Dichtung und Wahrheit

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Dichtung und Wahrheit
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Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit

Alle vier Teile

Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit

Alle vier Teile

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

EV: Tempel-Verlag, Leipzig

1. Auflage, ISBN 978-3-962818-86-9

null-papier.de/723


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

Ers­tes Buch

Zwei­tes Buch

Drit­tes Buch

Vier­tes Buch

Fünf­tes Buch

Zwei­ter Teil.

Sechs­tes Buch

Sie­ben­tes Buch

Ach­tes Buch

Neun­tes Buch

Zehn­tes Buch

Drit­ter Teil

Elf­tes Buch

Zwölf­tes Buch

Drei­zehn­tes Buch

Vier­zehn­tes Buch

Fünf­zehn­tes Buch

Nach­träg­li­ches Vor­wort

Vier­ter Teil

Vor­wort

Sech­zehn­tes Buch

Sieb­zehn­tes Buch

Acht­zehn­tes Buch

Neun­zehn­tes Buch

Zwan­zigs­tes Buch

Dan­ke

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Ihr

Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

  Ali­ce im Wun­der­land

  Anna Ka­re­ni­na

  Ju­li­an der Ab­trün­ni­ge

  Die Fahr­ten Bin­ja­mins des Drit­ten

  Dom­bey und Sohn

  Der Graf von Mon­te Chri­sto

  Eine Ge­schich­te von zwei Städ­ten

  Der Irr­geist des Schlos­ses

  Der Stern des Glücks

  Der ver­lo­re­ne Sohn

  Die Bä­ren von Ho­hen-Esp

  Die Erl­kö­ni­gin

  Früh­lings­stür­me

  Die Schat­zin­sel

  Gän­se­lie­sel

  Ha­zard

  Hofluft

  Jung ge­freit

  Katz’ und Maus

  Der Lot­se oder: Aben­teu­er an Eng­lands Küs­te

und wei­te­re …

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Erster Teil

Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται

Als Vor­wort zu der ge­gen­wär­ti­gen Ar­beit, wel­che des­sel­ben viel­leicht mehr als eine an­de­re be­dür­fen möch­te, ste­he hier der Brief ei­nes Freun­des, durch den ein sol­ches, im­mer be­denk­li­ches Un­ter­neh­men ver­an­lasst wor­den.

Wir ha­ben, teu­rer Freund, nun­mehr die zwölf Tei­le Ih­rer dich­te­ri­schen Wer­ke bei­sam­men und fin­den, in­dem wir sie durch­le­sen, man­ches Be­kann­te, man­ches Un­be­kann­te; ja man­ches Ver­ges­se­ne wird durch die­se Samm­lung wie­der an­ge­frischt. Man kann sich nicht ent­hal­ten, die­se zwölf Bän­de, wel­che in ei­nem For­mat vor uns ste­hen, als ein Gan­zes zu be­trach­ten, und man möch­te sich dar­aus gern ein Bild des Au­tors und sei­nes Tal­ents ent­wer­fen. Nun ist nicht zu leug­nen, dass für die Leb­haf­tig­keit, wo­mit der­sel­be sei­ne schrift­stel­le­ri­sche Lauf­bahn be­gon­nen, für die lan­ge Zeit, die seit­dem ver­flos­sen, ein Dut­zend Bänd­chen zu we­nig schei­nen müs­sen. Eben­so kann man sich bei den ein­zel­nen Ar­bei­ten nicht ver­heh­len, dass meis­tens be­son­de­re Ver­an­las­sun­gen die­sel­ben her­vor­ge­bracht und so­wohl äu­ße­re be­stimm­te Ge­gen­stän­de als in­ne­re ent­schie­de­ne Bil­dungs­stu­fen dar­aus her­vor­schei­nen, nicht min­der auch ge­wis­se tem­po­rä­re mo­ra­li­sche und äs­the­ti­sche Ma­xi­men und Über­zeu­gun­gen dar­in ob­wal­ten. Im gan­zen aber blei­ben die­se Pro­duk­tio­nen im­mer un­zu­sam­men­hän­gend; ja oft soll­te man kaum glau­ben, dass sie von dem­sel­ben Schrift­stel­ler ent­sprun­gen sei­en.

Ihre Freun­de ha­ben in­des­sen die Nach­for­schung nicht auf­ge­ge­ben und su­chen, als nä­her be­kannt mit Ih­rer Le­bens- und Denk­wei­se, man­ches Rät­sel zu er­ra­ten, man­ches Pro­blem auf­zu­lö­sen; ja sie fin­den, da eine alte Nei­gung und ein ver­jähr­tes Ver­hält­nis ih­nen bei­steht, selbst in den vor­kom­men­den Schwie­rig­kei­ten ei­ni­gen Reiz. Doch wür­de uns hie und da eine Nach­hil­fe nicht un­an­ge­nehm sein, wel­che Sie un­sern freund­schaft­li­chen Ge­sin­nun­gen nicht wohl ver­sa­gen dür­fen.

Das ers­te also, warum wir Sie er­su­chen, ist, dass Sie uns Ihre, bei der neu­en Aus­ga­be nach ge­wis­sen in­nern Be­zie­hun­gen ge­ord­ne­ten Dicht­wer­ke in ei­ner chro­no­lo­gi­schen Fol­ge auf­füh­ren und so­wohl die Le­bens- und Ge­müts­zu­stän­de, die den Stoff dazu her­ge­ge­ben, als auch die Bei­spie­le, wel­che auf Sie ge­wirkt, nicht we­ni­ger die theo­re­ti­schen Grund­sät­ze, de­nen Sie ge­folgt, in ei­nem ge­wis­sen Zu­sam­men­hange ver­trau­en möch­ten. Wid­men Sie die­se Be­mü­hung ei­nem en­gern Krei­se, viel­leicht ent­springt dar­aus et­was, was auch ei­nem grö­ßern an­ge­nehm und nütz­lich wer­den kann. Der Schrift­stel­ler soll bis in sein höchs­tes Al­ter den Vor­teil nicht auf­ge­ben, sich mit de­nen, die eine Nei­gung zu ihm ge­fasst, auch in die Fer­ne zu un­ter­hal­ten; und wenn es nicht ei­nem je­den ver­lie­hen sein möch­te, in ge­wis­sen Jah­ren mit un­er­war­te­ten, mäch­tig wirk­sa­men Er­zeug­nis­sen von Neu­em auf­zu­tre­ten, so soll­te doch ge­ra­de zu der Zeit, wo die Er­kennt­nis voll­stän­di­ger, das Be­wusst­sein deut­li­cher wird, das Ge­schäft sehr un­ter­hal­tend und neu­be­le­bend sein, je­nes Her­vor­ge­brach­te wie­der als Stoff zu be­han­deln und zu ei­nem Letz­ten zu be­ar­bei­ten, wel­ches de­nen aber­mals zur Bil­dung ge­rei­che, die sich frü­her mit und an dem Künst­ler ge­bil­det ha­ben.

Die­ses so freund­lich ge­äu­ßer­te Ver­lan­gen er­weck­te bei mir un­mit­tel­bar die Lust, es zu be­fol­gen. Denn wenn wir in frü­he­rer Zeit lei­den­schaft­lich un­sern ei­ge­nen Weg ge­hen und, um nicht irre zu wer­den, die An­for­de­run­gen an­de­rer un­ge­dul­dig ab­leh­nen, so ist es uns in spä­tern Ta­gen höchst er­wünscht, wenn ir­gend eine Teil­nah­me uns auf­re­gen und zu ei­ner neu­en Tä­tig­keit lie­be­voll be­stim­men mag. Ich un­ter­zog mich da­her so­gleich der vor­läu­fi­gen Ar­beit, die grö­ße­ren und klei­ne­ren Dicht­wer­ke mei­ner zwölf Bän­de aus­zu­zeich­nen und den Jah­ren nach zu ord­nen. Ich such­te mir Zeit und Um­stän­de zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, un­ter wel­chen ich sie her­vor­ge­bracht. Al­lein das Ge­schäft ward bald be­schwer­li­cher, weil aus­führ­li­che An­zei­gen und Er­klä­run­gen nö­tig wur­den, um die Lücken zwi­schen dem be­reits Be­kannt­ge­mach­ten aus­zu­fül­len. Denn zu­vör­derst fehlt al­les, wor­an ich mich zu­erst ge­übt, es fehlt man­ches An­ge­fan­ge­ne und nicht Vol­len­de­te; ja so­gar ist die äu­ße­re Ge­stalt man­ches Vol­len­de­ten völ­lig ver­schwun­den, in­dem es in der Fol­ge gänz­lich um­ge­ar­bei­tet und in eine an­de­re Form ge­gos­sen wor­den. Au­ßer die­sem blieb mir auch noch zu ge­den­ken, wie ich mich in Wis­sen­schaf­ten und an­de­ren Küns­ten be­müht, und was ich in sol­chen fremd schei­nen­den Fä­chern, so­wohl ein­zeln als in Ver­bin­dung mit Freun­den, teils im Stil­len ge­übt, teils öf­fent­lich be­kannt ge­macht.

 

Al­les die­ses wünsch­te ich nach und nach zu Be­frie­di­gung mei­ner Wohl­wol­len­den ein­zu­schal­ten; al­lein die­se Be­mü­hun­gen und Be­trach­tun­gen führ­ten mich im­mer wei­ter. Denn in­dem ich je­ner sehr wohl­über­dach­ten For­de­rung zu ent­spre­chen wünsch­te und mich be­müh­te, die in­nern Re­gun­gen, die äu­ßern Ein­flüs­se, die theo­re­tisch und prak­tisch von mir be­tre­te­nen Stu­fen der Rei­he nach dar­zu­stel­len, so ward ich aus mei­nem en­gen Pri­vat­le­ben in die wei­te Welt ge­rückt: die Ge­stal­ten von hun­dert be­deu­ten­den Men­schen, wel­che nä­her oder ent­fern­ter auf mich ein­ge­wirkt, tra­ten her­vor, ja die un­ge­heu­ren Be­we­gun­gen des all­ge­mei­nen po­li­ti­schen Welt­laufs, die auf mich wie auf die gan­ze Mas­se der Gleich­zei­ti­gen den größ­ten Ein­fluss ge­habt, muss­ten vor­züg­lich be­ach­tet wer­den. Denn die­ses scheint die Haupt­auf­ga­be der Bio­gra­fie zu sein, den Men­schen in sei­nen Zeit­ver­hält­nis­sen dar­zu­stel­len und zu zei­gen, in­wie­fern ihm das Gan­ze wi­der­strebt, in­wie­fern es ihn be­güns­tigt, wie er sich eine Welt- und Men­schen­an­sicht dar­aus ge­bil­det und wie er sie, wenn er Künst­ler, Dich­ter, Schrift­stel­ler ist, wie­der nach au­ßen ab­ge­spie­gelt. Hier­zu wird aber ein kaum Er­reich­ba­res ge­for­dert, dass näm­lich das In­di­vi­du­um sich und sein Jahr­hun­dert ken­ne, sich, in­wie­fern es un­ter al­len Um­stän­den das­sel­be ge­blie­ben, das Jahr­hun­dert, als wel­ches so­wohl den Wil­li­gen als Un­wil­li­gen mit sich fort­reißt, be­stimmt und bil­det, der­ge­stalt dass man wohl sa­gen kann, ein je­der, nur zehn Jah­re frü­her oder spä­ter ge­bo­ren, dürf­te, was sei­ne ei­ge­ne Bil­dung und die Wir­kung nach au­ßen be­trifft, ein ganz an­de­rer ge­wor­den sein.

Auf die­sem Wege, aus der­glei­chen Be­trach­tun­gen und Ver­su­chen, aus sol­chen Erin­ne­run­gen und Über­le­gun­gen ent­sprang die ge­gen­wär­ti­ge Schil­de­rung, und aus die­sem Ge­sichts­punkt ih­res Ent­ste­hens wird sie am bes­ten ge­nos­sen, ge­nutzt und am bil­ligs­ten be­ur­teilt wer­den kön­nen. Was aber sonst noch, be­son­ders über die halb poe­ti­sche, halb his­to­ri­sche Be­hand­lung etwa zu sa­gen sein möch­te, dazu fin­det sich wohl im Lau­fe der Er­zäh­lung mehr­mals Ge­le­gen­heit.

Erstes Buch

Am 28s­ten Au­gust 1749, Mit­tags mit dem Glo­cken­schla­ge zwölf, kam ich in Frank­furt am Main auf die Welt. Die Kon­stel­la­ti­on war glück­lich: die Son­ne stand im Zei­chen der Jung­frau und kul­mi­nier­te für den Tag; Ju­pi­ter und Ve­nus blick­ten sie freund­lich an, Mer­kur nicht wi­der­wär­tig, Sa­turn und Mars ver­hiel­ten sich gleich­gül­tig; nur der Mond, der so­eben voll ward, übte die Kraft sei­nes Ge­gen­scheins umso mehr, als zu­gleich sei­ne Pla­ne­ten­stun­de ein­ge­tre­ten war. Er wi­der­setz­te sich da­her mei­ner Ge­burt, die nicht eher er­fol­gen konn­te, als bis die­se Stun­de vor­über­ge­gan­gen.

Die­se gu­ten Aspek­ten, wel­che mir die Astro­lo­gen in der Fol­ge­zeit sehr hoch an­zu­rech­nen wuss­ten, mö­gen wohl Ur­sa­che an mei­ner Er­hal­tung ge­we­sen sein: denn durch Un­ge­schick­lich­keit der Heb­am­me kam ich für tot auf die Welt, und nur durch viel­fa­che Be­mü­hun­gen brach­te man es da­hin, dass ich das Licht er­blick­te. Die­ser Um­stand, wel­cher die Mei­ni­gen in große Not ver­setzt hat­te, ge­reich­te je­doch mei­nen Mit­bür­gern zum Vor­teil, in­dem mein Groß­va­ter, der Schult­heiß Jo­hann Wolf­gang Tex­tor, da­her An­lass nahm, dass ein Ge­burts­hel­fer an­ge­stellt und der Heb­am­men-Un­ter­richt ein­ge­führt oder er­neu­ert wur­de; wel­ches denn man­chem der Nach­ge­bor­nen mag zu gute ge­kom­men sein.

Wenn man sich er­in­nern will, was uns in der frühs­ten Zeit der Ju­gend be­geg­net ist, so kommt man oft in den Fall, das­je­ni­ge, was wir von an­de­ren ge­hört, mit dem zu ver­wech­seln, was wir wirk­lich aus eig­ner an­schau­en­der Er­fah­rung be­sit­zen. Ohne also hier­über eine ge­naue Un­ter­su­chung an­zu­stel­len, wel­che oh­ne­hin zu nichts füh­ren kann, bin ich mir be­wusst, dass wir in ei­nem al­ten Hau­se wohn­ten, wel­ches ei­gent­lich aus zwei durch­ge­bro­che­nen Häu­sern be­stand. Eine tur­mar­ti­ge Trep­pe führ­te zu un­zu­sam­men­han­gen­den Zim­mern, und die Un­gleich­heit der Stock­wer­ke war durch Stu­fen aus­ge­gli­chen. Für uns Kin­der, eine jün­ge­re Schwes­ter und mich, war die un­te­re weit­läuf­ti­ge Haus­flur der liebs­te Raum, wel­che ne­ben der Türe ein großes höl­zer­nes Git­ter­werk hat­te, wo­durch man un­mit­tel­bar mit der Stra­ße und der frei­en Luft in Ver­bin­dung kam. Ei­nen sol­chen Vo­gel­bau­er, mit dem vie­le Häu­ser ver­se­hen wa­ren, nann­te man ein Geräms. Die Frau­en sa­ßen dar­in, um zu nä­hen und zu stri­cken; die Kö­chin las ih­ren Salat; die Nach­ba­rin­nen be­spra­chen sich von da­her mit­ein­an­der, und die Stra­ßen ge­wan­nen da­durch in der gu­ten Jahrs­zeit ein süd­li­ches An­se­hen. Man fühl­te sich frei, in­dem man mit dem Öf­fent­li­chen ver­traut war. So ka­men auch durch die­se Gerämse die Kin­der mit den Nach­barn in Ver­bin­dung, und mich ge­wan­nen drei ge­gen­über woh­nen­de Brü­der von Och­sen­stein, hin­ter­las­se­ne Söh­ne des ver­stor­be­nen Schult­hei­ßen, gar lieb und be­schäf­tig­ten und neck­ten sich mit mir auf man­cher­lei Wei­se.

Die Mei­ni­gen er­zähl­ten gern al­ler­lei Eu­len­spie­ge­lei­en, zu de­nen mich jene sonst erns­ten und ein­sa­men Män­ner an­ge­reizt. Ich füh­re nur einen von die­sen Strei­chen an. Es war eben Topf­markt ge­we­sen, und man hat­te nicht al­lein die Kü­che für die nächs­te Zeit mit sol­chen Wa­ren ver­sorgt, son­dern auch uns Kin­dern der­glei­chen Ge­schirr im klei­nen zu spie­len­der Be­schäf­ti­gung ein­ge­kauft. An ei­nem schö­nen Nach­mit­tag, da al­les ru­hig im Hau­se war, trieb ich im Geräms mit mei­nen Schüs­seln und Töp­fen mein We­sen, und da wei­ter nichts da­bei her­aus­kom­men woll­te, warf ich ein Ge­schirr auf die Stra­ße und freu­te mich, dass es so lus­tig zer­brach. Die von Och­sen­stein, wel­che sa­hen, wie ich mich dar­an er­getz­te, dass ich so gar fröh­lich in die Händ­chen patsch­te, rie­fen: »Noch mehr!« Ich säum­te nicht, so­gleich einen Topf und, auf im­mer fort­wäh­ren­des Ru­fen: »Noch mehr!« nach und nach sämt­li­che Schüs­sel­chen, Tie­gel­chen, Känn­chen ge­gen das Pflas­ter zu schleu­dern. Mei­ne Nach­barn fuh­ren fort, ih­ren Bei­fall zu be­zei­gen, und ich war höch­lich froh, ih­nen Ver­gnü­gen zu ma­chen. Mein Vor­rat aber war auf­ge­zehrt, und sie rie­fen im­mer: »Noch mehr!« Ich eil­te da­her stracks in die Kü­che und hol­te die ir­de­nen Tel­ler, wel­che nun frei­lich im Zer­bre­chen noch ein lus­ti­ge­res Schau­spiel ga­ben; und so lief ich hin und wi­der, brach­te einen Tel­ler nach dem an­de­ren, wie ich sie auf dem Topf­brett der Rei­he nach er­rei­chen konn­te, in glei­ches Ver­der­ben. Nur spä­ter er­schi­en je­mand, zu hin­dern und zu weh­ren. Das Un­glück war ge­sche­hen, und man hat­te für so viel zer­broch­ne Töp­fer­wa­re we­nigs­tens eine lus­ti­ge Ge­schich­te, an der sich be­son­ders die schal­ki­schen Ur­he­ber bis an ihr Le­bens­en­de er­getz­ten.

Mei­nes Va­ters Mut­ter, bei der wir ei­gent­lich im Hau­se wohn­ten, leb­te in ei­nem großen Zim­mer hin­ten hin­aus, un­mit­tel­bar an der Haus­flur, und wir pfleg­ten un­se­re Spie­le bis an ih­ren Ses­sel, ja wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin aus­zu­deh­nen. Ich er­in­ne­re mich ih­rer gleich­sam als ei­nes Geis­tes, als ei­ner schö­nen, ha­gern, im­mer weiß und rein­lich ge­klei­de­ten Frau. Sanft, freund­lich, wohl­wol­lend ist sie mir im Ge­dächt­nis ge­blie­ben.

Wir hat­ten die Stra­ße, in wel­cher un­ser Haus lag, den Hirsch­gra­ben nen­nen hö­ren; da wir aber we­der Gra­ben noch Hir­sche sa­hen, so woll­ten wir die­sen Aus­druck er­klärt wis­sen. Man er­zähl­te so­dann, un­ser Haus ste­he auf ei­nem Raum, der sonst au­ßer­halb der Stadt ge­le­gen, und da, wo jetzt die Stra­ße sich be­fin­de, sei eh­mals ein Gra­ben ge­we­sen, in wel­chem eine An­zahl Hir­sche un­ter­hal­ten wor­den. Man habe die­se Tie­re hier be­wahrt und ge­nährt, weil nach ei­nem al­ten Her­kom­men der Se­nat alle Jah­re einen Hirsch öf­fent­lich ver­spei­set, den man denn für einen sol­chen Fest­tag hier im Gra­ben im­mer zur Hand ge­habt, wenn auch aus­wärts Fürs­ten und Rit­ter der Stadt ihre Jagd­be­fug­nis ver­küm­mer­ten und stör­ten, oder wohl gar Fein­de die Stadt ein­ge­schlos­sen oder be­la­gert hiel­ten. Dies ge­fiel uns sehr, und wir wünsch­ten, eine sol­che zah­me Wild­bahn wäre auch noch bei un­sern Zei­ten zu se­hen ge­we­sen.

Die Hin­ter­sei­te des Hau­ses hat­te, be­son­ders aus dem obe­ren Stock, eine sehr an­ge­neh­me Aus­sicht über eine bei­nah un­ab­seh­ba­re Flä­che von Nach­bars­gär­ten, die sich bis an die Stadt­mau­ern ver­brei­te­ten. Lei­der aber war, bei Ver­wand­lung der sonst hier be­find­li­chen Ge­mein­de­plät­ze in Haus­gär­ten, un­ser Haus und noch ei­ni­ge an­de­re, die ge­gen die Stra­ßen­e­cke zu la­gen, sehr ver­kürzt wor­den, in­dem die Häu­ser vom Ross­markt her weit­läu­fi­ge Hin­ter­ge­bäu­de und große Gär­ten sich zu­eig­ne­ten, wir aber uns durch eine ziem­lich hohe Mau­er uns­res Ho­fes von die­sen so nah ge­le­ge­nen Pa­ra­die­sen aus­ge­schlos­sen sa­hen.

Im zwei­ten Stock be­fand sich ein Zim­mer, wel­ches man das Gar­ten­zim­mer nann­te, weil man sich da­selbst durch we­ni­ge Ge­wäch­se vor dem Fens­ter den Man­gel ei­nes Gar­tens zu er­set­zen ge­sucht hat­te. Dort war, wie ich her­an­wuchs, mein liebs­ter, zwar nicht trau­ri­ger, aber doch sehn­süch­ti­ger Auf­ent­halt. Über jene Gär­ten hin­aus, über Stadt­mau­ern und Wäl­le sah man in eine schö­ne frucht­ba­re Ebe­ne: es ist die, wel­che sich nach Höchst hin­zieht. Dort lern­te ich Som­mers­zeit ge­wöhn­lich mei­ne Lek­tio­nen, war­te­te die Ge­wit­ter ab und konn­te mich an der un­ter­ge­hen­den Son­ne, ge­gen wel­che die Fens­ter ge­ra­de ge­rich­tet wa­ren, nicht satt ge­nug se­hen. Da ich aber zu glei­cher Zeit die Nach­barn in ih­ren Gär­ten wan­deln und ihre Blu­men be­sor­gen, die Kin­der spie­len, die Ge­sell­schaf­ten sich er­ge­hen sah, die Ke­gel­ku­geln rol­len und die Ke­gel fal­len hör­te, so er­reg­te dies früh­zei­tig in mir ein Ge­fühl der Ein­sam­keit und ei­ner dar­aus ent­sprin­gen­den Sehn­sucht, das, dem von der Na­tur in mich ge­leg­ten Erns­ten und Ahn­dungs­vol­len ent­spre­chend, sei­nen Ein­fluss gar bald und in der Fol­ge noch deut­li­cher zeig­te.

Die alte, win­kel­haf­te, an vie­len Stel­len düs­te­re Be­schaf­fen­heit des Hau­ses war üb­ri­gens ge­eig­net, Schau­er und Furcht in kind­li­chen Ge­mü­tern zu er­we­cken. Un­glück­li­cher­wei­se hat­te man noch die Er­zie­hungs­ma­xi­me, den Kin­dern früh­zei­tig alle Furcht vor dem Ahn­dungs­vol­len und Un­sicht­ba­ren zu be­neh­men und sie an das Schau­der­haf­te zu ge­wöh­nen. Wir Kin­der soll­ten da­her al­lein schla­fen, und wenn uns die­ses un­mög­lich fiel und wir uns sacht aus den Bet­ten her­vor­mach­ten und die Ge­sell­schaft der Be­dien­ten und Mäg­de such­ten, so stell­te sich, in um­ge­wand­tem Schlaf­rock und also für uns ver­klei­det ge­nug, der Va­ter in den Weg und schreck­te uns in un­se­re Ru­he­stät­te zu­rück. Die dar­aus ent­sprin­gen­de üble Wir­kung denkt sich je­der­mann. Wie soll der­je­ni­ge die Furcht los­wer­den, den man zwi­schen ein dop­pel­tes Furcht­ba­re ein­klemmt? Mei­ne Mut­ter, stets hei­ter und froh und an­de­ren das Glei­che gön­nend, er­fand eine bes­se­re päd­ago­gi­sche Aus­kunft. Sie wuss­te ih­ren Zweck durch Be­loh­nun­gen zu er­rei­chen. Es war die Zeit der Pfir­schen, de­ren reich­li­chen Ge­nuss sie uns je­den Mor­gen ver­sprach, wenn wir nachts die Furcht über­wun­den hät­ten. Es ge­lang, und bei­de Tei­le wa­ren zu­frie­den.

In­ner­halb des Hau­ses zog mei­nen Blick am meis­ten eine Rei­he rö­mi­scher Pro­spek­te auf mich, mit wel­chen der Va­ter einen Vor­saal aus­ge­schmückt hat­te, ge­sto­chen von ei­ni­gen ge­schick­ten Vor­gän­gern des Pi­ra­ne­se, die sich auf Archi­tek­tur und Per­spek­ti­ve wohl ver­stan­den und de­ren Na­del sehr deut­lich und schätz­bar ist. Hier sah ich täg­lich die Pi­az­za del Po­po­lo, das Co­li­seo, den Pe­ters­platz, die Pe­ters­kir­che von au­ßen und in­nen, die En­gels­burg und so man­ches an­de­re. Die­se Ge­stal­ten drück­ten sich tief bei mir ein, und der sonst sehr la­ko­ni­sche Va­ter hat­te wohl manch­mal die Ge­fäl­lig­keit, eine Be­schrei­bung des Ge­gen­stan­des ver­neh­men zu las­sen. Sei­ne Vor­lie­be für die ita­liä­ni­sche Spra­che und für al­les, was sich auf je­nes Land be­zieht, war sehr aus­ge­spro­chen. Eine klei­ne Mar­mor- und Na­tu­ra­li­en­samm­lung, die er von dort­her mit­ge­bracht, zeig­te er uns auch manch­mal vor, und einen großen Teil sei­ner Zeit ver­wen­de­te er auf sei­ne ita­liä­nisch ver­fass­te Rei­se­be­schrei­bung, de­ren Ab­schrift und Re­dak­ti­on er ei­gen­hän­dig, heft­wei­se, lang­sam und ge­nau aus­fer­tig­te. Ein al­ter hei­te­rer ita­liä­ni­scher Sprach­meis­ter, Gio­vi­naz­zi ge­nannt, war ihm dar­an be­hilf­lich. Auch sang der Alte nicht übel, und mei­ne Mut­ter muss­te sich be­que­men, ihn und sich selbst mit dem Kla­vie­re täg­lich zu ak­kom­pa­gnie­ren; da ich denn das So­li­ta­rio bos­co om­bro­so bald ken­nen lern­te und aus­wen­dig wuss­te, ehe ich es ver­stand.

 

Mein Va­ter war über­haupt lehr­haf­ter Na­tur, und bei sei­ner Ent­fer­nung von Ge­schäf­ten woll­te er gern das­je­ni­ge, was er wuss­te und ver­moch­te, auf an­de­re über­tra­gen. So hat­te er mei­ne Mut­ter in den ers­ten Jah­ren ih­rer Ver­hei­ra­tung zum flei­ßi­gen Schrei­ben an­ge­hal­ten, wie zum Kla­vier­spie­len und Sin­gen; wo­bei sie sich ge­nö­tigt sah, auch in der ita­liä­ni­schen Spra­che ei­ni­ge Kennt­nis und not­dürf­ti­ge Fer­tig­keit zu er­wer­ben.

Ge­wöhn­lich hiel­ten wir uns in al­len un­sern Frei­stun­den zur Groß­mut­ter, in de­ren ge­räu­mi­gem Wohn­zim­mer wir hin­läng­lich Platz zu un­sern Spie­len fan­den. Sie wuss­te uns mit al­ler­lei Klei­nig­kei­ten zu be­schäf­ti­gen und mit al­ler­lei gu­ten Bis­sen zu er­qui­cken. An ei­nem Weih­nachts­aben­de je­doch setz­te sie al­len ih­ren Wohl­ta­ten die Kro­ne auf, in­dem sie uns ein Pup­pen­spiel vor­stel­len ließ und so in dem al­ten Hau­se eine neue Welt er­schuf. Die­ses un­er­war­te­te Schau­spiel zog die jun­gen Ge­mü­ter mit Ge­walt an sich; be­son­ders auf den Kna­ben mach­te es einen sehr star­ken Ein­druck, der in eine große, lang­dau­ern­de Wir­kung nach­klang.

Die klei­ne Büh­ne mit ih­rem stum­men Per­so­nal, die man uns an­fangs nur vor­ge­zeigt hat­te, nach­her aber zu eig­ner Übung und dra­ma­ti­scher Be­le­bung übergab, muss­te uns Kin­dern umso viel wer­ter sein, als es das letz­te Ver­mächt­nis un­se­rer gu­ten Groß­mut­ter war, die bald dar­auf durch zu­neh­men­de Krank­heit un­sern Au­gen erst ent­zo­gen und dann für im­mer durch den Tod ent­ris­sen wur­de. Ihr Ab­schei­den war für die Fa­mi­lie von de­sto grö­ße­rer Be­deu­tung, als es eine völ­li­ge Ver­än­de­rung in dem Zu­stan­de der­sel­ben nach sich zog.

So­lan­ge die Groß­mut­ter leb­te, hat­te mein Va­ter sich ge­hü­tet, nur das Min­des­te im Hau­se zu ver­än­dern oder zu er­neu­ern; aber man wuss­te wohl, dass er sich zu ei­nem Haupt­bau vor­be­rei­te­te, der nun­mehr auch so­gleich vor­ge­nom­men wur­de. In Frank­furt, wie in meh­rern al­ten Städ­ten, hat­te man bei Auf­füh­rung höl­zer­ner Ge­bäu­de, um Platz zu ge­win­nen, sich er­laubt, nicht al­lein mit dem ers­ten, son­dern auch mit den fol­gen­den Sto­cken über­zu­bau­en; wo­durch denn frei­lich be­son­ders enge Stra­ßen et­was Düs­te­res und Ängst­li­ches be­ka­men. End­lich ging ein Ge­setz durch, dass, wer ein neu­es Haus von Grund auf baue, nur mit dem ers­ten Stock über das Fun­da­ment her­aus­rücken dür­fe, die üb­ri­gen aber senk­recht auf­füh­ren müs­se. Mein Va­ter, um den vor­sprin­gen­den Raum im zwei­ten Stock auch nicht auf­zu­ge­ben, we­nig be­küm­mert um äu­ße­res ar­chi­tek­to­ni­sches An­se­hen und nur um in­ne­re gute und be­que­me Ein­rich­tung be­sorgt, be­dien­te sich, wie schon meh­re­re vor ihm ge­tan, der Aus­flucht, die obe­ren Tei­le des Hau­ses zu un­ter­stüt­zen und von un­ten her­auf einen nach dem an­de­ren weg­zu­neh­men und das Neue gleich­sam ein­zu­schal­ten, so­dass, wenn zu­letzt ge­wis­ser­ma­ßen nichts von dem Al­ten üb­rig blieb, der ganz neue Bau noch im­mer für eine Re­pa­ra­tur gel­ten konn­te. Da nun also das Ein­rei­ßen und Auf­rich­ten all­mäh­lich ge­sch­ah, so hat­te mein Va­ter sich vor­ge­nom­men, nicht aus dem Hau­se zu wei­chen, um de­sto bes­ser die Auf­sicht zu füh­ren und die An­lei­tung ge­ben zu kön­nen: denn aufs Tech­ni­sche des Bau­es ver­stand er sich ganz gut; da­bei woll­te er aber auch sei­ne Fa­mi­lie nicht von sich las­sen. Die­se neue Epo­che war den Kin­dern sehr über­ra­schend und son­der­bar. Die Zim­mer, in de­nen man sie oft enge ge­nug ge­hal­ten und mit we­nig er­freu­li­chem Ler­nen und Ar­bei­ten ge­ängs­tigt, die Gän­ge, auf de­nen sie ge­spielt, die Wän­de, für de­ren Rein­lich­keit und Er­hal­tung man sonst so sehr ge­sorgt, al­les das vor der Ha­cke des Mau­rers, vor dem Bei­le des Zim­mer­manns fal­len zu se­hen, und zwar von un­ten her­auf, und in­des­sen oben auf un­ter­stütz­ten Bal­ken gleich­sam in der Luft zu schwe­ben und da­bei im­mer noch zu ei­ner ge­wis­sen Lek­ti­on, zu ei­ner be­stimm­ten Ar­beit an­ge­hal­ten zu wer­den – die­ses al­les brach­te eine Ver­wir­rung in den jun­gen Köp­fen her­vor, die sich so leicht nicht wie­der ins Glei­che set­zen ließ. Doch wur­de die Un­be­quem­lich­keit von der Ju­gend we­ni­ger emp­fun­den, weil ihr et­was mehr Spiel­raum als bis­her und man­che Ge­le­gen­heit, sich auf Bal­ken zu schau­keln und auf Bret­tern zu schwin­gen, ge­las­sen ward.

Hart­nä­ckig setz­te der Va­ter die ers­te Zeit sei­nen Plan durch; doch als zu­letzt auch das Dach teil­wei­se ab­ge­tra­gen wur­de und, un­ge­ach­tet al­les über­ge­spann­ten Wachs­tu­ches von ab­ge­nom­me­nen Ta­pe­ten, der Re­gen bis zu un­sern Bet­ten ge­lang­te, so ent­schloss er sich, ob­gleich un­gern, die Kin­der wohl­wol­len­den Freun­den, wel­che sich schon frü­her dazu er­bo­ten hat­ten, auf eine Zeit lang zu über­las­sen und sie in eine öf­fent­li­che Schu­le zu schi­cken.

Die­ser Über­gang hat­te man­ches Un­an­ge­neh­me: denn in­dem man die bis­her zu Hau­se ab­ge­son­dert, rein­lich, edel, ob­gleich streng ge­hal­te­nen Kin­der un­ter eine rohe Mas­se von jun­gen Ge­schöp­fen hin­un­ters­tieß, so hat­ten sie vom Ge­mei­nen, Schlech­ten, ja Nie­der­träch­ti­gen ganz un­er­war­tet al­les zu lei­den, weil sie al­ler Waf­fen und al­ler Fä­hig­keit er­man­gel­ten, sich da­ge­gen zu schüt­zen.

Um die­se Zeit war es ei­gent­lich, dass ich mei­ne Va­ter­stadt zu­erst ge­wahr wur­de: wie ich denn nach und nach im­mer frei­er und un­ge­hin­der­ter, teils al­lein, teils mit mun­tern Ge­spie­len, dar­in auf und ab wan­del­te. Um den Ein­druck, den die­se erns­ten und wür­di­gen Um­ge­bun­gen auf mich mach­ten, ei­ni­ger­ma­ßen mit­zu­tei­len, muss ich hier mit der Schil­de­rung mei­nes Ge­burts­or­tes vor­grei­fen, wie er sich in sei­nen ver­schie­de­nen Tei­len all­mäh­lich vor mir ent­wi­ckel­te. Am liebs­ten spa­zier­te ich auf der großen Main­brücke. Ihre Län­ge, ihre Fes­tig­keit, ihr gu­tes An­se­hen mach­te sie zu ei­nem be­mer­kens­wer­ten Bau­werk; auch ist es aus frü­he­rer Zeit bei­na­he das ein­zi­ge Denk­mal je­ner Vor­sor­ge, wel­che die welt­li­che Ob­rig­keit ih­ren Bür­gern schul­dig ist. Der schö­ne Fluss auf- und ab­wärts zog mei­ne Bli­cke nach sich; und wenn auf dem Brücken­kreuz der gol­de­ne Hahn im Son­nen­schein glänz­te, so war es mir im­mer eine er­freu­li­che Emp­fin­dung. Ge­wöhn­lich ward als­dann durch Sach­sen­hau­sen spa­ziert und die Über­fahrt für einen Kreu­zer gar be­hag­lich ge­nos­sen. Da be­fand man sich nun wie­der dies­seits, da schlich man zum Wein­mark­te, be­wun­der­te den Mecha­nis­mus der Kra­ne, wenn Wa­ren aus­ge­la­den wur­den; be­son­ders aber un­ter­hielt uns die An­kunft der Markt­schif­fe, wo man so man­cher­lei und mit­un­ter so selt­sa­me Fi­gu­ren aus­stei­gen sah. Ging es nun in die Stadt her­ein, so ward je­der­zeit der Saal­hof, der we­nigs­tens an der Stel­le stand, wo die Burg Kai­ser Karls des Gro­ßen und sei­ner Nach­fol­ger ge­we­sen sein soll­te, ehr­furchts­voll ge­grüßt. Man ver­lor sich in die alte Ge­werb­stadt und be­son­ders Markt­ta­ges gern in dem Ge­wühl, das sich um die Bar­tho­lo­mäus­kir­che her­um ver­sam­mel­te. Hier hat­te sich, von den frü­he­s­ten Zei­ten an, die Men­ge der Ver­käu­fer und Krä­mer über ein­an­der ge­drängt, und we­gen ei­ner sol­chen Be­sitz­nah­me konn­te nicht leicht in den neu­ern Zei­ten eine ge­räu­mi­ge und hei­te­re An­stalt Platz fin­den. Die Bu­den des so­ge­nann­ten Pfar­rei­sens wa­ren uns Kin­dern sehr be­deu­tend, und wir tru­gen man­chen Bat­zen hin, um uns far­bi­ge, mit gol­de­nen Tie­ren be­druck­te Bo­gen an­zu­schaf­fen. Nur sel­ten aber moch­te man sich über den be­schränk­ten, voll­ge­pfropf­ten und un­rein­li­chen Markt­platz hin­drän­gen. So er­in­ne­re ich mich auch, dass ich im­mer mit Ent­set­zen vor den dar­an­sto­ßen­den en­gen und häss­li­chen Fleisch­bän­ken ge­flo­hen bin. Der Rö­mer­berg war ein de­sto an­ge­neh­me­rer Spa­zier­platz. Der Weg nach der neu­en Stadt, durch die neue Kräm, war im­mer auf­hei­ternd und er­getz­lich; nur ver­dross es uns, dass nicht ne­ben der Lieb­frau­en­kir­che eine Stra­ße nach der Zeil zu ging und wir im­mer den großen Um­weg durch die Ha­sen­gas­se oder die Ka­tha­ri­nen­pfor­te ma­chen muss­ten. Was aber die Auf­merk­sam­keit des Kin­des am meis­ten an sich zog, wa­ren die vie­len klei­nen Städ­te in der Stadt, die Fes­tun­gen in der Fes­tung, die um­mau­er­ten Klos­ter­be­zir­ke näm­lich, und die aus frü­hern Jahr­hun­der­ten noch üb­ri­gen mehr oder min­der burg­ar­ti­gen Räu­me: so der Nürn­ber­ger Hof, das Com­postell, das Braun­fels, das Stamm­haus de­rer von Stall­burg und meh­re­re in den spä­tern Zei­ten zu Woh­nun­gen und Ge­werbs­be­nut­zun­gen ein­ge­rich­te­te Fes­ten. Nichts ar­chi­tek­to­nisch Er­he­ben­des war da­mals in Frank­furt zu se­hen: al­les deu­te­te auf eine längst ver­gang­ne, für Stadt und Ge­gend sehr un­ru­hi­ge Zeit. Pfor­ten und Tür­me, wel­che die Grän­ze der al­ten Stadt be­zeich­ne­ten, dann wei­ter­hin aber­mals Pfor­ten, Tür­me, Mau­ern, Brücken, Wäl­le, Grä­ben, wo­mit die neue Stadt um­schlos­sen war, al­les sprach noch zu deut­lich aus, dass die Not­wen­dig­keit, in un­ru­hi­gen Zei­ten dem Ge­mein­we­sen Si­cher­heit zu ver­schaf­fen, die­se An­stal­ten her­vor­ge­bracht, dass die Plät­ze, die Stra­ßen, selbst die neu­en, brei­ter und schö­ner an­ge­leg­ten, alle nur dem Zu­fall und der Will­kür und kei­nem re­geln­den Geis­te ih­ren Ur­sprung zu dan­ken hat­ten. Eine ge­wis­se Nei­gung zum Al­ter­tüm­li­chen setz­te sich bei dem Kna­ben fest, wel­che be­son­ders durch alte Chro­ni­ken, Holz­schnit­te, wie z. B. den Gravschen von der Be­la­ge­rung von Frank­furt, ge­nährt und be­güns­tigt wur­de; wo­bei noch eine an­de­re Lust, bloß mensch­li­che Zu­stän­de in ih­rer Man­nig­fal­tig­keit und Na­tür­lich­keit, ohne wei­tern An­spruch auf In­ter­es­se oder Schön­heit zu er­fas­sen, sich her­vor­tat. So war es eine von un­sern liebs­ten Pro­me­na­den, die wir uns des Jahrs ein paar­mal zu ver­schaf­fen such­ten, in­wen­dig auf dem Gan­ge der Stadt­mau­er her­um­zu­spa­zie­ren. Gär­ten, Höfe, Hin­ter­ge­bäu­de zie­hen sich bis an den Zwin­ger her­an; man sieht meh­re­ren tau­send Men­schen in ihre häus­li­chen, klei­nen, ab­ge­schlos­se­nen, ver­bor­ge­nen Zu­stän­de. Von dem Putz- und Schau­gar­ten des Rei­chen an den Obst­gär­ten des für sei­nen Nut­zen be­sorg­ten Bür­gers, von da zu Fa­bri­ken, Bleich­plät­zen und ähn­li­chen An­stal­ten, ja bis zum Got­tesa­cker selbst – denn eine klei­ne Welt lag in­ner­halb des Be­zirks der Stadt – ging man zu dem man­nig­fal­tigs­ten, wun­der­lichs­ten, mit je­dem Schritt sich ver­än­dern­den Schau­spiel vor­bei, an dem uns­re kin­di­sche Neu­gier sich nicht ge­nug er­ge­hen konn­te. Denn für­wahr, der be­kann­te hin­ken­de Teu­fel, als er für sei­nen Freund die Dä­cher von Ma­drid in der Nacht ab­hob, hat kaum mehr für die­sen ge­leis­tet, als hier vor uns un­ter frei­em Him­mel, bei hel­lem Son­nen­schein, ge­tan war. Die Schlüs­sel, de­ren man sich auf die­sem Wege be­die­nen muss­te, um durch man­cher­lei Tür­me, Trep­pen und Pfört­chen durch­zu­kom­men, wa­ren in den Hän­den der Zeugher­ren, und wir ver­fehl­ten nicht, ih­ren Su­bal­ter­nen aufs bes­te zu schmei­cheln.