Kapitalismus und politische Demokratie

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Kapitalismus und politische Demokratie
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„Wie im System des klassischen Liberalismus die Privatrechtsordnung unproblematisch mit der Verfassungsstruktur synchronisiert war, indem die von der Verfügung über die Produktionsmittel ausgeschlossenen Unterklassen auch in politischer Hörigkeit gehalten wurden, so repetiert die faschistische Lösung der ökonomischen Krise die Grundmuster bürgerlicher Herrschaftssicherung: die sozialen Verfügungsprivilegien werden unmittelbar in die Verfassungsstruktur verlängert.“

Joachim Perels ist ein deutscher Politikwissenschaftler, Mitbegründer der Zeitschrift „Kritische Justiz“ und Professor em. für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur demokratischen Verfassungstheorie, zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und zur Herrschaftsstruktur des Staatssozialismus.

Joachim Perels

Kapitalismus und politische Demokratie

Privatrechtssystem und Gesellschaftsstruktur in der Weimarer Republik


Für kritischen Rat, der diese Arbeit mit strukturiert hat, danke ich Professor Wiethölter, Alexander v. Brünneck, Thomas Blanke und Dieter Hart.J. P.

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

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Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

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ISBN 978-3-86393-572-6

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Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

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Vorwort zur Neuausgabe

Diese Schrift ist nach wie vor zeitgemäß – angesichts der Zeitenwende, in der das Verhältnis von Sozialismus und Demokratie wieder auf der Tagesordnung steht. Sie hat an Aktualität, gerade in der jetzigen Lage, nichts eingebüßt.

Meine Dissertation zeigt, welche Gefahren in der Fortexistenz des Kapitalismus bestehen. Insofern passt die Neuauflage in die aktuelle Krisensituation. In der Zusammenfassung der Arbeit heißt es: „Wie im System des klassischen Liberalismus die Privatrechtsordnung unproblematisch mit der Verfassungsstruktur synchronisiert war, indem die von der Verfügung über die Produktionsmittel ausgeschlossenen Unterklassen auch in politischer Hörigkeit gehalten wurden, so repetiert die faschistische Lösung der ökonomischen Krise die Grundmuster bürgerlicher Herrschaftssicherung: die sozialen Verfügungsprivilegien werden unmittelbar in die Verfassungsstruktur verlängert.“

Gegenwärtig steht natürlich nicht die Einführung einer sozialistischen Demokratie auf der politischen Agenda. Aber als Krisenanalyse scheint meine Arbeit nach wie vor wichtig zu sein. In dem Grundlagenwerk über den Nationalsozialismus von Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt am Main 1977, wird diese These auf einer breiten, empirisch wie theoretisch gehaltvollen Weise entfaltet: „Verdient ein solches System den Namen Recht? Ja, wenn Gesetz nichts weiter ist als der Wille des Souveräns, ganz entschieden nein, wenn Gesetz im Gegensatz zum Befehl des Souveräns entweder der Form oder dem Inhalt nach rational sein muß. Das nationalsozialistische Rechtssystem ist nichts anderes als eine Technik der Manipulation der Massen durch Terror. Die Strafgerichte sind heute im Verein mit der Geheimen Staatspolizei, der Staatsanwaltschaft und den Henkern in erster Linie Praktiker der Gewalt, und die Zivilgerichte sind primär Vollzugsagenten der monopolistischen Wirtschaftsverbände.“ (S. 530)

Die historische Analyse hat auch für die Gegenwart Bedeutung. Sie basiert auf dem Grundwiderspruch zwischen einer kapitalistischen Ordnung und einer umfassenden Demokratie, die erst im demokratischen Sozialismus zu sich selber kommt. Dies bleibt ein Postulat, das aber bis heute als normatives Prinzip unübertroffen ist. Mit einem Ausdruck von Ernst Bloch zu sprechen, ist es „unabgegolten“.

Dieser Gedanke liegt auch dieser, meiner ersten richtigen wissenschaftlichen Arbeit zugrunde. Ohne die Fürsprache durch Professor Rudolf Wiethölter vor beinahe 40 Jahren könnte ich im Jahr 2021 nicht darauf verweisen: Sie ist in mancher Beziehung bis heute tatsächlich aktuell.

Hannover, im Januar 2021

Inhalt

Einleitung

I. Warenproduktion und Privatrechtssystem

II. Das Verhältnis von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur im klassischen Liberalismus und seine deutsche Variante im Kaiserreich von 1871

III. Veränderungen des Verhältnisses von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur im organisierten Kapitalismus des Kaiserreichs von 1871

IV. Die Verfassungsstruktur von Weimar

V. Die Rolle der Eigentumsgarantie und des Instituts der Enteignung in der Verfassungsstruktur

VI. Die Rolle des Arbeitsrechts in der Verfassungsstruktur

VII. Die Rolle der Monopolisierung in der Verfassungsstruktur

VIII. Die Bedrohung der Verfassungsstruktur durch das Privatrechtssystem 1920 bis 1929

IX. Der Sieg des Privatrechtssystems über die Verfassungsstruktur in der ökonomischen Krise 1930 bis 1933

Zusammenfassung

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Untersuchung des Verhältnisses von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur in der Weimarer Republik versteht sich als Spezialstudie zu dem allgemeineren Problem der Beziehung der sozialen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zu deren politischer Herrschaftsform; in der Analyse dieser Beziehung konstituiert sich eine materialistische Staatstheorie.

Die Variationsbreite der empirischen Konstellationen von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur hat Rosa Luxemburg in einer knappen historischen Darstellung am Beispiel Frankreichs, dem, neben England, klassischen Land bürgerlicher Herrschaft umrissen. »Der Kapitalismus ruft in seinen Anfängen – als Warenproduktion – eine demokratische Verfassung in den städtischen Kommunen ins Leben; später, in seiner entwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absoluten Monarchie seine entsprechende politische Form. Endlich als entfaltete industrielle Wirtschaft erzeugt er in Frankreich abwechselnd die demokratische Republik (1793), die absolute Monarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit (1815 bis 1830), die bürgerliche konstitutionelle Monarchie des Louis Philippe, wieder die demokratische Republik, wieder die Monarchie Napoleons III., endlich zum dritten Mal die Republik.«1

Die Studie versucht, Strukturprinzipien der Vermittlungsformen von sozialer Verfassung und politischem Herrschaftssystem an einem isolierbaren Bereich geschichtlich zu spezifizieren.2 Sie folgt nicht einem antiquarischen Interesse. Denn die Privateigentumsherrschaft bildet die identische gesellschaftliche Grundlage nicht nur der Weimarer, sondern auch der Bonner Demokratie.

Der Begriff der Verfassungsstruktur, der im Unterschied zu dem des Privatrechtssystems in der Rechtswissenschaft keinen so festen Platz hat, soll nicht vorweg abschließend definiert werden, weil seine Konturen erst in historischer Explikation, in der Totalität einer bestimmten historischen Lage sichtbar werden können; »die Begriffe (werden) weniger durch eine Definition, als durch die methodische Funktion, die sie als aufgehobene Momente in der Totalität erhalten, zu ihrer richtigen Bedeutung gebracht.«3 Die Willkürlichkeit vorweggeschickter Definitionen bei wissenschaftlichen Erörterungen hat Hegel bezeichnet. »Eine Definition, mit der irgendeine Wissenschaft den absoluten Anfang macht, kann nichts anderes enthalten als den bestimmten, regelrechten Ausdruck von demjenigen, was man sich zugegebener- und bekanntermaßen unter dem Gegenstande und Zweck der Wissenschaft vorstellt. Daß man sich gerade dies darunter vorstelle, ist eine historische Versicherung, in Ansehung derer man sich allein auf dieses und jenes Anerkannte berufen oder eigentlich nur bittweise beibringen kann, daß man dies oder jenes als bekannt gelten lassen möge.«4 Sehr vorläufig freilich mag davon ausgegangen werden, daß Verfassungsstruktur sowohl den verfassungsrechtlichen Normenbestand wie, vor allem, die Realverfassung des politischen Bereichs meint.

Die Arbeit argumentiert auf zwei Erklärungsebenen. Als eine Erklärungsebene fungiert die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende ökonomische Entwicklung, die sich in bestimmte Rechtsformen übersetzt. Als zweite Erklärungsebene dient das politische Kräfteverhältnis der Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft, der Besitzer der Produktionsmittel und der von der Verfügung über die Produktionsmittel Ausgeschlossenen.

 

Die beiden Erklärungsebenen sind nicht in eine schlichte Ursachen-Wirkungsbeziehung auflösbar. Marx selber verweist auf die Unmöglichkeit der ökonomistischen Reduktion des politischen Kräfteparallelogramms. «Von verschiedenen Seiten warf man uns vor, daß wir nicht die ökonomischen Verhältnisse dargestellt haben, welche die materielle Grundlage der jetzigen Klassenkämpfe und Nationalkämpfe bilden. Wir haben planmäßig diese Verhältnisse nur da berührt, wo sie sich in politischen Kollisionen unmittelbar auf drängen.«5 Die politische Form des Klassenkampfes steht nicht in einem Implikationsverhältnis zur Warenanalyse.6 »Die als Kritik durchgeführte politische Ökonomie leitet nicht alle Erscheinungsformen, mithin auch den existierenden Klassenkampf, logisch eindimensional aus dem Verwertungsprozeß des Kapitals ab.«7 Zwar ist »die ökonomische Lage (…) die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegreiche Klasse festgestellt, usw. – Rechtsformen (…) üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen vorwiegend deren Form«.8

Die in politökonomische Verhältnisse nicht auflösbare Eigendynamik der staatlichen Herrschaftsverfassung, die wesentlich durch das geschichtlich prozessierende Kräfteverhältnis der Klassen bedingt ist, nötigt zu einem erweiterten Bezugsrahmen für eine materialistische Staatstheorie. In der Marxschen Theorie fällt eine an systematischen Kategorien zu orientierende Staatstheorie zwischen den ökonomiekritischen Schriften, die die Entmystifikation der Selbstbewegungsformen des Kapitals betreiben, und den Verlaufsanalysen konkreter Klassenkämpfe hindurch.9 Marx hatte bekanntlich vor, der Funktion des Staates eine gesonderte Untersuchung zu widmen.10 Ein Bezugrahmen für eine materialistische Staatstheorie ist im Kern bis heute nicht entwickelt. In der kürzlich geführten Kontroverse zwischen Poulantzas und Miliband11 über die Funktion des kapitalistischen Staates besteht das von Marx explizit nicht behandelte Problem fort: Die Staatsfunktion wird zerrissen in die politische Ökonomie allgemeiner Basisbedingungen (Poulantzas) und empirisch konstatierbarer Wechselbeziehungen zwischen kapitalistischen Interessen und Staatsaktivitäten (Miliband).12 In dem von Habermas13 und Offe14 vertretenen systemtheoretisch angereicherten Ansatz wird der gordische Knoten einer politökonomisch und klassenanalytisch fundierten Staatstheorie durchschnitten: tendenziell nimmt der Staat Subjektcharakter an; er wird zum lernfähigen System, das prinzipiell weder werttheoretisch noch klassenanalytisch zu erfassen ist. Dieser Ansatz ist mit weitreichenden Prämissen verbunden; sie de-thematisieren die Krisenproblematik und unterstellen die prinzipielle Latenz von Klassenauseinandersetzungen.15

In dieser, sehr kursorisch skizzierten, Theorielage kann ein Bezugsrahmen für eine materialistische Staatstheorie nicht in einem abstrakten Vorgriff entworfen werden. Vielmehr soll ein begrenzter Gegenstandsbereich, aus dem ein Baustein für eine materialistische Staatstheorie gewonnen werden könnte, historisch-empirisch aufgearbeitet werden: in der Form systematisierter Geschichte. Dies kann aufgrund der gegebenen Theorielage zu einem Teil unter nur deskriptiven Kategorien geschehen.

Die Kapitel I-III arbeiten die bürgerliche Interessenfundierung der Beziehung von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur im 19. Jahrhundert heraus: die Privateigentumsherrschaft setzt sich in die Verfassungsstruktur um. Der entscheidende Einschnitt erfolgt mit der Weimarer Republik, weil in ihr die Mechanik dieses Umsetzungsprozesses gestört erscheint. Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur geraten in ein widersprüchliches Verhältnis. Denn im Bereich der Verfassungsstruktur haben die Unterklassen prinzipiell die gleichen politischen Rechte wie die Repräsentanten des Privatrechtssystems. Die bürgerliche Interessenlage gebietet, diesen Widerspruch aufzulösen, das Privatrechtssystem in die Verfassungsstruktur zu verlängern. An drei Brennpunkten, in denen sich Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur schneiden, wird dieser Prozeß exemplarisch analysiert. Zuerst wird der Schutz des Grundpfeilers der Privatrechtsordnung, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, untersucht (Kap. V). Als zweiter Komplex erscheint die andere Seite des mit dem Privatrechtssystem gesetzten Klassenverhältnisses: die Stellung der Lohnarbeiterklasse im Rahmen der Privatrechtsordnung (Kap. VI). Schließlich werden die auf den Markt bezogenen, tauschvermittelnden Konnexinstitute des Privateigentums, die sich zu Instanzen privater Rechtssetzungsmacht ausbilden, verfolgt (Kap. VII). Die Schlußkapitel zeigen, wie sich in der ökonomischen Krise die in Kapitel V-VII konstatierte Inkorporation der Verfassungsstruktur in das Privatrechtssystem auf qualitativ höherer Stufe fortsetzt – bis zur Zertrümmerung der Weimarer Verfassungsstruktur im Faschismus.

1 R. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Politische Schriften I, Frankfurt 1966, S. 107 f. Carl Schmitt analysiert den Sachverhalt in der gleichen Weise: »In dem Maße, in dem das Bürgertum den politischen Kampf nur noch unter dem Gesichtspunkt seines wirtschaftlichen Interesses führte (…), konnte es sich auch damit begnügen, den politischen Einfluß, den es brauchte, mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Macht durchzusetzen und sich im übrigen mit den verschiedenen Regierungen abzufinden: mit Bonapartismus, konstitutioneller Monarchie deutschen Stiles und demokratischer Republik, sofern nur das Privateigentum nicht bedroht und der Einfluß der wirtschaftlichen Interessen auf die Zusammensetzung der Volksvertretung nicht gefährdet war.« C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 19654, S. 312.

2 Zum Begriff der geschichtlichen Spezifizierung vgl. K. Korsch, Karl Marx, Frankfurt 1967.

3 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 11.

4 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, ed. Moldenhauer/Michel, Frankfurt 1969, S. 42 f. Hervorhebungen von Hegel. Vgl. auch T. W. Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, Frankfurt o. J. (1971), S. 54 f.

5 K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, K. Marx/F. Engels, Werke (MEW) Bd. 6, Berlin 1970, S. 397. Hervorhebung von Marx.

6 J. Ritsert, C. Rolshausen, Der Konservatismus der kritischen Theorie, Frankfurt 1971, S. 54.

7 Ebenda.

8 f. Engels, Brief an J. Bloch, MEW Bd. 37, Berlin 1967, S. 463, Hervorhebung von Engels.

9 Vgl. H. J. Krahl, Produktion und Klassenkampf, in: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt 1971, S. 384 ff.

10 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 175. Vgl. auch das Vorwort des Marx-Engels-Lenin-Instituts zu diesem Band, S. IX.

11 N. Poulantzas, Das Problem des kapitalistischen Staates; R. Miliband, Der kapitalistische Staat: Antwort an N. Poulantzas, Kritische Justiz 2/1971, S. 201 ff. Die Kontroverse bezog sich auf das Buch von R. Miliband, The State in Capitalist Society, London 1969.

12 Vgl. die Rezension des ebenda genannten Buches von Miliband durch J. Ritsert, Kritische Justiz 2/1971, S. 221 ff.

13 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt 1968, S. 48 ff., ders., Bedingungen für eine Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Marx und die Revolution, Frankfurt 1970, S. 24 ff.

14 C. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen – Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaften, in: G. Kress/D. Senghaas, Politikwissenschaft, Frankfurt 1969, S. 155 ff.

15 Zur Kritik vgl. J. Ritsert, C. Rolshausen, a. a. O. (Anm. 6), S. 27 ff. und das unveröffentlichte Arbeitspapier von H. Neuendorff/U. Rödel, Projektentwurf. Untersuchung der Funktionen staatlicher Wissenschafts- und Technologiepolitik in spätkapitalistischen Systemen am Beispiel der Bundesrepublik.

I. Warenproduktion und Privatrechtssystem

Die Funktionsweise des Privatrechtssystems kann immanent juristisch nicht zureichend erfaßt werden. Die an das Privatrechtssystem geknüpften Rechtsverhältnisse sind »weder aus sich selbst zu begreifen (…) noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes (… sie wurzeln) vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen (…), deren Gesamtheit Hegel (…) unter dem Titel der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfaßt«.1 Dem immanent juristischen Selbstverständnis, das die Entwicklung des Rechts als geistesgeschichtliche Parthenogenesis begreift, erscheint das Privatrecht im allgemeinen Willen des Privateigentümers, im jus utendi et abutendi begründet. Dieser »juristischen Illusion«2 steht ein einfacher Tatbestand entgegen: »In der Praxis hat das abuti sehr bestimmte ökonomische Grenzen für den Eigentümer, wenn er nicht sein Eigentum und damit sein jus abutendi in andere Hände übergehen sehen will, da überhaupt die Sache, bloß in Beziehung auf seinen Willen betrachtet, gar keine Sache ist, sondern erst im Verkehr und unabhängig vom Recht zu einer Sache, zu wirklichem Eigentum wird.«3

Privatrecht reduziert sich in unserem Verstande nicht auf den Inbegriff der juristischen Dogmatik, die mit der Regelung der Beziehungen der Privatrechtssubjekte befaßt ist; Privatrecht erscheint vielmehr als die rechtliche Form der sozialen Struktur4 – in dem Sinn wie Marx die Begriffe Produktions- und Eigentumsverhältnisse synonym verwendet.5

Das moderne bürgerliche Privatrechtssystem ist bezogen auf die ökonomische Struktur einer warenproduzierenden Gesellschaft; »der Aufstieg der Bedeutung des privatrechtlichen Kontrakts im allgemeinen (stellt) die juristische Seite der Marktgemeinschaft dar.«6 Diesen Zusammenhang hat Marx im »Kapital« analysiert. »Die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in anderen Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des anderen, also jeder nur vermittels eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigene veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben.«7

Die Grundpfeiler des Privatrechtssystems: Eigentumsfreiheit mit ihren konnexen Freiheitsrechten8 Vertragsfreiheit, Vererbungsfreiheit, Gewerbefreiheit etc. sind Garanten des kapitalistischen Warenverkehrs und Mittel zu seiner Regelung.

Das bürgerliche Privatrecht hatte die feudalen Privilegien und zunftmäßigen Beschränkungen zersetzt. »Das Gewerbe war, soweit es handwerksmäßig betrieben wurde, durch die Zunftschranken, durch die bis ins einzelne genauen Vorschriften über die Art der Produktion, über die Zahl der Gesellen, über die Betriebsgröße usw. eingeengt. Soweit das Gewerbe Großbetrieb war, waren die vielen staatlichen Schranken aufgerichtet, die das Wesen der sog. merkantilistischen Wirtschaftspolitik ausmachten. Der Staat hatte nicht nur eine große Anzahl von Unternehmungen in seiner Hand, sondern auch die sog. freien Gewerbe waren durch alle möglichen staatlichen Reglementierungen, Privilegierungen, Konzessionierungen in ihrer Wirtschaftsführung unfrei; bis zur staatlichen Kontrollierung und Fixierung der Preise ging diese (…) Wirtschaftspolitik. Durch viele Regalien, wie das Forst-, Jagd-, Bergwerksregal, waren wichtigste Produktionsmittel der Verfügungsgewalt des Staates überliefert (…). Das alles wurde durch die umwälzende rechtliche Neuerung, die in der folgenden Zeitepoche geschaffen wurde, geändert.«9

 

Alle Menschen werden zu juristisch gleichen »Personen«, die sich der Gestaltungsmöglichkeiten des Privatrechts bedienen können. Die formale juristische Gleichheit fungiert aber als Vehikel ökonomischer Ungleichheit; die Garantie des Privateigentums, das gerade dadurch existiert, daß es für die meisten nicht existiert,10 und der an es geknüpften konnexen Freiheitsrechte dienen der gesellschaftlichen Minderheit der Besitzer der Produktionsmittel, die allein von den juristischen Möglichkeiten auch Gebrauch machen können.

Dies zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt. Gleichberechtigt stehen sich auf ihm der Arbeiter, der nur über seine Arbeitskraft verfügt, und der Besitzer der Produktionsmittel gegenüber. Beide »Personen« schließen einen »freien« Arbeitsvertrag, der durch keine vom Staat oder den Zünften festgelegten Regelungen vorherbestimmt ist. Der Inhalt des Vertrages wird durch den Produktionsmittelbesitzer festgesetzt. Auf ihre Bedingungen muß der Arbeiter, »(gezwungen) durch die Hungerpeitsche«11, eingehen. Koalitionsverbote, die im Frühliberalismus erlassen werden12, verhindern, daß die Arbeiter ihren Interessen kollektiv Ausdruck verleihen können.

Während in der Phase der Kleinwarenproduktion die Arbeitsmittel den Produzenten gehörten, Hersteller und Aneigner der Produkte identisch waren, nimmt das Privateigentum auf der Basis ökonomischer Ungleichheit, welche sich in der Periode der »ursprünglichen Akkumulation«13 durch die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln ausgebildet hatte, Enteignungsfunktion für die unmittelbaren Produzenten an:14 da die gegenständlichen Arbeitsbedingungen unter der Verfügungsgewalt der kleinen Schicht der Kapitaleigentümer stehen, gehen die Produkte der Arbeit der unmittelbaren Produzenten ins Eigentum der Produktionsmittelbesitzer über.

Das durch die Trennung der Arbeiter von den Mitteln der Produktion konstituierte Kapitalverhältnis ist kein statisches Faktum, sondern reproduziert sich stets aufs neue. »Einerseits verwandelt der Produktionsprozeß fortwährend den stofflichen Reichtum in Kapital, in Verwertungs- und Genußmittel für den Kapitalisten. Andererseits kommt der Arbeiter ständig aus dem Prozeß heraus, wie er in ihn eintrat – persönliche Quelle des Reichtums, aber entblößt von allen Mitteln, diesen Reichtum für sich zu verwirklichen. Da er vor dem Eintritt in den Prozeß seine eigene Arbeit, ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten aneignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während des Prozesses beständig im fremden Produkt. Da der Produktionsprozeß zugleich Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die Produzenten anwenden. Die Arbeit produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eigenen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsbedingungen getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.«15 Die Aneignung des von den Arbeitern gemeinschaftlich hergestellten Produkts durch die ihnen als fremde Macht gegenüberstehenden Produktionsmittelbesitzer bezeichnet den Kern des aus dem bürgerlichen Privateigentum hervorgehenden Rechts. Mit dem privaten Aneignungsrecht des gesellschaftlich produzierten Reichtums steht und fällt das bürgerliche Privatrechtssystem; es gründet im Kapitalverhältnis, dem Gewaltzentrum des bürgerlichen Rechts. Den rechtstechnischen Anformungen des Privatrechts, insbesondere im Schuld-, Sachen-, Handelsund Aktienrecht, und der tagtäglichen Vertragspraxis liegt das private Aneignungsrecht als »Naturbasis« zugrunde.

1 K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, Berlin 1971, S. 8.

2 K. Marx, F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, Berlin 1969, S. 63.

3 Ebenda, Hervorhebung von mir.

4 Vgl. G. Radbruch, Klassenrecht und Rechtsidee, in: Der Mensch im Recht, Göttingen 1961, S. 23 ff.

5 »Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen.« K. Marx, a. a. O. (Anm. 1), S. 9. Zur These des kurzen Vermittlungsschritts zwischen Rechtsformen und ökonomischen Verhältnissen vgl. E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt 19693, S. 53 ff., E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt 1972, S. 392 f.

6 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, Köln/Berlin 1964, S. 513. »Das Maß der Vertragsfreiheit, d. h. der von der Zwangsgewalt ›gültig‹ garantierten Inhalte von Rechtsgeschäften, die relative Bedeutung also der zu solchen rechtsgeschäftlichen Verfügungen ›ermächtigenden‹ Rechtssätze innerhalb der Gesamtheit einer Rechtsordnung ist natürlich Funktion in erster Linie der Marktverbreiterung.« Ebenda, S. 509.

7 K. Marx, Das Kapital I, MEW Bd. 23, Berlin 1967, S. 99. Vgl. auch ausführlicher K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 155.

8 Vgl. K. Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, Stuttgart 19652, S. 87 ff.

9 K. Diehl, Die rechtlichen Grundlagen des Kapitalismus, Jena 1929, S. 7 f.

10 K. Marx, F. Engels, Das kommunistische Manifest, MEW Bd. 4, Berlin 1971, S. 477.

11 M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, Berlin 19583, S. 240.

12 F. Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, Berlin 1932, S. 5 f.

13 K. Marx, Das Kapital, a. a. O. (Anm. 7), S. 741 ff.

14 Vgl. hierzu im Anschluß an Marx K. Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts, a. a. O. (Anm. 7).

15 K. Marx, Das Kapital I, a. a. O. (Anm. 7), S. 595 f.