Laramie-Saga (6): El Rey, der Schrecken New Mexicos

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Laramie-Saga (6): El Rey, der Schrecken New Mexicos
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Jessica G. James

Laramie-Saga

El Rey, der Schrecken

New Mexicos

6. Buch

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Coverfoto © Revolver © mcrad - Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Es war ein heiterer Morgen, der einen angenehmen Tag verhieß. Das Leben war schon lange erwacht auf der Tyler-Ranch, und nach dem üblichen guten Frühstück, das die fürsorgliche Violet Copperfield noch immer – trotz der Haushaltshilfen, die ihr nacheinander zur Seite standen – persönlich für „ihre Familie“ bereitete, waren alle bei der täglichen Arbeit.

Der Wechsel der Haushaltshilfen lag keinesfalls daran, dass mit den Leuten auf der Ranch kein Auskommen war – nein, ganz und gar nicht – aber das allgegenwärtige Schicksal wollte es eben so.

Ja, „ihre Familie“, so bezeichnete die resolute Witwe die Menschen, die hier lebten, und das waren sie auch für sie, seit sie vor vielen Jahren der Zufall – oder wahrscheinlich ebenfalls das Schicksal – hierher brachte. Violets Kochkünste und ihr Geschick zur Haushaltsführung kamen damals mehr als willkommen, und rasch zauberte sie aus dem zu jener Zeit noch kleinen, sehr bescheidenen Ranchhaus ein gemütliches Heim. Dank ihrer Anwesenheit erhielten der Rancher Slim Tyler und sein bester Freund, Partner und erster Vormann Jess Yates das Sorgerecht für den damals gerade sechs Jahre alten Waisenjungen Benny Wilders.

Die Jahre vergingen, und nun war Benny schon beinahe ein junger Mann, der fleißig und geschickt mit anpackte bei all der harten Arbeit. Viel veränderte sich im Laufe der Zeit. Das kleine, geduckte Wohnhaus wandelte sich unter fleißigen Händen zu einem stattlichen, zweistöckigen Gebäude, gut passend zur großen, neuen Scheune und zu dem geräumigen, ebenfalls neu gebauten Bunkhouse.

Bis vor kurzem lebte Kenneth Brown, kurz „Ken“ genannt, ein sympathischer Mann mit semmelblonden Haaren, zu dem die haselnussfarbenen Augen einen reizvollen Kontrast bildeten, darin. Er war äußerst zuverlässig und arbeitete für Slim als zweiter Vormann. Nun aber war Brown ausgezogen, um für sich und seine Verlobte Josy auf einem malerischen, nicht weit von der Ranch entfernten Platz in den Bergen, den Slim ihm überlassen hatte, ein Häuschen zu bauen. Bald würde es ganz fertig sein, und Ken und Josy, die seit einiger Zeit Violet im Haushalt unterstützte, ritten stets nach Feierabend hinüber, um es zu vollenden. Morgens machte Brown sich von dort aus auf, um bei den Cowpunchern, die die groß gewordene Rinderherde und auch die Pferde beaufsichtigten, nach dem Rechten zu sehen, während Josy zur Ranch ritt.

Als die junge Frau an diesem Morgen dort eintraf, waren Tyler und Yates mit einigen Arbeiten auf dem Vorplatz beschäftigt. Sie warteten auf die Morgenpostkutsche aus Laramie, denn die Ranch diente der Stagecoachline seit vielen Jahren als Relaisstation. Slim eilte zu Josy hinüber, nahm die Zügel von Buddy, ihrem zierlichen Braunen, und band ihn an dem dafür vorgesehenen Geländer vor der Veranda fest. Dann half er ihr aus dem Sattel und lächelte sie an.

„Morning, Josy. Na, was macht euer Häuschen? Seid ihr gestern noch gut mit den Arbeiten vorangekommen?“, fragte er.

Josys leuchtend blaue Augen strahlten. „Oh ja, Slim. Danke. Es macht gute Fortschritte, und wir hoffen, dass es bis zum Winter fertig ist.“

Tyler runzelte die Stirn. „Der Winter ist hart in den Bergen. Es wäre klüger, ihn hier in Kens Quartier zu verbringen. Das ist sicher gemütlicher und weniger gefährlich.“

Slim hatte recht – das geräumige Quartier im Bunkhouse war wirklich gemütlich, denn Ken hatte es, nachdem der Rancher ihm die Stelle als zweiter Vormann anbot, zu einem heimeligen Raum umgestaltet, so dass es nun ganz und gar nicht mehr mit den kargen, geradezu spartanisch ausgestatteten üblichen Arbeiterunterkünften zu vergleichen war.

Josy lächelte. „Ja, du hast recht, und wir fühlen uns ja auch beide sehr wohl hier auf der Ranch“, erwiderte sie, „aber wir möchten natürlich gerne in unserem Häuschen leben – auch im Winter.“ Dabei stellte sie sich vor, wie kuschelig es in Kens Armen am knisternden Kaminfeuer wäre, und ihre Augen bekamen einen sanften Schimmer.

Der Rancher deutete ihren Blick richtig, und ein verstehender Ausdruck huschte über sein volles, offenes Gesicht, bevor er schlicht und einfach „Ja“ sagte. Es war keines seiner üblichen, kurzen „Jas“, sondern es klang etwas gedehnter und weicher. Wie alle Menschen, die Tyler kannten, verblüffte es auch die zierliche junge Frau immer wieder, welche Ausdruckskraft ein solch simples Wort haben konnte.

„So“, meinte Josy, „dann werde ich mal hineingehen. Ich denke, Violet wartet schon auf mich.“ Damit eilte sie die beiden Stufen zur Veranda hinauf.

Slim führte Buddy hinüber zum Corral, um ihn abzusatteln und dann zu den anderen Pferden zu gesellen. Sein Blick glitt über die gesunden, kraftvollen Tiere, und er dachte kurz daran, wie klug der Entschluss gewesen war, sie planmäßig zu züchten, anstatt Wildpferde zu fangen und zuzureiten. Die Idee dazu kam ihm eines Abends nach getaner Arbeit, als er behaglich mit Yates zusammensaß. Die Freunde genossen das Gefühl, welches Violets gutes Essen und die anschließende Ruhe in ihnen hervorrief, und sie schwiegen miteinander. Dieses Schweigen resultierte nicht daraus, dass sie kein Gesprächsthema hatten, nein, es war dieses vertraute Miteinander, dieses „Sich-Wohlfühlen“, in dem Worte nur störten. Slim durchbrach die Ruhe mit einem bedächtigen: „Well, Jess …“, und dann erzählte er dem Freund von seinen Plänen. Yates’ stahlblaue Augen blitzten auf, und mit dem ihm eigenen Temperament und beinahe aufbrausend kam die Antwort: „Wie, du meinst, wir fangen dann überhaupt keine Mustangs mehr?“

Jess schossen die spannenden Szenen durch den Kopf, die er beim „mustanging“ erlebt hatte. Er dachte an die Herausforderung, diese wilden Geschöpfe einzufangen, an die aufregenden Rennen, dachte an das Gefühl, wenn sein Rappe, Flash, den Wildling einholte, wenn gezielt das Lasso flog und die Schlaufe sich um den Pferdehals legte. Nein, gerade er, einer der geschicktesten Fänger und besten Zureiter, konnte und wollte es sich nicht vorstellen, darauf zu verzichten. Schon bevor Yates zur Tyler-Ranch kam, in seiner wilden Zeit, die ihn von Texas herauf in den Norden trieb, in der er sein Geld auf alle mögliche Art und Weise verdiente, war das Einfangen wilder Pferde seine Lieblingsbeschäftigung.

Diese Reaktion war genauso, wie der Rancher sie erwartete. Schmunzelnd erwiderte er „Mach dir keine Sorgen. Es dauert eine Weile, bis die ersten Fohlen zur Welt kommen, und es dauert noch länger, bis sie erwachsen werden und wir sie ausbilden können. Aber ich denke, dass Tiere, die wir selber züchten und die von klein auf an uns gewöhnt sind, noch brauchbarer und zuverlässiger werden als gefangene, auch, wenn wir sie ja in der letzten Zeit wirklich zähmen und nicht mehr „brechen“, so wie früher.“

Er dachte daran zurück, wie Benny damit begann, langsam, ganz allmählich, das Zutrauen der Wildlinge zu gewinnen, bis sie sich ihm anschlossen und ihm schließlich vertrauten. Er dachte daran, wie sehr der Junge Yates und ihm bittere Vorwürfe machte, wenn sie wieder einmal erzwangen, dass ein Pferd einen Reiter duldete. Schließlich, nur Benny zuliebe, wandte zunächst Tyler dieses Zähmen an, und er erzielte verblüffende Erfolge damit. Tatsächlich erwiesen sich die so behandelten Tiere als zuverlässiger, und sie entwickelten ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Reiter. Jess lachte den Freund zunächst aus, aber die Resultate überzeugten ihn rasch, so dass er selbst bald ein eifriger Verfechter dieser Methode wurde.

Das Getöse der heranbrausenden Postkutsche riss den großen blonden Mann aus seinen Gedanken. Es dauerte nicht lange, dann donnerte das Gefährt vor den Corral, um dort, gehüllt in eine gewaltige Staubwolke, anzuhalten. Das vor Schreck gackernde Hühnervolk war eilig davon gestoben, um sein Leben zu retten, und beruhigte sich nun langsam wieder. Leon, Slims junge spanische Dogge, die dösend auf der Veranda in der Morgensonne lag, hob den mächtigen Kopf, interessiert daran, was die Kutsche wohl bringen möge. In der ersten Zeit, als er noch Welpe war, setzte der Rancher Leon in eine kleine Umzäunung, um den Hund vor den donnernden Hufen und den malmenden Rädern zu schützen. Die spanische Dogge lernte rasch, und bald verzichtete Slim auf diese Maßnahme, so dass Leon neugierig, wie junge Hunde eben sind, die Passagiere begrüßte. Als er größer wurde, stellte er dieses Verhalten von selber ein. Tylers Überlegungen, wie er es ihm am besten abgewöhnen könne, damit die Fahrgäste nicht erschraken, erübrigten sich damit, denn es ist schon ein Unterschied, ob einem ein niedlicher, tapsiger Welpe entgegenwuselt oder ein selbstbewusster, ziemlich großer, ziemlich stabiler Hunderüpel da steht.

Dieses Mal wurde Leons Interesse enttäuscht – es waren keine Passagiere an Bord. Noah, der Fahrer, stieg vom Bock und sagte mit seiner unverwechselbaren, knarrendkrächzenden Stimme „Hier Slim, ich habe einen Brief für dich mitgebracht. Du bekommst ihn aber nur, wenn ich Frühstück bekomme.“

Tyler lachte. Auch nach all den Jahren erheiterte ihn die Art des ältesten Fahrers der Stagecoachline noch, und er sagte freundlich „Right, Noah. Geh ins Haus, es ist sicher etwas für dich da. Und – nimm den Brief mit hinein, ich helfe eben, das Team zu wechseln.“

 

Er hatte es gerade ausgesprochen, als er eine zweite Staubwolke an diesem Morgen sah. Sie wirbelte von den Bergen herab und war bei weitem nicht so gewaltig wie die der Postkutsche, aber sie beunruhigte Slim. Wer näherte sich in diesem ungewöhnlichen Tempo der Ranch? Yates bemerkte die Reaktion seines Freundes und folgte dessen Blick. Sein erstauntes: „Nanu, da hat es aber jemand eilig“, gab genau Tylers Gedanken wieder.

Es dauerte nicht lange, bis ein Reiter vor das Haus sprengte. Es war Kenneth Brown.

Tyler und Yates eilten zu ihm und erreichten ihn in dem Augenblick, in dem er aus dem Sattel sprang.

„Was ist passiert?“, fragte der Rancher, dem natürlich völlig klar war, dass sein zweiter Vormann nicht ohne triftigen Grund in diesem Tempo angehetzt kam.

„Die Rinder – wir hatten heute Nacht eine Stampede“, stieß Ken atemlos hervor. Erschreckt blickten Tyler und Yates ihn an, und noch ehe einer der beiden etwas fragen konnte, fuhr Brown fort: „Ich habe es entdeckt, als ich heute Morgen nach dem Rechten schauen wollte. Alle Rinder sind in ihrer Panik auf und davon. Sie haben die Zäune niedergerissen, und sie haben …“, der Gedanke an das grausige Bild, welches sich ihm bot, ließ selbst diesen hartgesottenen Mann kurz verstummen, doch dann fuhr er schaudernd fort: „Sie haben drei von unseren Leuten samt ihrer Pferde totgetrampelt. Von dem vierten, der bei der Herde wachen sollte, habe ich nichts gefunden.“

Der Rancher blies heftig den Atem aus; die Flügel seiner scharf geschnittenen Nase blähten sich, und eine Art Trauerflor verdunkelte für einen Moment das helle Blau seiner Augen.

Yates schluckte hörbar, und er stieß ein kurzes, hartes „damned“ hervor, dann fragte er: „Hast du eine Ahnung, was die Stampede ausgelöst hat?“

„No“, erwiderte Ken knapp. „Nachdem ich gesehen habe, was passiert ist, bin ich so schnell wie möglich hierhergekommen, damit wir die Rinder zurückholen können. Ich habe mich nicht weiter umgeschaut.“

„Ja, natürlich“, erwiderte der Rancher, „geh ins Haus und lass dir Kaffee geben. Wir satteln unsere Pferde, dann können wir reiten.“ Mit diesen Worten ging er zum zweiten Mal an diesem Morgen zum Corral hinüber, wo er seinen Rappen Thunder rief. Der muskulöse, schwere Hengst spitzte die Ohren und kam sofort. Sein Reiter legte ihm ein Seil um den Hals und führte ihn aus der Umzäunung heraus hin zur Scheune, um ihn zu satteln. Yates tat das Gleiche mit Flash, und bald waren die Männer soweit, dass sie losreiten konnten.

Als Ken ins Haus trat, vollführte Josys Herz einen freudigen Hüpfer, doch sie sagte sich sofort, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Was tat Ken um diese Zeit hier? Ein Blick in sein blasses, angespanntes Gesicht bestätigte ihre schlimme Ahnung. Erschöpft ließ der Mann sich neben Noah an dem großen Esstisch nieder und stützte den Kopf in die Hand. Josy kniete sich neben ihn, um ihm in die Augen schauen zu können, und sie fragte mitfühlend „Was ist passiert?“

Nun kam Violet aus der Küche, und auch ihre Freude, Ken zu sehen, schwand sofort, als sie seinen Zustand registrierte. Eilig stellte sie das Tablett mit dem Frühstück für Noah auf den Tisch und legte Brown mit einer mütterlichen Geste den Arm um die Schulter.

Ken schluckte, dann berichtete er mit möglichst schonenden Worten von dem Geschehen. Den Tod der Männer erwähnte er zunächst lieber nicht, aber da fragte auch schon Noah in seiner direkten Art: „Und was ist mit euren Leuten? Alles gut gegangen?“

Sofort stand wieder das grauenhafte Bild vor Browns geistigem Auge Er starrte vor sich hin, und seine Stimme zitterte leicht, als er sagte: „No.“ Mehr sagte er nicht, und mehr war auch nicht nötig, um die Frage des Fahrers zu beantworten. Noah hatte in seinem langen Leben Erfahrung genug mit solchen Dingen gesammelt.

In diesem Moment war aus dem oberen Stock, in dem sich die Schlafzimmer befanden, ein Geräusch zu hören. Diana und Susan, die hübschen Zwillinge, die gleich, nachdem ihr Vater Charles Carpenter die Miles-Ranch ersteigert hatte, den Männern von der Tyler-Ranch die Köpfe verdrehten, kamen die Treppe hinab. Eine der beiden, die temperamentvolle Susan, ließ sogar Jess Yates den Schwur, er wolle niemals im Leben heiraten und seinen Spruch: „Er hätte vor nichts Angst außer davor, sein Pferd zu verlieren oder heiraten zu müssen“, vergessen. Nach einer dramatischen Begebenheit heiratete er sie in aller Stille auf dem Weg von Arcola zurück nach Hause. Diese Tatsache war allerdings nur sehr, sehr wenigen Menschen bekannt, und die meisten glaubten, Susan und er lebten in wilder Ehe. Doch darüber zerrissen sich die „ehrbaren Bürger“ in Laramie schon lange nicht mehr das Maul.

Das fröhlich-freundliche „Guten Morgen“ der Zwillinge verstummte sofort, als sie in die betretenen Mienen der Anwesenden blickten und die beklemmende Atmosphäre spürten. Violet übernahm es, den beiden zu sagen, was passiert war. Ein ungläubiges, erschüttertes Kopfschütteln war die Reaktion. Diana hob die Hand vor den Mund und flüsterte: „Oh no.“

Da öffnete sich die Eingangstür, und Slim kam herein. Eigentlich wollte er Ken nur ein „Wir können reiten“ zuwerfen, doch als er seine Frau sah, trat er zu ihr, schloss sie liebevoll in die Arme und zog sie an seine Brust.

„Du hast schon gehört?“, fragte er leise, und sie nickte stumm. Ohne ein weiteres Wort küsste er sie flüchtig auf den Mund und schickte sich an, hinauszugehen. Ken stand auf und verabschiedete sich auf die gleiche Weise von Josy. Der Rancher hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, als Susan an ihm vorbei hinausstürmte und zu Jess eilte.

Mit einem traurigen „Oh, Liebling“ flog sie in seine Arme, und er küsste sie mit einer Leidenschaft, die nicht nur sein ganzes Gefühl für sie zeigte, sondern die auch Ausdruck seiner Verzweiflung über das schreckliche Unglück war.

„Kommt heil und gesund wieder“, flüsterte Susan, als es ihr gelang, sich von ihm zu lösen. Jess dehnte „Yeah“, dann stieg er in den Sattel.

Mit ziemlichem Tempo, aber ohne ihre Pferde allzu sehr zu strapazieren, ritten die Männer zu den Weiden. Ein anstrengender Tag lag vor ihnen und ihren Tieren.

Als sie ihr Ziel erreichten, beschloss der Rancher, zunächst die Toten – oder genauer gesagt, das, was von ihnen übrig war – zu begraben. Die Rinder waren so oder so weit über die Plains verstreut, dass es ein Knochenjob würde, sie zu finden und zurückzutreiben, da kam es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an. Die drei getöteten Cowpuncher lagen relativ dicht beisammen; vermutlich schliefen sie beim Feuer, als die Stampede losbrach. Hochgeschreckt versuchten sie wohl, ihre Pferde zu erreichen, um zu retten, was zu retten war. Offensichtlich vergeblich. Die Pferde waren genauso von der rasenden Herde niedergetrampelt worden wie ihre Reiter. Einzig und allein der Küchenwagen, ein Planwagen, der neben den Kochutensilien und -vorräten auch Werkzeuge und Reparaturmaterial enthielt und den Männern in besonders rauen Nächten Unterschlupf bot, hatte, abseits geschützt bei einigen Felsen stehend, das Inferno der donnernden Hufe überstanden.

Tyler, Yates und Brown suchten die Gegend nach dem vierten Arbeiter ab, doch sie fanden nichts. Es gab keine Spur von ihm und auch nicht von seinem Pferd. Slim runzelte die Stirn. Wenn ihm nichts geschehen war, warum war er nicht zur Ranch gekommen, um von der Stampede zu berichten? Es war recht unwahrscheinlich, dass er sich alleine aufgemacht hatte, um die Rinder zu verfolgen. Ein Mann allein konnte nicht viel ausrichten bei der Vielzahl der durchgegangenen Tiere, und das wusste jeder, der diesen Job ausübte …

Jess schaute seinem Freund ins Gesicht. Ohne fragen zu müssen, verstand er Tylers Gedanken und sprach sie aus: „Merkwürdig, dass der Vierte fehlt.“

Yates’ dunkle Stimme klang rau, leise und eindringlich. Slims Antwort war ein schlichtes „Ja“, kurz und knapp hervorgestoßen wie immer. Brown blickte seinem Boss fragend in die Augen.

„Was meint ihr?“, und dann, ohne eine Erwiderung abzuwarten, verstand auch er. Ken sog scharf den Atem ein. Für einen Moment machte sich betretenes Schweigen breit; der furchtbare Verdacht, der in ihnen keimte, ließ die ohnehin wortkargen Männer verstummen. Der Rancher durchbrach die Stille: „Kommt, lasst uns die Leute begraben.“

Später standen sie noch einen Moment still, in sich gekehrt, bei den im steinigen Boden nur flach ausgehobenen Gräbern. Obwohl die Arbeiter fürchterlich zugerichtet waren, konnten sie identifiziert werden. Es war Pete Canga, der fehlte – ein Halbmexikaner, den Tyler auf Yates’ Drängen hin eingestellt hatte.

Der Rancher gab das Zeichen zum Aufbruch – die Arbeit wartete und würde ihre düsteren Gedanken vertreiben.

Die Männer folgten in raschem Tempo den nicht zu übersehenden Spuren der Herde. Sie hatte die Vegetation in einer breiten Schneise niedergetrampelt, und der eine oder andere Kadaver von Tieren, die selber Opfer der panischen Flucht wurden, zeugte ebenfalls von der Richtigkeit des Weges. Bald sichteten Tyler, Yates und Brown die ersten Rinder, die sich beruhigt hatten und beinahe so, als wäre nichts geschehen, grasten. Die Männer ritten nun einzeln weiter, rechts und links an dem Vieh vorbei, um es dann zusammen- und zurückzutreiben. Sie waren sich völlig darüber im Klaren, dass sie auf diese Weise zunächst nur einen Teil der Tiere erwischen würden; die Herde war weit verstreut, und es würde sicher drei Tage dauern, bis wenigstens die meisten wieder auf Tyler-Land wären. Und sicher würden sie auch etliche verlieren – ein Gedanke, der den Männern ganz und gar nicht behagte. Wie gut hätten sie nun die Hilfe der verunglückten Cowpuncher brauchen können …

Slim presste die vollen Lippen aufeinander, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren, dann gab er mit mehreren lauten Rufen das Zeichen zum Zusammentreiben. Nun zeigte es sich, dass die Rinder zwar schon wieder grasten, aber wirklich beruhigt hatten sie sich nicht. Sie ließen sich nicht so ohne weiteres in die gewünschte Richtung dirigieren. Immer wieder brachen einige von ihnen, gefolgt von etlichen anderen, in ziemlichem Tempo aus, und selbst die routinierten Männer und ihre hervorragend ausgebildeten Pferde konnten es nicht verhindern. Slim schaute dem Vieh nach. Nein, es war kein leichter Job und schon gar keiner, der schnell zu erledigen war. Plötzlich, es waren nur Bruchteile von Sekunden, schoss ihm der Gedanke an Diana durch den Kopf und dass es wohl noch ein paar Tage dauern würde, bis er sie wieder in den Armen hielte.

Und für noch einen kürzeren Augenblick überkam ihn die Angst, dass sie ihn irgendwann nicht mehr liebte, weil er eben so wenig Zeit für sie hatte. Andererseits: Sie wusste – er war Rancher, und sie wusste inzwischen auch, was das bedeutete. Natürlich war es für eine mit allem erdenklichen Komfort auf einer feudalen Baumwollplantage aufgewachsene Frau nicht wirklich einfach, das zu verstehen, aber Diana hatte verstanden. Manches Mal aber konnte Tyler noch immer nicht glauben, dass sie, ausgerechnet sie, sich entschlossen hatte, ihn zu heiraten. Unterschiedlicher konnte ein Paar kaum sein – außer natürlich Susan und Jess – sie, die reiche, verwöhnte Lady aus dem Süden, und er, ein harter, bodenständiger Rancher aus Wyoming.

Tyler nahm für einen Moment den hellbraunen Stetson ab und wischte sich mit dem Armrücken den Schweiß von der Stirn, als ihn das Stampfen von Hufen, das unmutige Brüllen von Rindern und lautes Rufen und Pfeifen zweier Männer, die sie gekonnt trieben, aus seinen Gedanken zurückholte. Einer der beiden näherte sich Slim.

„Sind das eure?“, fragte er, und ein offenes, etwas spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er weitersprach, „Sieht aus, als hätten sie einen Ausflug gemacht!“

„Ja, haben sie“, erwiderte der Rancher ernst, „und dabei haben sie drei Männer und drei Pferde getötet.“

Die Reaktion seines Gegenübers war ein betretenes „Oh“, doch dann fuhr er fort: „Scheint, dass mein Freund und ich gerade recht kommen? Wir waren eigentlich auf dem Weg nach Laramie, um Arbeit als Cowpuncher oder Ranchhelfer zu suchen, als uns diese hier …“, er deutete auf die Rinder, „über den Weg gelaufen sind. Wir haben sie zusammengetrieben und wollten sie bis in die Corrals von Laramie bringen, um dort zu fragen, wem der Brand ‚T-R‘ gehört.“

Tylers Gesicht hellte sich zu einem leisen Lächeln auf: Er musterte die beiden Fremden, und was er sah, gefiel ihm. Sie waren kräftig gebaut, hatten einen offenen, ehrlichen Blick, ihre Ausrüstung war in genauso guter Verfassung wie ihre Pferde, und dass sie mit Vieh umzugehen verstanden, bewiesen sie gerade. Kurzum – sie schienen wirklich brauchbar.

 

„Nun, ihr habt den Besitzer gerade gefunden, und, wenn ihr wollt, auch Arbeit. Ich bin Slim Tyler, Besitzer der Tyler-Ranch, und ‚T-R‘ ist mein Brand. Das da drüben“, er wies mit einer knappen Kopfbewegung zu Jess, der in seiner Nähe ritt, hinüber, „ist mein erster Vormann und Partner Jess Yates, und der Reiter dort ist mein zweiter Vormann Kenneth Brown. Ich zahle euch 30 Dollar im Monat, und die Verpflegung bei uns ist gut.“

„Ich bin Luke Nicolsen, und das ist Ernest Brad, Mr. Tyler.“

Nicolsen wandte sich an seinen Freund: „Was hältst du von dem Angebot, Ernie?“

Der grinste zufrieden über das ganze, hagere Gesicht, und seine dunklen Augen blitzten vergnügt: „Na, wir sind doch schon mitten in der Arbeit.“

Er reichte Tyler vom Sattel aus die Hand, um einzuwilligen, und Luke Nicolsen tat es ihm gleich.

„Na, dann mal los“, meinte der Rancher, „lasst uns sehen, dass wir die Ausreißer, die wir schon haben, zurücktreiben. Morgen holen wir so viele wie möglich vom Rest!“

Die Männer machten sich an die Arbeit, und die beiden Neuen bewiesen, dass sie ihren Job wirklich verstanden. Schneller als erhofft erreichte die Herde wieder Tyler-Land, und der Rancher beschloss, den Rest des Tageslichtes dazu zu nutzen, mit der Reparatur der Zäune zu beginnen. Auch hier bewiesen Nicolsen und Brad großes Geschick, und als der letztere dann noch aus den Vorräten, die sich in dem Küchenwagen befanden, ein durchaus schmackhaftes Abendessen bereitete, war Tyler mit seiner Entscheidung, die beiden einzustellen, sehr zufrieden.

Nach dem Essen wurde noch ein wenig erzählt, aber bald forderte die harte Arbeit ihren Tribut, und die Männer begaben sich zur Ruhe. Früh genug käme der Morgen, ein Morgen, der einen Tag mit genauso harter Arbeit brächte wie der vergangene.

Spät in der Nacht bemerkte Yates, dass sein Freund, der nahe bei ihm am Feuer lag, nicht schlief. Unruhig warf sich der Rancher hin und her. Jess wusste den Grund, aber trotzdem fragte er ihn „Du kannst nicht schlafen?“

Als Antwort erwartete Yates ein mürrisches Knurren, doch er irrte. Ungewöhnlich sacht, ja beinahe sanft kam die Antwort.

„Oh Jess – mir geht so viel durch den Kopf – ich finde einfach keine Ruhe. Da ist zum ersten der Gedanke an den Verlust etlicher Rinder, und zum zweiten ist da der Gedanke an Canga. Wo, zum Teufel, mag der Kerl abgeblieben sein?“

Jess erwiderte: „Das würde ich auch gerne wissen.“

Er hörte Slims Atem, und er kannte ihn gut genug um zu wissen, dass es da noch etwas anderes gab, was seinem Freund die Ruhe raubte. Tatsächlich folgte eine längere Pause, dann begann Tyler etwas stockend: „Und Jess – was mich nicht schlafen lässt, ist der Gedanke an Diana. Meinst du, es war richtig, sie zu heiraten? Meinst du, ich kann sie halten? Was biete ich ihr denn? – Besonders in Nächten wie dieser hier. Und es kommt ja oft genug vor, dass ich nicht zu Hause schlafe.“

Yates wiegte bedächtig den Kopf. „Komm Slim, mach dir nicht so viele schwarze Gedanken. Natürlich bist du nicht immer zu Hause, aber Diana weiß doch genau, wie das Leben hier im Westen aussieht. Und trotzdem hat sie dich geheiratet. Mann – sie liebt dich! Und du lässt ihr doch auch alle Freiheiten – du verlangst nicht, dass sie ständig auf deiner Ranch wohnt. Du verzichtest doch auch in vielen Nächten auf sie, wenn sie mal wieder den Luxus der Carpenter-Ranch möchte – das feine Leben dort, die komfortablen Badezimmer, die umfangreiche Bibliothek … Das würde nicht jeder Mann mitmachen. Ich denke, ihr beiden kommt damit genauso gut zurecht wie Susan und ich. Bei uns ist der Unterschied ja noch größer: Sie, die superfeine Lady und ich – ein Vormann und ehemaliger Drifter …“

Tyler sog tief die Luft ein, dann sagte er: „Ja Jess. Wahrscheinlich hast du recht. Aber manches Mal kommen mir solche Gedanken. Ich kann mich nicht dagegen wehren.“

„Mir geht es oft genug genauso. Weißt du was? Wir sollten nicht so viel nachdenken, wir sollten lieber jeden Moment genießen, dass wir solche Frauen haben! Komm, Pard, und jetzt versuch ein bisschen zu schlafen. Wir sind bei Tagesanbruch schon wieder im Sattel.“

Ein Lächeln huschte über Tylers Gesicht und verstärkte sich zu einem Feixen: „Dann shut up und schlaf endlich. Night.“

„G’night, Slim.“

Gleich sehr früh am nächsten Morgen machten sich die Männer nach einem kräftigen Frühstück erneut auf die Suche nach dem Rest der verstreuten Herde. Sie fanden etliche Rinder, doch eine große Anzahl fehlte noch. Mit einem Mal ertönte wieder – genau wie am gestrigen Tage – das Stampfen und das unwillige Brüllen zahlreicher Rinder, das laute „Yippieh“ vieler Stimmen, das gellende Pfeifen von Cowpunchern. Der Rancher sah eine gewaltige Herde auf sich zukommen – seine Herde, getrieben von mehreren Männern. Tyler staunte nicht schlecht, als er sie erkannte – es war Jack Brian, der Vormann der Carpenter-Ranch, mit einigen seiner Leute. Ein Lächeln zog über Slims volles Gesicht. Mochte der Teufel wissen, was hier gerade passierte – es war egal. Es war das Beste, was passieren konnte. Wortlos wandte der Rancher sein Pferd und übernahm routiniert seinen Part als Point-Rider an der Spitze der Herde, um sie zurückzubringen.

Bald erreichten die Rinder Tyler-Land, und schnell wurden die Zäune geschlossen. Es dauerte nicht lange, dann kamen die Tiere zur Ruhe und begannen zu weiden. Slim wusste nicht, wie viele ihm fehlten, aber er wusste: Die meisten waren wieder da, er musste keinen schlimmen Verlust hinnehmen. Er drückte Thunder leicht die Sporen in die Flanken und ritt zu Jack Brian herüber.

„Hey Jack, ich sehe dich ja immer gern“, sprach der den Vormann der Carpenter-Ranch an und grinste leicht, „aber heute ganz besonders. Wo kommst du denn mit deinen Leuten her?“

„Nun“, erwiderte der Gefragte, und auch sein freundliches, offenes Gesicht wurde von einem leichten Grinsen überzogen, „Du hast wohl vergessen, mit wem du verheiratet bist. Diana und Susan kamen gestern gegen Abend zu uns und fragten, ob wir helfen könnten – und natürlich konnten wir. Warum bist DU nicht gekommen? Jon meint, du wärest wahrscheinlich zu stolz … – Mann, Slim, wir sind Nachbarn, und außerdem ist er dein Schwager!“

„Ja“, kam Tylers ein wenig verlegen klingende Antwort, und dann setzte er ein leises „Danke“ hinzu.

Brians leichtes Grinsen war nun ein Feixen, doch rasch wurde sein Blick wieder ernst. „Die Frauen haben erzählt, es hat Tote gegeben?“

„Ja“, erwiderte Slim, „drei. Von dem vierten Mann fehlt bis jetzt jede Spur.“

„Ich denke, meine Leute haben ihn gefunden. Auf dem Weg hierher sahen wir oben bei den Canons Geier und wollten wissen, wie viele Stück Vieh ungefähr abgestürzt sind. Dabei haben wir tief unten einen Menschen entdeckt. Es ist dort so schroff und so steil, dass wir ihn nicht bergen können.“

Yates war bei Brians letzten Worten hinzugekommen und hatte sie mit angehört.

Er ließ ein leises, erleichtert klingendes „Oh“ hören. Und er war auch wirklich erleichtert, denn seit Cangas Verschwinden ließen Jess die Gedanken nicht los. Er selber war es gewesen, der Tyler drängte, den Mann einzustellen – seinen alten Freund Pete Canga, mit dem er in seiner wilden Zeit als Drifter und Satteltramp mehrere Monate viele Meilen Seite an Seite geritten war, mit dem er eine Zeit lang für die Army arbeitete und mit dem er viele Whiskeys und Tequilas gekippt hatte. Irgendwann zog Yates nach Norden, während Canga lieber in New Mexico bleiben wollte.