englischen Wort für Straßendealer stammt.

Das Video ist bearbeitet worden; es gibt zahlreiche Cuts. Das Blut, das Nájeras Brust hinunterrinnt, wird jedes Mal mehr, wenn das Bild einen zeitlichen Sprung macht. Die Stimme hinter der Kamera fragt, wer die Kuriere kontrolliert. Der Pirat. Er fragt, für wen der Pirat arbeitet. Nájera sagt: El Delta.

»Wer ist El Delta?«

»Ein Typ im Gefängnis.«

Nájera fängt an zu zucken, sein Kopf bewegt sich ruckartig nach rechts und zurück.

»Wie ist Deltas richtiger Name?«

»Daniel Gabriel.«

»Und was ist sein Job? Was macht dieser Kerl?«

»Er schickt die Killer los, um Leute zu ermorden.«

»Warum ist er im Gefängnis?«

»Er wurde mit Drogen und Waffen festgenommen.«

»Er ist ein Häftling?«

»Ja.«

»Wie oft verläßt er das Gefängnis?«

»Jeden Abend nach acht.«

»Wer läßt ihn gehen?«

»Die Direktorin.«

»Wie heißt sie?«

»Ich kenne ihren Namen nicht.«

Es gibt eine Pause, und man kann Stimmen im Hintergrund hören. Manche klingen, als kämen sie über Polizeifunk. Man hört den Wind in das Mikrophon der Kamera blasen und sieht, wie er die Äste des Baums im Hintergrund schüttelt. Der Mann zu Nájeras Linken in einem blauen T-Shirt schaut auf den Boden und verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wieder zurück, dann schaut er in die Kamera. Er trägt über seiner Maske eine nach hinten gedrehte Baseballkappe. Er ist einige Zentimeter kleiner als der Mann auf der rechten Seite und scheint dünn und sehr jung zu sein.

Die Stimme hinter der Kamera fragt nach Namen, Spitznamen und Dienstgraden von Polizei- und Regierungsbeamten, die für den Schutz der Todesschwadron aus dem Gefängnis sorgen. Nájera quält sich, aber liefert jedes Mal einen Namen, wenn die Stimme fragt: »Und wer noch?« In diesem Moment zoomt die Kamera Nájeras Gesicht heran. Sein rechtes Auge ist zugeschwollen. Man sieht Blutergüsse, Schnittverletzungen und Brandspuren auf seinem Gesicht. Nájera nennt einen weiteren Namen, worauf sofort dieselbe Frage folgt: »Und wer noch?« Er zögert, zuckt. Der Mann in dem blauen T-Shirt zu seiner Linken schaut von der Kamera zu ihm runter, greift dann nach dem halb abgetrennten Ohr und klappt es nach unten. Nájera liefert einen weiteren Namen. Und dann noch einen und noch einen und noch einen, bis die Kamera stoppt.

In der nächsten Einstellung ringt Nájera nach Luft. Der Mann in dem blauen T-Shirt steht nahe hinter ihm, das Gewehr auf seinen Rücken gerichtet. Die Stimme fragt, wer dieser Güero Pollero ist. (Der Spitzname bedeutet in etwa »Blonder Schmuggler«.) Nájera sagt, daß er derjenige ist, der mit der Todesschwadron loszieht, um Menschen in Bars in Torréon zu töten. Die Stimme fragt, wer ihn schickt und warum. Nájera sagt, daß ein Mann namens Arturo, der nach Guadalajara geflohen sein soll, Güero Pollero losschickte, um Los Zetas in Torréon unter Druck zu setzen. Hier kann man eine andere Stimme außerhalb des Bildes zu Nájeras Linken hören, die ihm etwas sagt. Die Männer mit den Gewehren sind Mitglieder von Los Zetas, ein Kartell desertierter Soldaten einer Spezialeinheit der Armee, das während des von Präsident Felipe Calderon ausgerufenen Drogenkriegs das Hauptziel der staatlichen Kampfoperationen gewesen ist. In einer kurzen Pause, während Nájera die Warum-Frage beantwortet, wiederholt die Stimme links von der Kamera: »Um uns unter Druck zu setzen.« Nájera reagiert sofort auf das Stichwort und sagt: »Um Los Zetas unter Druck zu setzen.«

 

Die Stimme, die die Befragung leitet, fragt: »Wer tötete die Leute im Quinta Italia?«

Nájera: »Dieselben, Güero Pollero und seine Leute, auf Befehl von Arturo.«

Nájera schildert dann, wie die Killer abends das Gefängnis verlassen, schwer bewaffnet, mit kugelsicheren Westen in Fahrzeugen des Gefängnisses. Man kann eine Stimme hören, die demjenigen, der das Gespräch führt, etwas zuflüstert. Nájera beschreibt noch mal, wie die Direktorin den Killern erlaubt, das Gefängnisgelände zu verlassen, wobei sie genau weiß, daß sie hinausgehen, um zu morden. Er wiederholt die Details mehrere Male: Die Männer verlassen das Gefängnis in der Nacht in Dienstfahrzeugen, mit Gefängniswaffen, um unschuldige Menschen im Territorium der Zetas zu töten, und die Gefängnisdirektorin läßt all das geschehen.

Das Video ist neun Minuten und vierundfünfzig Sekunden lang. Um 21 Uhr 21 gibt es einen Schnitt, und dann ist es plötzlich Nacht. Die bewaffneten Männer stehen links und rechts von Nájera. Ein lautes mechanisches Geräusch füllt das Mikrophon, ein Generator vielleicht oder ein LKW-Motor. Scheinwerfer und Taschenlampen beleuchten Nájeras zerschundenes Gesicht. Das Blut, das über seine Brust rinnt, ist nun eine dicke Spur. Eine unsichtbare Stimme sagt, daß die vom »letzten Buchstaben« [gemeint sind Los Zetas] keine barbarischen Akte begehen oder unschuldige Menschen töten. Die Stimme fragt, warum die Gómez Palacio Gang Unschuldige in ihrem Territorium töte. Die Stimme fragt, ob die Gang lieber unschuldige Menschen tötet, weil sie es nicht wagen, »dem letzten Buchstaben« direkt gegenüber zu treten. Nájera antwortet: »Ja, Señor.«

»Weil sie uns nicht besiegen können?«

»Nein, Señor.«

Wieder ein Schnitt. Nájera ist nun auf den Knien. Allein. Zwei Schatten treten zurück, einer auf jeder Seite. Ein Schuß, Nájera stürzt vornüber.

Das Video wurde an einem Donnerstagabend ins Netz gestellt. Am nächsten Morgen verhafteten Bundespolizisten Margarita Rojas Rodríguez, die Direktorin des Gefängnisses in Gómez Palacio, und drei weitere Gefängnisbeamte. Am Sonntag gab der Sprecher des Büros des Generalbundesanwalts die Verhaftungen bekannt und bestätigte die Verantwortung der Todesschwadron für die jüngsten Massaker in Torreón, erwähnte aber das auf der Website blogdelnarco.com gepostete Video nicht.

Ein Tod ohne Namen. Ein Tod, der auslöscht, wer du warst, zusammen mit dem, der du bist. Ein Tod, der dich der Welt zeigt als ein Zeugnis nur für den Tod selbst. Alles, was bleibt, ist dein zerstörter Körper auf einem unbebauten Grundstück, von einer Autobahnbrücke hängend oder eingeschlossen im Kofferraum eines Autos. Dein Name ist durchgetrennt, abgeschnitten und weggeworfen. Die einzige Geschichte, die mit deinem Körper verbunden bleibt, ist die deines besonderen Todes: Einschußlöcher, Verbrennungen, Schnittwunden, Quetschungen, abgetrennte Glieder. Die Vollstrecker auf diesem Tötungsfeld zerstören jeden Menschen zweimal. Zuerst löschen sie deine Welt aus; wenn du Glück hast, tun sie es mit einem Kugelhagel. Aber dann, wenn du tot bist, verwandeln sie deinen Körper in eine Botschaft. Du wirst als Kurzmeldung auf dem Fernsehschirm erscheinen. Du wirst mit Farbfoto auf den Titelseiten der Boulevardblätter gedruckt und an den Zeitungskiosken in den Städten überall im Land aufgehängt, deine entstellte Leiche neben den Fotos von Fußballspielern und Modells im Bikini. Du wirst deinen Namen verlieren. Du wirst deine Vergangenheit verlieren, die Geschichte deiner Lieben und Ängste, Triumphe und Fehlschläge und all der kleinen Dinge dazwischen. Die auf dich schauen, werden nur Tod sehen.

Aber Namen sind zu vielen bekannt, um ganz ausradiert oder vernichtet zu werden. Namen hinterlassen immer Spuren. Selbst wenn sie dich töten, deinen Körper zerlegen oder mit Klebeband fesseln und deine Überreste am Straßenrand liegen lassen, dein Name wartet.

José Humberto Márquez Compeán. Er wurde gefunden wie so viele: gefoltert, getötet, in eine Decke gewickelt (encobijado – der Verhüllte – heißt das Kunstwort) und auf ein leeres Grundstück am Rande von San Nicolás de los Garza, nahe Monterrey in Nuevo León geworfen. Auf den ersten Blick erschien er nur als ein weiterer Toter auf der Liste von 22000 Drogenland-Exekutionen in Mexiko zwischen Dezember 2006, als Präsident Felipe Calderon von der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN) seinen selbsterklärten »Krieg« gegen Drogenhändler startete, und Ende März 2010, als ein einheimischer Reporter Márquez Compeáns gefesselten, leblosen Körper auf einem vertrockneten Stück Erde fotografierte. Dies waren die Fakten: Tod, ein von Schlägen gezeichneter Leichnam, ein karges Feld in San Nicolás de los Garza. Hinter diesen Tatsachen kann man die Absichten derjenigen erkennen, die Compeán töteten und die Leiche dort abluden, sein Leben beenden und seinen Körper in eine namenlose tote Masse verwandeln.

Aber es gab eine Panne. Der Reporter, der auf die Story angesetzt war, sah mehr als die Botschaft des Todes. Durch reinen Zufall erkannte Francisco Cantú, ein 37jähriger Reporter des Medienkonzerns Multimedios in Monterrey, ein kaffeebraunes Hemd mit einem auf der Brust angenähten orangefarbenen Buchstaben B wieder. Cantú hatte das Hemd und den Mann, der es trug, José Humberto Márquez Compeán, nur wenige Stunden zuvor gesehen. Ja, er hatte Compeán sogar fotografiert.

Cantú hatte an jenem Montagmorgen um halb sechs gerade seine Schicht begonnen, als der Redakteur ihm mitteilte, daß es ein Feuergefecht in San Nicolás de los Garza gegeben habe. Cantú machte sich sogleich auf den Weg, aber unterwegs bekam er einen Anruf. Es handle sich nicht um eine Schießerei, sondern vielmehr um eine Leiche, die auf einem verlassenen Grundstück gefunden sei, sagte sein Redakteur. Er solle trotzdem hinfahren und ein paar Bilder machen. Cantú war der erste Reporter vor Ort. »Ich machte zuerst Aufnahmen aus einiger Entfernung«, erzählte mir Cantú, »und dann näherte ich mich langsam, um rauszufinden, ob die anwesenden Polizisten irgendetwas sagten.« Als er bemerkte, daß niemand ihm Aufmerksamkeit schenkte, ging er direkt zur Leiche. »Ich machte ein Foto, und als ich darauf schaue, sehe ich das B auf dem Hemd. Oh verdammt! Das ist doch der Typ von gestern.«

Er ging zurück zu seinem Wagen und öffnete seinen Laptop, um sich die Fotos vom Vortag anzuschauen. »Ich sehe sofort, daß es dieselbe Person ist«, sagte Cantú, »wegen des T-Shirts, er hatte dasselbe braune T-Shirt, aber sein Gesicht war durch die Schläge entstellt.« Der Mann, der am Montagmorgen tot in San Nicolás de los Garza lag, war derselbe, den Cantú am Sonntagnachmittag fotografiert hatte. In der ersten Serie von Fotos geht Compeán mit auf dem Rücken gebundenen Händen, schaut nach unten, mit einem Gesichtsausdruck zwischen Trotz und Angst. Soldaten der mexikanischen Marine umringen ihn. Sie bringen ihn zu einem Pickup. Compeán ist in Militärgewahrsam, trägt Handschellen, ist aber unverletzt. Es ist Sonntagnachmittag. Dann erschien er wieder am Montagmorgen in der Öffentlichkeit als Toter auf einem Feld.

Compeáns Frau, Hilda Rodríguez, erzählte Cantú und seinen Kollegen von Milenio Televisión, einem Sender von Multimedios: »Ich sah in den Nachrichten, wie sie ihn zu einem Polizeiwagen brachten und dann zu einem Hubschrauber, und am nächsten Tag findet man ihn tot. Warum haben sie ihn getötet? Wer tötete ihn? Ich will Gerechtigkeit. Ich habe drei Kinder.«

Am Sonntag, den 21. März 2010, verhaftete ein Konvoi der örtlichen Polizei in Santa Catarina Compeán und José Adrián Lucio Barajas. Der Konvoi war auf dem Weg zur Stadthalle, als die Polizisten angeblich beobachteten, wie die beiden Männer Drogen verkauften. René Castillo, der Sicherheitschef von Santa Catarina, und der Polizeichef Luis Eduardo Murrieta saßen in einem der Wagen. Die Polizisten hielten und nahmen die beiden Männer mit vorgehaltener Waffe fest, wobei Barajas geschlagen wurde. Minuten später griff eine unbekannte Gruppe mutmaßlicher Drogenmörder die Polizei an, tötete zwei Wachleute und einen Passanten und verwundete den Polizeichef. Die Polizisten zogen sich zur Wache zurück und warteten auf eine Marineeskorte, um die Verletzten in ein Krankenhaus zu bringen.

Als Cantú am Sonntag gegen 14 Uhr den Ort der Schießerei erreichte, hörte er, daß ein Beamter verletzt und zu der Polizeistation gebracht worden war. Nachdem er seine Fotos gemacht hatte, ging er zu der Wache. Als er dort ankam, hatten die Marine und die Polizei das Gebiet bereits abgesperrt. Die Polizei versuchte, ihn davon abzuhalten, Fotos zu machen, aber er konnte an der Absperrung vorbeischlüpfen und weiterarbeiten. Die Marinesoldaten eskortierten unterdessen die Verwundeten aus der Wache. »Zuerst brachten sie den verwundeten Mann [Barajas] heraus, und dann den verwundeten Beamten, aber mit einer Kapuze über dem Kopf«, sagte Cantú. »Dann kamen sie mit dieser anderen Person heraus, die ein kaffeebraunes T-Shirt mit einem orangefarbenen Buchstaben B darauf trug. Das fiel mir auf, diese Farben, und deshalb fotografierte ich ihn.« Cantú fing die Bilder von Soldaten ein, die die Verletzten und Festgenommenen zuerst zu mehreren Marinelastwagen und später dann zu einem Marinehubschrauber führten. Er erwähnte den Mann in einem braunen T-Shirt in dem Bericht, den er an jenem Abend verfaßte. Danach scheint niemand zu wissen, was mit Compeán geschah, wie genau es dazu kam, daß er im Gewahrsam der Marine vierzehn Stunden später tot sein und in eine Decke gewickelt in San Nicolás de los Garza liegen konnte.

Am Montagmorgen, als Cantú herausfand, daß er Compeán im Gewahrsam der Marine nur wenige Stunden zuvor fotografiert hatte, rief er seine Redaktion an und schickte ihr seine Aufnahmen. Die nationalen Medien Mexikos griffen innerhalb von Stunden die Geschichte auf. Die Marine sagte in einer Pressemitteilung, daß sie städtischen Ordnungskräften nur Beistand dabei geleistet hätten, den Polizeichef, Barajas und Compeán in ein nahegelegenes Krankenhaus zu bringen. Danach hätten sie die Personen der Polizei überlassen und wüßten nicht, was später geschah. Zeugen in dem Krankenhaus berichteten dem Nuevo León-Korrespondenten von La Jornada, Mexikos größte linke Tageszeitung, sie hätten den Chef, Murrieta, aus dem Hubschrauber steigen und zur Behandlung ins Krankenhaus gehen sehen, nicht aber Compeán. Beamte der Stadt Santa Catarina gaben an, daß staatliche Behörden Compeán in Gewahrsam genommen hätten. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Das ist mein Standpunkt«, sagte damals René Castillo, der Sicherheitschef, der zusammen mit Murrieta ursprünglich Compeán und Barajas festgenommen hatte, gegenüber Associated Press. Murrieta und Castillo tauchten ein paar Wochen lang ab und kehrten dann seelenruhig auf ihre Posten zurück. Niemand wurde des Mordes an José Humberto Márquez Compeán angeklagt. Das karge Grundstück, wo Cantú Compeáns Leiche fotografiert hatte, ist nur eine etwa dreiminütige Autofahrt von der örtlichen Marinebasis entfernt.

Hilda Rodríguez’ Fragen – »Warum töteten sie ihn? Wer tötete ihn?« – sind die, die die Praxis des anonymen Todes, das Töten und rituelle Deponieren des verstümmelten Leichnams, unbeantwortet lassen will. Wenn eine Leiche nur eine Leiche ist, wer wird vortreten und fragen, warum dieser Mensch ermordet wurde und wer ihn oder sie ermordete? Wenn eine Leiche weder Namen noch Geschichte hat, wer will dann Gerechtigkeit fordern? Wenn der zerstörte Körper eines Menschen in eine Botschaft verwandelt wird, ist die Bedeutung klar: Dies kann auch dir widerfahren. Der Tote muß etwas getan haben, um so zu enden, er muß eine Grenze überschritten, zuviel geredet haben, also tu besser nichts, schau lieber weg.

Ein anonymer Tod verlangt Schweigen. Namen werden daher ausgelöscht. Fakten beseitigt. Zeiten und Orte werden verwischt. Wer war sie? Niemand sagt etwas. Warum töteten sie ihn? Kein Wort. Wie ist es möglich, daß sie all diese Menschen massakrieren und einfach davonfahren konnten? Niemand stellt die Frage. Aber wenn er zuletzt im Gewahrsam der Marine gesehen wurde? Frag nicht. Wer kontrolliert diese Stadt? Wo lebt sie ? Welche Geschäfte gehören ihm? Alles Fragen, für die man getötet werden kann. Schweigen ist lebenswichtig. Wo in einer illegalen Multimilliarden Dollar-Industrie Mord Teil der Geschäftskosten ist, gilt Straflosigkeit als eine wesentliche Investition. Und Straflosigkeit funktioniert nicht ohne Schweigen. Daher ist Mexiko für Journalisten, deren Arbeit Öffentlichkeit erfordert, das gefährlichste Land in der Hemisphäre geworden. Mexikos »Drogenkrieg« gehört zu den riskantesten Berichtsgebieten der Welt. Sechsundachtzig Reporter sind seit 2000 erschossen worden – siebenundvierzig von ihnen zwischen Juli 2008 und September 2010 –, und mindestens fünfzehn sind seit 2006 verschwunden, also zum Schweigen gebracht worden. Wie viele dieser Mordfälle sind gelöst worden? Nicht einer. Wie viele der verschwundenen Journalisten wurden ausfindig gemacht? Nicht einer. Das Schweigen begleitet Konvois von zwanzig bis zu fünfzig Profikillern, die mit Militärsturmgewehren und Splittergranaten ausgerüstet sind. Diejenigen, die mit dem Wort und der Stimme arbeiten, tragen Notizbücher und Kugelschreiber, Kameras und Stative.

 

Am 6. April 2007 um 7 Uhr morgens beendete Amado Ramírez Dillanes, ein 50 Jahre alter Reporter bei Televisa und Radiorama in Acapulco, seine tägliche einstündige Radiosendung. Er verließ das Studio von Radiorama gegen 7 Uhr 20 und ging zu seinem Auto, das in dem geschäftigen Stadtzentrum geparkt war, einen Straßenblock vom Marktplatz und wenige Meter von einer Polizeistation entfernt, direkt vor dem Hotel California. Als Ramírez Dillanes die Fahrertür öffnete, näherte sich von hinten ein Bewaffneter und feuerte mit einer Pistole Kaliber .38; er traf ihn zweimal. Ramírez Dillanes versuchte, in dem Hotel Zuflucht zu finden. Der Killer folgte ihm und schoß Ramírez Dillanes in den Rücken. Dann verschwand er. Fünf Minuten später war Ramírez Dillanes tot. Zahlreiche Touristen und Anwohner wurden Zeugen des Mordes. Mehr als einhundert Polizisten, Kriminalbeamte und forensische Experten von sechs verschiedenen städtischen und staatlichen Behörden trafen innerhalb einer Stunde am Tatort ein. Bis heute ist keine Anklage im Mordfall Ramírez Dillanes erhoben worden.

Am Abend des 23. September 2008 zog Alejandro Xenón Fonseca Estrada, ein bekannter Journalist bei der Radiostation EXA FM in Villahermosa, los, um in der Stadt Transparente aufzuhängen, die eine Welle von Entführungen in Tabasco und anderen Regionen Mexikos anprangerten. Ein Spruchband lautete schlicht: NEIN ZU KIDNAPPINGS!!! Fonseca stand auf einem Lastwagen an der Ecke Paseo Tabasco und Adolfo Ruiz Cortines und befestigte gerade ein Transparent, als eine Gruppe von Männern in einem Geländewagen anhielt und wissen wollte, was er dort täte. Dieses Transparent aufhängen, sagte er. Sie verlangten von ihm, es sofort abzunehmen. Er weigerte sich. Sie befahlen ihm, runterzukommen und in ihren Wagen zu steigen. Er weigerte sich. Ein Mann griff nach einem AR-15-Gewehr und schoß Fonseca Estrada in die Brust. Er starb. Sie fuhren davon.

Am Abend des 25. Mai 2009 war Eliseo Barrón Hernández mit seiner Frau und zwei Töchtern zu Hause in der Stadt Gómez Palacio. Barrón Hernández arbeitete seit zehn Jahren als Reporter für die Tageszeitung La Opinión in der Nachbarstadt Torreón im Bundesstaat Coahuila. Er hatte vor kurzem Artikel über einen Korruptionsskandal der Polizei in Torreón veröffentlicht, die zur Entlassung von mehr als dreihundert Polizeibeamten führten. Am 25. Mai drangen maskierte Bewaffnete in Hernández’ Haus ein, schlugen ihn vor den Augen seiner Familie und nahmen ihn mit. Sechsundzwanzig Stunden später wurde seine Leiche mit fünf Schußwunden und Folterspuren in einem Graben gefunden. Während seiner Beerdigung am nächsten Tag wurden fünf Spruchbänder mit der Unterschrift Joaquin »El Chapo« Guzmán in der Stadt aufgehängt; sie warnten Journalisten und empfahlen ihnen, vorsichtig zu sein. Auf einem der Transparente war zu lesen: WIR SIND HIER, JOURNALISTEN. FRAGT ELISEO BARRÓN. EL CHAPO UND DAS KARTELL VERGEBEN NICHT. SEID AUF DER HUT, SOLDATEN UND JOURNALISTEN. Wenige Wochen danach präsentierte die mexikanische Armee einige, bei anderen Gelegenheiten festgenommene Tatverdächtige, die angeblich gestanden hatten, Barrón Hernández im Auftrag der Zetas, der Feinde von El Chapo, ermordet zu haben. Im April 2010 teilte eine Sprecherin des Generalbundesanwalts Vertretern des »Komitees zum Schutz von Journalisten« mit, daß sie über den Aufenthaltsort der Verdächtigen oder den Gerichtstermin nichts sagen könne. Am 31. Mai 2010 veröffentlichte Barrón Hernández’ Freund und Kollege Julián Parra Ibarra einen Leitartikel zum ersten Jahrestag der Ermordung von Barrón Hernández. Die Ermittlungen kamen nicht voran, es gab keine weiteren Verhaftungen, keinen Prozeß und keine Informationen über die angeblich geständigen Mörder. Parra Ibarra schloß mit der Bemerkung: »Nichts hat sich geändert, und schlimmer noch, niemand sagt etwas.«

Schweigen.

Valentin Valdés Espinosa war ein neunundzwanzigjähriger lokaler Nachrichtenreporter und Mitbegründer der Zeitschrift Zócalo de Saltillo in Coahuila. Am 7. Januar 2010 verließ er gegen 22 Uhr 45 mit zwei Kollegen das Büro. Ein paar Minuten später versperrten ihnen zwei Geländewagen den Weg. Bewaffnete zwangen Valdés Espinosa und einen seiner Kollegen in die Autos und fuhren davon. Der Kollege, dessen Name nicht genannt wurde, wurde bald wieder freigelassen. Valdés Espinosas Leiche, die Schußwunden und Spuren von Folter aufwies, wurde wenige Stunden später vor einem Motel gefunden. Auf seiner Brust lag ein handgeschriebenes Pappschild: DAS GESCHIEHT ALLEN, DIE NICHT VERSTEHEN. DIE BOTSCHAFT GILT FÜR ALLE.

Und doch sprechen Leute oder flüstern manchmal. Der Drang zu verstehen, der Drang, sich zu verständigen, ist nicht aufzuhalten, auch wenn er vielleicht gezwungen wird, sich zu verbergen, sich in die Nischen des Privatlebens zurückzuziehen. Fast überall, wohin man in Mexiko kommt, hört man Menschen reden, klagen, debattieren und sie über die neuesten Schlagzeilen aus dem Drogenkrieg staunen sehen. Das Schweigen kümmert sich meist nicht um das Gemurmel aus Gerüchten und Smalltalk. Das Schweigen – diese spezielle Art des paramilitarisierten Narco-Schweigens – zielt auf einen besonderen Typ des Sprechens, das gewöhnlich zwei Eigenschaften hat: Es wird von vielen gehört, und es teilt Tatsachen mit, die schlecht fürs Geschäft sind.

Im Drogenkrieg ist Schweigen nicht die bloße Abwesenheit des Redens, sondern vielmehr die Fähigkeit, nichts zu sagen. Man kann so viel reden, wie man will, solange man Fakten meidet. Zeitungsschlagzeilen verkünden die täglichen Zahlen der Toten, aber die Artikel sagen einem nichts darüber, wer die Toten waren, wer sie getötet haben könnte oder warum. Keine detaillierten Beschreibungen, die sich auf Zeugenaussagen stützen. Keine Untersuchung. Das Gleiche gilt für Inspektoren der Mordkommissionen, die mit den Ermittlungen beauftragt sind. Sie kommen am Tatort an, zählen die Patronenhülsen, knipsen ein paar Bilder von der Leiche und legen den Fall zu den Akten. Politiker mögen theoretisch Gewalt verurteilen, aber niemals nennen sie die Namen derjenigen, die in ihren Wahlbezirken um das Drogen-Territorium kämpfen.

Und doch fordern überall in Mexiko Menschen die Herrschaft des Schweigens – dieses mit Waffen auferlegten Fakten-Verbots – heraus. Die Folge ist, daß sie sich oft einem Gewehrlauf gegenübersehen, dahinter die Augen des Schweigens. Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Familienangehörige von Mordopfern, ländliche Guerillakämpfer und gelegentlich ehrliche Staatsbedienstete sind am häufigsten im Fadenkreuz des Schweigens. Ihr öffentliches Sprechen ist eine Taktik im Kampf gegen den anonymen Tod; und es ist ein wahrer Kampf, nicht gegen Pflanzen und diejenigen, die sie benutzen, um high zu werden, sondern gegen das heimtückische Regime von Illegalität und Straffreiheit, das das Drogengeschäft zu einer so gewaltigen Geldquelle macht und Tod und Schweigen aufzwingt, damit alles so bleibt. Dies sind Menschen, die trotz des Blutvergießens und der gebrochenen Versprechen an gewisse Formen der Gerechtigkeit glauben – wenn schon nicht die Gerechtigkeit des Staates, der Gesetzgeber, der Polizei und Gerichte, dann die Gerechtigkeit des Wissens, denn das öffentliche Sprechen und das Benennen von Tatsachen sind Formen der Rebellion gegen Schweigen und Mord. Die aufgeblähten Profite, die auf dem Rauschgiftmarkt zu bekommen sind, erfordern, daß riesige und komplexe Netzwerke menschlicher Aktivität – Anbau, Bearbeitung, Verpackung, internationaler Transport, Lagerung, Verteilung und Verkauf, Waffenhandel, Überwachung, Geldwäsche und umfassender politischer Schutz – in einem nebulösen Raum des dauernden Redens und der ständigen aufgezwungenen Unwissenheit verborgen bleiben.