Ichsucht

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Johannes Stockmayer

Ichsucht

Ein Problem in

christlichen Gemeinden?


Johannes Stockmayer

Ichsucht Ein Problem in christlichen Gemeinden?

© Lichtzeichen-Verlag GmbH, Lage

Titelbild: Shutterstock, chompoo

E-Book Erstellung:

LICHTZEICHEN Medien - www.lichtzeichen-medien.com

ISBN: 978-3-86954-833-3

Bestell-Nr.: 548833

Ganz gewiss

Die Ich-Stärke

eines Gläubigen

erwächst nicht

aus dem Rückzug

auf das eigene Ich,

sondern aus der

vorbehaltlosen

Hinwendung zum Du

und aus der

überwältigenden

Erfahrung des Wir.

Das Selbstwertgefühl

eines Christen gründet

nicht in Selbstliebe oder

Selbstüberschätzung,

sondern in seiner

Wertschätzung

des Christus,

der ihn geliebt und

sich selbst für ihn

hingegeben hat.

So ist auch die

Heilsgewissheit

des Glaubens

nicht Ausdruck

eines vermessenen

Selbstbewusstseins,

sondern eines

angemessenen

Christusbewusstseins.


Hans-Joachim Eckstein1

1Hans-Joachim Eckstein, Himmlisch menschlich, Holzgerlingen 2006, Seite 136

Inhalt

Gibt es Ichsucht in christlichen Gemeinden?

1.Gesellschaft der Ichlinge

Nimmt der Egoismus zu?

Der Kampf ums Ich

Das versteckte und rudimentäre Ich

Der Turmbau zu Babel und die christliche Gemeinde

Problemanzeige

2.Die Sehnsucht der Menschen

Auf der Suche nach dem Ich

Definition von Sucht

Was ist Ichsucht?

Formen der Ichsucht

3.Das starke Ich

Die christliche Gemeinde

Die große Herausforderung

Die große Gefährdung

Die Freiheit eines Christenmenschen

4.Beispiele von Ichsucht in der Gemeinde

Beispiel 1: Ricky

Beispiel 2: Hanne

Beispiel 3: Maik

Beispiel 4: Erwin

Beispiel 5: Anna

Beispiel 6: Damaris

Beispiel 7: Jochen

Beispiel 8: Jasmin

Die Reaktion auf diese Beispiele sind negative Gefühle

5.Ichsüchtiges Verhalten

Unterschiedliche Ausprägungen

Das ichsüchtige Verhalten im Allgemeinen

Baukasten der Ichsucht

Standhalten!

6.Das große Ich

Beziehung auf Gegenseitigkeit

Der große Leiter

Die Schwachstelle des großen Ichs

Co-Abhängigkeit

Das Märchen vom großen Ich

7.Das irritierte Ich

Narzissmus

Der gesunde und normale Narzissmus

Ursachen der Ichsucht

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Soziopathie

Flöhe

Das gekränkte Ich

Jona, der narzisstische Prophet

8.Umgang mit Ichsüchtigen

Richtig reagieren

Mut zur Wahrheit

Der Kampf ums Überleben

Empathische Konfrontation

Regeln für den Umgang mit Ichsüchtigen

Wie ging Jesus mit ichsüchtigen Menschen um?

9.Heilung von der Ichsucht

Der Moment der Selbsterkenntnis

Welche Schritte gibt es auf dem Weg des Neuwerdens?

Die gesunde Ichentwicklung

Das reife Ich

10.Das Ich muss sterben

Was ist das Ich?

Loslassen

Sterben heißt Befreiung

Sterben heißt Hingabe

Das siebenfache Sterben

Sterben heißt Umkehr

Das selbstgerechte Ich

Fromme Ichsucht

Sterben, um zu leben

Gebet der Hingabe

11.Ichsucht: Sprengstoff in christlichen Gemeinden

Die barmherzigen Retterseelen

Die Aufgabe der Leitung

Mut zur Wahrheit

Notallstrategien

Abgrenzungen

12.Das erlöste Ich

Ein Ende ohne Schrecken gibt es nicht

Eine harte Liebe

Das befreite Ich

Die Geschichte von Gert

13.Literatur

14.Arbeitsblatt 1

Das darf ich glauben

15.Arbeitsblatt 2

 

Mein Beitrag zum Wir

16.Arbeitsblatt 3

So wünscht sich Gott das Wir

Gibt es Ichsucht in christlichen Gemeinden?

Darf es den egoistischen Menschen in der christlichen Gemeinde geben? Ist das nicht ein Widerspruch: Egoismus und christlicher Glaube? Gibt es tatsächlich ichsüchtige Menschen im christlichen Umfeld? Leider ja. Das Thema wird nur oft unter den Teppich gekehrt und nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, ignoriert. Wir müssen darüber reden. Denn oft bestimmen diese Menschen die Gemeinde in einem erheblichen Maß, richten Schaden an durch ihre selbstsüchtige Art und verursachen bei anderen Gemeindegliedern meist auch erhebliche Verletzungen und Schmerzen. Aber die Frage ist: Warum wehrt sich niemand?

Meistens ist die Ichsucht als solche nicht sofort zu erkennen. Sie gibt sich harmlos, kleidet sich in Fürsorglichkeit. Es ist doch gut und hilfreich, wenn man dem anderen Entscheidungen abnimmt, Verantwortung für ihn übernimmt und dafür sorgt, dass es ihm gut geht. Was der andere möchte, spielt dabei keine so große Rolle. Hauptsache, man kann zeigen, dass man es gut meint.

Die Liebe erduldet alles. In der Gemeinde wird nicht gestritten und demjenigen, der sich über andere hinwegsetzt, wenig Einhalt geboten. Man erträgt einander und wo jemand über die Stränge schlägt, versucht man ihn mit Liebe und Barmherzigkeit zu korrigieren. Aber man zieht keine Konsequenzen. Wenn der andere von seinem schädlichen Verhalten nicht ablässt, zieht man sich eher zurück.

Die Gemeinde ist ein ideales Umfeld für einen ichsüchtigen Menschen. Er fühlt sich wie der Fuchs im Hühnerstall. Er findet die Bewunderung, die er braucht, kann sich ausleben und muss keine Rücksicht auf andere nehmen. Denn die sind ja devot und ordnen sich unter. Auch wenn es ihnen an den Kragen geht.

Vor allem in einer kleinen Gemeinde kann ein ichsüchtiger Mensch sein reiches Potenzial optimal entfalten. Hier benötigt man einen starken Menschen, der gern Verantwortung übernimmt. Man wünscht sich den charismatischen Leiter. Wenn man ihn jedoch hat, dann ist man ihm ausgeliefert.

Aber das größte Problem ist das Mäntelchen des Schweigens, das über ichsüchtiges Verhalten gehängt wird. Man redet nicht über das, was schiefläuft – auch wenn es schmerzt. Lieber leidet man und lässt es laufen. Wenn man es anspricht, dann könnte es ja noch schlimmer kommen. Aber dadurch haben ichsüchtige Menschen freie Bahn.

Es hilft alles nichts, wir müssen lernen, über unser Ich mit allen seinen Facetten zu reden. Wir müssen uns gegenseitig sagen können, wie wir uns empfinden und wie es uns miteinander geht. Fehlverhalten muss angesprochen werden können. Wo sich jemand in den Vordergrund spielt und dem anderen keinen Raum gibt, muss das zur Sprache kommen. Wir müssen dabei riskieren, dass Einzelne empfindlich reagieren. Wir können es nicht einfach so nur um des lieben Friedens willen laufen lassen. Der wirkliche Friede ist so nicht zu erreichen. Wir müssen den Mut aufbringen uns selbst anzuschauen, um uns zu reflektieren: Kreise ich nur um mich selbst oder gelingt es mir, den anderen wahrzunehmen und zu verstehen? Will ich nur etwas für mich oder habe ich die Gemeinschaft im Blick? In der Gemeinde geht es um ein dreifaches Gleichgewicht: Wir sollen Gott lieben und den Nächsten wie uns selbst. Alle drei Bereiche sollen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Gerät etwas aus der Balance, dann müssen wir dringend darüber reden.

Umso mehr müssen wir den Mut aufbringen, uns den ichsüchtigen Menschen in den Weg zu stellen, als wir in einer Gesellschaft leben, in der das Ich großgeschrieben wird und sich immer weiter aufbläst. Aber gleichzeitig müssen wir uns überlegen, wie ein „normales” starkes Ich aussieht und wie es sich auf gute Weise entfaltet und gelebt werden kann. Es kann nicht darum gehen, das „große Ich” allgemein zu verdammen: Wie wird es zu einem erlösten Ich, das sich eingliedern kann in ein gemeinsames „Wir”? Hier stellen sich für Christen wichtige Fragen, die gerade heute dringend nach Antwort verlangen.

1.Gesellschaft der Ichlinge
Nimmt der Egoismus zu?

Die Frage, ob der Egoismus heute stärker ist als früher, ist schwer zu beantworten. Es gibt ganz unterschiedliche Meinungen dazu. Ist das vielleicht bereits ein Beweis für eine Gesellschaft der Ichlinge? Jeder sieht von seiner Warte aus und bewertet auf seine subjektive Weise. Es gibt den gemeinsamen Konsens gar nicht mehr. Was für den einen bereits Egoismus ist, ist für den anderen lediglich berechtigte Selbstverwirklichung.

Ein oberflächlicher Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen bestätigen die Zunahme des Egokults: Man möchte stark sein und sich keine Blöße geben. Erfolg zählt. Imagemanagement, Karriereplanung und Attraktivität sind geläufige Begriffe für den, der vorankommen will. Soziale Netzwerke verführen zu einer übertriebenen Selbstdarstellung. Der Grundsatz zählt: „Mehr scheinen als sein.” Personalentwickler raten: „Sie müssen sich besser darstellen.” Bescheidenheit, Zurückhaltung, Nachgeben sind keine geläufigen Werte. Das Schlagwort von der Gesellschaft der Ichlinge macht die Runde – wobei niemand genau weiß, wer diesen Begriff geprägt hat und wie lange er schon kursiert. Aber offensichtlich muss etwas dran sein an diesem Begriff, sonst hätte er sich nicht auf vielfältige Weise erhalten.

Während Oscar Wild (1854 – 1900) noch sagte: „Sich selbst lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze”, ist heute die Beziehung zu sich selbst nicht mehr selbstverständlich ein dauerhafter Zustand von Nähe, Wertschätzung und Selbstannahme, sondern ein Stück harte Arbeit – alles andere als eine Romanze.

Es ist überhaupt ein Luxus der neueren Zeit (etwa ab dem Ende des 19. Jahrhunderts), dass sich eine große Breite der Bevölkerung ausführlicher mit sich selbst beschäftigen kann – und nicht nur ein paar bevorzugte Denker. Die Frage nach dem Ich stellte sich in den Jahrhunderten davor nicht. Da musste man zufrieden sein mit dem, wie und was man war, und mit sich zurechtkommen, ohne an seinem Ich feilen und sich selbst über das Normale hinaus verwirklichen zu können. Wer sich nicht so annehmen konnte, wie er war, hatte Pech gehabt.

Vielleicht ist heute die starke Beschäftigung mit sich selbst auch ein Zeichen, dass es uns insgesamt sehr gut geht? In der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow, dem Gründervater der Humanistischen Psychologie (1908 – 1970) steht Selbstverwirklichung (bis 1970) an oberster Stelle. Erst wenn alle anderen Bedürfnisse erfüllt sind, kann man sich um die Selbstverwirklichung kümmern. 1943 war Maslow der Ansicht, dass zu diesem Zeitpunkt erst 2% der Weltbevölkerung dieses Stadium erreicht hätten. Und heute? Kann man sich deshalb so intensiv um sein Ich kümmern, weil die anderen Bedürfnisse gestillt sind? Die anderen Bedürfnisse sind:

als Erstes die elementaren Bedürfnisse, die zum

Lebenserhalt nötig sind,

dann das Sicherheitsbedürfnis,

weiter die sozialen Bedürfnisse,

schließlich das Individualbedürfnis: Stärke, Erfolg,

Unabhängigkeit, Ansehen, Wertschätzung, Achtung und

Wichtigkeit

und erst dann ist die Selbstverwirklichung möglich:

noch besser sein, sich entfalten, sein Potenzial

ausschöpfen, sich optimieren.

Dass die Bedürfnispyramide damit nicht zu Ende ist, zeigte sich, als 1970 „Transzendenz” als oberste Spitze eingeführt wurde. Damit ist auch die Selbstverwirklichung noch nicht das Letzte, sondern die sich selbst überschreitende Dimension, der Bezug auf etwas, was über oder hinter dem Menschen selbst liegt. Wird das die Zukunft sein? Werden wir irgendwann mit der Selbstverwirklichung fertig sein, um uns dann von uns selbst ab- und Gott zuzuwenden?

Aber wo stehen wir heute in unserer Entwicklung wirklich? Geht es tatsächlich um Selbstverwirklichung oder vielleicht doch mehr um die Entwicklung des Individualbedürfnisses? Sind es vielleicht sogar erst die sozialen Bedürfnisse, die erfüllt werden wollen, die grundlegenden Fragen, wie wir unsere Beziehungen leben? Oder ist es „nur” das Sicherheitsbedürfnis, das befriedigt werden will? Meine Vermutung ist, dass das, was wir unter Selbstverwirklichung verstehen, nicht wirklich eine solche ist, sondern vor allem der Individualisierung und der persönlichen Absicherung dient.

Schauen wir die Entwicklungen der letzten Jahre an:

Bereits 1986 dokumentiert der Soziologieprofessor Ulrich Beck (1944 – 2015) einen weitreichenden gesellschaftlichen Umbruch. Er spiegle sich wider in zunehmender Widersprüchlichkeit und der Einsamkeit des einzelnen Menschen, der in die Vereinzelung gerät. Der biografische Pluralismus führe zu einer Zunahme von Beziehungskonflikten. „Der so entstehende ‚Kosmos des eigenen Lebens’ wird auf das Zentrum des Ich, seine Verletzlichkeiten, Möglichkeiten, Stärken und Schwächen hin zugeschnitten und ausbalanciert.”2

Die amerikanische Zukunftsforscherin Faith Popcorn erregte 1991 großes Aufsehen mit ihrem Schlagwort vom „Cocooning”, die Menschen würden sich mehr und mehr in ihre Eigenwelt zurückziehen: „Das Kokon-Dasein bedeutet Isolierung und Vermeidung, Friede und Schutz, Geborgenheit und Kontrolle – eine Art überdimensionaler Nestbau.”3 Nur dort erfahre der Mensch Sicherheit und Geborgenheit. Aber um das zu gewinnen, müsse er sich absetzen von anderen, sich einigeln im Eigenen. Und nur so hielte er eine Welt aus, die brüchig geworden ist ob ihrer vielen Veränderungen.

Der Trend geht also in Richtung Privatleben, Absicherung, Rückzug ins eigene Ich.

1991 zeichnet die Psychologin und Journalistin Claudia Szczesny-Friedmann das Bild einer kühlen Gesellschaft und spricht von Einsamkeit, sozialer Isolierung und Verlassenheitsgefühlen als weitverbreitetes Problem: „Die zunehmende Isolierung des einzelnen ist eine direkte Folge der fortschreitenden Vergesellschaftung des Menschen. Im Zuge jenes Integrationsprozesses, der die Menschen in immer größere und immer komplexere Formen des Zusammenlebens zwingt, verändert sich nämlich die Balance zwischen ‚Wir’ und ‚Ich’, zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum: bei jedem Übergang von einer Stufe zur nächsten, etwa vom Stamm zum Staat, verlagert sich das Schwergewicht zunehmend von der Wir- zur Ich-Identität, bis sich die Menschen im Extremfall als ‚wir-lose Iche’ empfinden.”4

1996 stellt der Journalist Heiko Ernst fest: „Nahezu alle Beobachtungen und Bestandsaufnahmen konvergieren in einem Punkt: die Evolution des Individuums hat ein Stadium erreicht, in dem der einzelne wie nie zuvor auf sich selbst gestellt ist.” Ein Individualisierungsschub habe höchst zwiespältige Ergebnisse mit sich gebracht: „Zum einen eine Vervielfältigung von Freiheiten, Optionen und Lebensmöglichkeiten, zum anderen neue Zwänge und Unsicherheiten, die dem einzelnen ein immenses Maß an Seelenarbeit, an gewaltigen Anpassungsleistungen abverlangt … Der Mensch muss sich nun immer wieder neu selbst bestimmen.”5

1997 spricht der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer in einer Predigt von der Freiheit des Dienens: „Wir nehmen uns die Freiheit für unseren Dienst, und wir können es, weil andere das Ihre – auch für uns! – getan haben und tun. Es wird eine unverzichtbare Aufgabe von uns Christen sein, in einer Durchsetzungskultur, die sich als Freiheit der Stärkeren darstellt, die Kultur des Dienens – aus Freiheit! – zu entfalten.”6 1998 bringt der Politikwissenschaftler K. Peter Fritzsche den Begriff „Stressgesellschaft” ins Spiel mit der Feststellung, dass die starken gesellschaftlichen Veränderungen Stress erzeugen: „Stress ist nicht nur das Ergebnis von einem Zuviel an Belastungen, sondern immer auch von einem Zuwenig an Fähigkeiten und Möglichkeiten, diese Belastungen zu bewältigen ... Zum Stress der unbekannten Freiheiten gesellt sich der Stress des Abbaus von Freiheit ermöglichenden und stützenden sozialen Sicherheiten.”7 Aus der Überforderung erwachsen Überreaktionen und entwickeln sich problematische Entlastungshandlungen. Die Gesellschaft müsse lernen, mit der Freiheit umzugehen, und das bedeute, Toleranzkompetenz zu entwickeln: „Toleranz muss man sich leisten können – und leisten kann sie sich nur derjenige, der sich seiner selbst sicher ist.” Dazu gehöre aber „Multiperspektivität”, die Fähigkeit, sich in die Perspektiven anderer hineinzudenken und hineinzufühlen.

 

Gibt es eine Trendwende?

1999 lässt im Gegensatz zu diesen Entwicklungen der Gießen-Test (eine Erhebung mit recht umfangreichen Befragungen, die in regelmäßigen Abständen – 1968, 1975, 1989, 1994, 1999 – mit ausgewählten Testpersonen durchgeführt wurden) einen erstaunlichen Einstellungs- und Wertewandel erkennen. Die Auswertungen zeigen jetzt u. a. folgende Resultate: „Die Deutschen suchen wieder mehr persönliche und soziale Nähe; sie wünschen sich langfristige Beziehungen und zeigen eine gewachsene ‚Liebesbereitschaft’; sie sind zur gleichen Zeit selbstbewusster (finden sich selbst anziehender als in früheren Befragungen) und verantwortungsbereiter. Auch die sogenannten Sekundärtugenden (Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit usw.) werden stärker als zuvor akzeptiert und unterstützt: besonders die Westdeutschen halten Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit für wichtiger als zuvor.”8 Das Resümee: Die Menschen in Deutschland sind zugleich „solider und sozialer geworden”.

Die Frage stellt sich: Werden hier nur Wünsche geäußert, anstatt konkretes Verhalten zu beschreiben? Kann es sein, dass die Menschen solider und sozialer sein wollen, es aber gar nicht können? Wird hier tatsächlich ein Wertewandel dokumentiert? Oder kommt nicht vielmehr gerade die Reaktion auf die Vereinzelung und Überforderung der Menschen zum Ausdruck? Dann wäre es kein anderes Verhalten, sondern nur eine weitere Steigerung des bisherigen: das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit, soziale Nähe und die Individualisierungsbedürfnisse, die hier ihren Niederschlag finden?

In den Jahren nach 1999 wird die Welt von Krisen geschüttelt: Der Wechsel ins neue Jahrtausend verunsichert viele Menschen, der 11. September 2001 erschüttert sie, dann brechen weltweit Krisenherde auf (Balkan, Naher Osten, Kaukasus u. a.). Zuletzt verursacht die Weltwirtschaftskrise 2008 eine deutliche Zäsur und signalisiert bald vielen, dass das geschützte, friedliche und schöne Leben zu Ende ist. Das Vertrauen in Politik und Wirtschaft ist erschüttert. Versprechen, die gemacht werden, erweisen sich als leere Versprechungen („blühende Landschaften”). Die Wünsche, dass alles besser wird, die Welt friedlicher, die Zukunft sozialer, der Arbeitsmarkt gerechter, die Rente sicher, gehen nicht in Erfüllung. Im Gegenteil. Die Erleichterung durch die Technik (Digitalisierung) führt zur erhöhten Komplexität der Vorgänge, alles wird schneller und verwirrender. Die Kommunikation wird mühsamer, Verständigungsprozesse benötigen viel Zeit und führen oft nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Ein Veränderungsprozess löst den anderen ab, sodass bald niemand mehr richtig Bescheid weiß. Die Globalisierung, die unbegrenzte Möglichkeiten verhieß, führt zu Einschränkungen und unerwarteten Nebenwirkungen. Das Schlagwort von der „Risikogesellschaft”, das Ulrich Beck in den 1980er-Jahren prägte, bewahrheitet sich schärfer als gedacht.

Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski bezeichnet 2004 die Vertrauensbildung als die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts und tritt dafür ein, dass die Menschen in diesen unsicheren Zeiten Selbstvertrauen entwickeln müssten9.

Trotzdem ruft er wenige Jahre später (2010) das Ende der Ichlinge aus: „Hedonisten, hemmungslose Ichlinge passen nicht ins Bild von Krisenzeiten, auch und gerade im zwischenmenschlichen Bereich werden Prinzipien wie Verlässlichkeit und Beständigkeit wieder Bedeutung zugeschrieben. Dem entspricht die Überwindung der verengten narzisstischen Nabelschau zugunsten des wiedergefundenen Blicks auf das Wir und auf Wertorientierung. In den letzten Jahren ist eine grundlegende Änderung in den Lebenseinstellungen der Deutschen feststellbar. Die Menschen rücken wieder enger zusammen und vertrauen einander mehr.”10 Ein zu optimistisches Bild? Die Untersuchungen ergeben offensichtlich als allgemeinen Trend die Renaissance der Familie, neues Interesse an qualitativen Beziehungen und Freundschaften, Kommunikation statt Isolation und eine Kultur des Helfens.

Bestätigung bekommt diese Beobachtung 2011 von dem Zukunftsforscher Matthias Horx. Er widerspricht der Aussage, dass die Menschen heute mit der immer komplizierter werdenden Welt als Individuen völlig überfordert sind, und stellt dagegen: „In Wahrheit ermöglicht uns erst eine ‚komplizierte Welt’ den Prozess der Selbstfindung. Denn eine einfache, unkomplizierte, nicht widersprüchliche Welt würde uns noch nicht einmal auf den Gedanken kommen lassen, dass wir anders werden könnten! Das Missverständnis – und die Überforderung – entsteht immer da, wo ein elitärer Individualismusbegriff entsteht. Das Ziel von Individualität kann nicht das alte, heroische Ich-Ideal sein, worunter man ehedem einen ‚konsistenten Charakter’ verstand, ausgestattet mit ‚stählernem Willen’ und dem Anspruch, allzeit vollständig über Entscheidungsgewalt zu verfügen.”11 Horx bezeichnet Egoismus und Narzissmus als missglückte Individualisierungen und ist der Ansicht, dass das Ich ein Wir braucht, um sich zu finden. Umgekehrt benötigt ein echtes Wir ein starkes Ich. Für den Zukunftsforscher ist die Individualisierung nur die Bedingung und Grundlage für den wichtigsten Megatrend, den er ausmacht: Connectivity – die große Verbundenheit. Das heißt: Der Individualismus ist nur eine Zwischenphase, um zu ganz neuen Formen des Miteinanders zu kommen.

Ist das wirklich so? Besteht tatsächlich Grund zum Optimismus, dass die Zeiten des Egoismus beendet sind und eine neue Ära des „Wir” angebrochen ist?

Breit angelegte Untersuchungen zeigen, dass der Narzissmus zunimmt: Eine Studie der San Diego Universität in USA ergab, dass im Zeitraum von 1982 – 2006 zwei Drittel der Studenten narzisstischer sind als früher.12

Der Soziologe Gerhard Schulze identifizierte 2003 ein Dilemma: Das Ich sei immer mehr genötigt, sich selbst zu definieren, um zu wissen, was man will und wie man es am besten erreicht, aber gleichzeitig sei niemand da, der einem sagt, was man tun soll. Er stellt fest: „Man kann sich nur noch nach sich selbst richten.” Und er fährt fort: „Doch die Ungewissheit ist groß. Wer bin ich, und was will ich aus meinem Leben machen? Diese Frage hat im Lauf der letzten Jahrzehnte immer mehr Menschen ergriffen; in vielen Industrienationen ist sie nicht mehr bloß ein Luxusproblem privilegierter Minderheiten, sondern ein Lebensthema der meisten … Zu keiner Zeit hat sich das Ich so viel mit sich selbst beschäftigt wie in der Moderne.”13

Der Journalist Peter Hahne fordert 2004 leidenschaftlich: „Weg mit der Wohlfühl- und Kuschelkultur, in der nur das getan wird, was Spaß macht und Lust bringt. Wo nur der das Sagen hat, der gerade ‚in’, modern und zeit(geist)gemäß ist oder sich in den Talkshows am besten verkaufen kann. Hin zu einer Gesellschaft, die sich auf ihre Werte besinnt, die noch rechtzeitig innehält und den Ausverkauf der letzten Tabus und den Verfall der Normen als Verlust ihrer Identität erkennt.”14

Der Psychologe Stephan Grünewald diagnostiziert 2006 eine grundsätzliche Lebensangst vor allem bei Jüngeren. Sie würde dazu führen, dass Menschen sich in symbiotische Beziehungen flüchten, wo sie dieser Angst enthoben sind: „Eine zentrale Lebensangst wird bei jungen Menschen spürbar. Die Angst, aus bergenden Bindungen herauszufallen. Die Angst, irgendwann und irgendwo auf sich allein gestellt zu sein.”15 Das befördere nach seiner Meinung eine unterschwellige Absicherungsmanie.

2007 beschreibt der Kultur- und Sozialwissenschaftler Hans-Willi Weis die Reise in die Abgründe des eigenen Ichs als das unbekannte Land, das es zu entdecken gälte. Die Selbstverwirklichung sei das letzte Abenteuer auf der Suche nach dem schönen Leben, sei die Religion unserer Zeit: „Auf geistig aufgeschlossene und seelisch empfindsame Menschen unserer Zeit übt der spirituelle Erlebnis-, Esoterik-, Selbsterfahrungs- und alternative Therapiesektor eine starke Anziehung und Faszination aus.” Die Energien sammeln sich zu einem „Weg nach innen” und dadurch wird das „nichtalltägliche” und „erweiterte” Bewusstsein zu einem Schauplatz des Fortschreitens der menschlich-kulturellen Entwicklung.16 Kennzeichnet das die weitere Zuspitzung einer Entwicklung: Wenn schon Ich, dann richtig – nur noch Ich?

2013 zeichnet der Journalist und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego” eine deprimierend pessimistische Analyse17: Der Markt beherrsche alles, könne aber von niemandem kontrolliert werden, das Misstrauen nähme zu , das Individuum würde ausgelöscht und zu einem Teil einer großen Maschine gemacht, das den Eindruck habe, weit unter seinen Verhältnissen zu leben. „Es wächst ein neues soziales Monster heran, das aus Egoismus, Misstrauen und Angst zusammengesetzt ist und gar nicht anders kann, als im anderen immer das Schlechteste zu vermuten. Und nichts, was man sagt, bedeutet noch, was es heißt”. Schirrmacher ist der Ansicht, dass es Zeit ist, an einen Ausweg zu denken. Er fordert dazu auf, einfach nicht mitzuspielen. Am besten wäre es, einfach der zu sein, der man ist. Aber es bleibt offen, was das bedeutet. Kurz nach der Veröffentlichung seines Buches ist Frank Schirrmacher nur 57-jährig gestorben.

Wie ist es nun heute und morgen?

Die Ichlinge scheinen nicht auszusterben. Lediglich die Formen des Egoismus verändern sich. Das Problem scheint uns erhalten zu bleiben – und sich vielleicht weiter zuzuspitzen? –, obwohl es auch Entwicklungen hin zum Ende der Egogesellschaft gibt. Gibt es vielleicht sogar beides gleichzeitig: ein Ende der Egokultur und eine Zunahme der Bemühungen um selbstbezogene Verwirklichung des eigenen Ichs? Zu welchen Lasten ginge dann diese Entwicklung?

Ein Ende der Gesellschaft der Ichlinge hätte tatsächlich seinen Preis:

Der Journalist Thomas Ramge (geb. 1971) plädiert für eine neue Kultur der Großzügigkeit: „Die Kultur der Großzügigkeit schließt alle ein. Die Alten und die Jungen, die Reichen und die Armen, die gebildeten und die weniger Gewitzten. Wer nehmen muss, weil ihn die Umstände dazu zwingen, kann trotzdem schenken, nämlich Dank und Respekt.”18 Wenn alle geben, werden alle gewinnen. Dann ist das Ende der Egogesellschaft erreicht.

Der Psychoanalytiker, Psychiater und Sozialphilosoph Horst-Eberhard Richter sieht das Ende der Egomanie19 dann anbrechen, wenn 1. die narzisstischen Ichmenschen sich wieder mehr als Wirmenschen fühlen. Wenn sie Nähe suchen, Gefühle austauschen wollen, Liebe fühlen und insbesondere auch geben. Wenn ihr Bestreben sei, miteinander gut auszukommen. Etwas Neues beginne, wenn 2. die unbekümmerte Unverbindlichkeit weicht, Verantwortungsbereitschaft wächst und man sich in langfristigen Bindungen bewähren will, Ordnung schafft und verlässlich ist. Und 3. sei es für einen Einstellungswandel erforderlich, die Fähigkeit zu entwickeln, die eigene relative Ohnmacht anzunehmen, ein neues bisher unterdrücktes Schwächebewusstsein zu erlernen, sich zu seinen Schwächen zu stellen und sie anzunehmen: „Vor dem Anderen ist das Ich unendlich verantwortlich” (Emmanuel Lévinas).

Um zuletzt noch einmal Horst Opaschowski zu Wort kommen zu lassen: „Die Zukunft gehört dem starken Ich und dem wiederentdeckten Wir.”20 Der Zukunftsforscher nimmt wahr, dass die Bevölkerung immer weniger Verständnis für das Ausleben von Egoismen zeigt. Er postuliert das Ende der Alphatiere: „Ichlinge scheitern. Wirlinge kommen weiter. Der neue Star ist das Team als eingespielte Mannschaft mit Wir-Gefühl.” Er sieht als Wesensmerkmal der neuen Wirgesellschaft: „Die Balance von Ich-Stärke und Wir-Gefühl kann zum neuen Paradigma für eine lebenswerte Gesellschaft werden. Die spannungsreiche Beziehung zwischen persönlichem Wohlbefinden und sozialer Verantwortung bleibt bestehen. Das Eigeninteresse kommt nicht zu kurz und Gemeinsinn bürgert sich ein. Das ‚Ich im Wir’ verbindet und hält die Gesellschaft der Zukunft zusammen.”

Möge es so sein! Nicht nur für unsere Generation, sondern mehr noch für die kommende. Diese hat das Wirgefühl noch in verstärktem Maß nötig. 2012 erschien ein Buch des Kinderpsychologen Stephan Valentin mit dem Titel „Ichlinge”. Es beschäftigt sich vor allem mit den Kindern – den Ichlingen von morgen? Er stellt fest: Immer weniger Kinder sind Teamplayer. Woher sollen sie das auch sein? Die Frage ist, was Eltern ihren Kindern vermitteln, die selbst vor allem mit sich und ihrem Fortkommen beschäftigt sind. Das Credo von Valentin ist: Ichlinge werden als solche nicht geboren, sie sind das Produkt äußerer Faktoren. Doch durch das Trainieren der sozialen Kompetenz und durch Prävention im Bereich der Teamfähigkeit kann Ichlingen und generell Kindern und Jugendlichen das innere Gefühl des „Wir” vermittelt und ihnen ein neues Motto für die Zukunft geschenkt werden: „Zusammen leben und agieren statt einsamer (Miss)Erfolg.”21