Die zweite Reise

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Die zweite Reise
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Jannis B. Ihrig

FÜNF UNGLEICHE REITER

DIE ZWEITE REISE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelgrafik von Sami Seyfert

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

ISBN 9783957446695

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. Kapitel – Was wollt ihr eigentlich?

2. Kapitel – Die nächste Evolutionsstufe

3. Kapitel – Erwins Verschwinden

4. Kapitel – Was ist von mir geblieben?

5. Kapitel – Kalus, Meisterschwertkämpfer der Dämonen

6. Kapitel – Ein schicksalhafter Plan wird beschlossen

7. Kapitel – Eine Begegnung der flammenden Art

8. Kapitel – Lebensader

9. Kapitel – Innere Zerrissenheit und ein Abschied

10. Kapitel – Ein unruhiger Abend

11. Kapitel – Vorbote des Streites

12. Kapitel – Gestrandet im Reich der Orks

13. Kapitel – Auf dem Abstellgleis

14. Kapitel – Die Lichtgestalt

15. Kapitel – Das Geflecht und die Gier

16. Kapitel – Unter Orks

17. Kapitel – Die Seelenebene

18. Kapitel – Der entfesselte Tiger

19. Kapitel – Eine unheimlich vertraute Heimsuchung

20. Kapitel – Wie in einer anderen Welt

21. Kapitel – Die Spuren einer längst vergessenen Zivilisation

22. Kapitel – Die Heimkehrerin und der Rote Nachtmahr

23. Kapitel – Der silberne Käfer und der Jadekoloss

24. Kapitel – Ein Vorbild für alle

25. Kapitel – Illusionärer Wein und Braten

26. Kapitel – Die Quelle der Magie

27. Kapitel – Entsetzliche Stille im Geflecht

28. Kapitel – Herumirren

29. Kapitel – Stockender Fortschritt

30. Kapitel – Ein Generationsereignis

31. Kapitel – Die letzte Stadt der Goblins

Epilog

Personenliste

Prolog

Ungewöhnlich sanft säuselte der Wind über dem Wüstenboden und wirbelte hier und da etwas Sand auf, der langsam, aber bestimmt wieder zu Boden sank. Leicht verwundert über die Beinahewindstille sah ein alter Skorpion aus seiner kleinen Höhle heraus. Er war ein gewöhnlicher Skorpion von zehn Zentimetern Länge. Groß genug, um furchtsamen Menschen Angst einzujagen, obwohl seine Art nicht giftig war, aber immer noch kleiner als die Spitze des Stachels eines Goliathskorpions, welcher gewöhnlich in den weit von der locondianischen Sahara entfernten Sümpfen lebte.

Ein erfahrener Biologe hätte den alten Skorpion sofort als Scorpio planto identifiziert, eines der faszinierendsten Wesen der Wüste. Dieser Skorpion war selbst für Locondia ein außergewöhnliches Lebewesen, nämlich ein Tier-Pflanze-Hybrid. Auf der harten Schale befanden sich grünliche Zellgewebe, die Fotosynthese betrieben und den Skorpion so mit Lebensenergie versorgten. Deswegen musste ein Scorpio planto, auch einfach Grüner Skorpion genannt, nur drei Dinge in seinem Leben tun: sonnenbaden, Wasser trinken und sich ab und zu in fruchtbarer Erde suhlen, sollte er sich zufälligerweise auf eine der Plantagen der Menschen verirren. Der betagte Skorpion war auch durch sein Alter etwas Besonderes. Kleine Skorpione wurden gewöhnlich nur acht Jahre alt, doch dieser war bereits zwanzig Jahre alt. Dies verdankte er nicht nur einer günstigen DNA-Kombination, sondern auch einem angeborenen sechsten Sinn, der ihn all die Jahre immer vor Fressfeinden geschützt hatte.

Und jetzt, in diesem friedlichen Moment, schlug er aus. Der Skorpion überlegte nicht lange und verschwand in seiner Höhle. Dies war unnötig, da das gefährliche Objekt gut einen Meter entfernt einschlug. Jedoch wurde dabei viel Sand aufgewirbelt, weshalb dem Skorpion dank seiner Flucht Sandkörner im Auge erspart blieben. Jetzt schaute er verwundert aus seinem Bau auf das, was vor seiner Höhle eingeschlagen war, ähnlich einem Menschen, in dessen Garten gerade ein außerirdisches Raumschiff niedergegangen war. Das Objekt bestand aus irgendeinem Metall und war stark beschädigt. Der Skorpion sah neugierig nach oben, doch er konnte nur mehrere weiße und schwarze Striche am Himmel erkennen.

„Hier Aufklärer 4, der Feind nähert sich. Sie durchlöchern den Himmel mit Flugabwehrraketen. Sie haben Aufklärer 3 und 5 erwischt und ich hätte es auch fast nicht geschafft. Bitte um Erlaubnis, zur Basis zurückzukehren.“

„Hier Kommandozentrale, Landeerlaubnis erteilt. Kehren Sie zur Basis zurück. Jetzt übernehmen die großen Jungs die Arbeit.“

Der Pilot des Aufklärungs-Senkrechtstarters atmete erleichtert auf. Ihm war vorher bewusst gewesen, dass es sehr gefährlich werden würde, wenn man als Aufklärer die Feindarmee suchen musste. Vor allem, wenn sich das Radar aufgrund von Störsignalen als nicht verwendbar erwies. Doch die Größe des Feindes war gigantischer als gedacht. Dem Anschein nach könnte sich das schlimmste Gerücht bewahrheiten. Die Putschisten hatten tatsächlich drei Viertel der eine halbe Million starken Armee auf ihre Seite gezogen, entweder durch Überzeugung oder durch die Gehirnwäsche der Dämonen. Auf jeden Fall hatte ein Begrüßungskomitee, bestehend aus Luftabwehrraketen, die drei Aufklärer erwartet und nur einer schwer beschädigt mit seinem Senkrechtstarter entkommen können.

Obwohl die noch sichere Stadt mitsamt der Luftbasis näher kam, war der Soldat immer noch nervös, denn der Senkrechtstarter gab Geräusche von sich, die man als Pilot nicht hören wollte, und war schwer beschädigt, da er von zwei Raketen getroffen worden war. Und nun ertönte ein Geräusch, das der Pilot ebenfalls nicht hören wollte. „Scheiße!“

Dies umschrieb seine neue Situation vortrefflich. Denn laut seinem Kurzstreckenrader verfolgten ihn plötzlich drei unbekannte Flugobjekte, die der Bordcomputer mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer Größe und Geschwindigkeit als feindliche Senkrechtstarter identifizierte. Noch waren sie zu weit weg, um ihre Waffen einzusetzen, doch sie würden nur ein paar Minuten brauchen, um in Feuerreichweite zu kommen.

Dem Piloten blieb nichts anderes übrig, als zu beschleunigen, um die Entfernung zur sicheren Basis zu überbrücken. Es war riskant, da der Senkrechtstarter auseinanderzufallen drohte und nun noch mehr belastet wurde – so, als würde man einen schwer verletzten Menschen dazu zwingen, einen übermenschlichen Sprint hinzulegen. Doch die Verzweiflungstat zeigte Wirkung. Wenige Sekunden später konnte der Pilot bereits die Stadt New Paris sehen. Und mit ihr den Luftwaffenstützpunkt samt rettenden Luftabwehrstellungen. Schon jetzt drehten sich die automatischen Luftabwehrraketenwerfer und jagten zielsicher Raketen an dem Aufklärer vorbei in Richtung des Feindes.

 

Währenddessen versuchte der Pilot, seinen Flieger zu senken, doch die Maschine reagierte nicht. Dem Piloten stockte der Atem, als er erkannte, wo das Problem lag. Das Steuerungssystem für die Düsen, die für Höhenänderungen zuständig waren, musste ausgefallen sein. Tatsächlich lag das System, ohne dass es der Pilot wusste, im Vorgarten eines Skorpions, der sich immer noch wunderte. Ohne Kontrolle über diese Düsen konnte der Pilot nicht sicher landen.

„Scheiße, ich habe das Steuerungssystem für Höhenänderungen verloren! Ich muss einen Notabsturz einleiten!“, funkte er gehetzt. Er wartete nicht auf die Antwort und drückte den Knopf für einen kontrollierten Notabsturz.

Jetzt übernahm der Computer die Kontrolle über den Senkrechtstarter und arbeitete seine Checkliste ab: „Schleudersitz vorbereiten.“ Der Sitz schob sich mehrere Zentimeter von den Armaturen weg, dann umhüllten Platten den Körper, sodass sich ein gepanzerter Anzug um den Piloten bildete. Zusätzlich wurden Sauerstoffflaschen mit angeschlossener Atemmaske am Sitz befestigt. Dies sollte das Atmen in dünnen Atmosphären ermöglichen, war aber diesmal natürlich überflüssig.

„Check! Pilot in Sicherheit bringen.“ Die Düsen des Sitzes aktivierten sich, während gleichzeitig das Cockpitdach abgesprengt wurde, was den Piloten herausschleuderte.

„Check! Sicherer Absturz.“ Der Computer steuerte den Senkrechtstarter von der Stadt weg. Weit genug von der Stadt entfernt, schaltete der Computer den Antrieb aus und der Senkrechtstarter stürzte zum Wüstenboden herab und explodierte. Wie durch ein Wunder blieb der Computer noch halbwegs intakt, sodass er ein letztes „Check!“ ausspuken konnte, bevor er sich für immer abschaltete.

New Paris war bei Weitem keine Kulturstadt mit historischen Gebäuden wie das originale Paris. Genau genommen gab es fast keine Kultur, abgesehen von ein paar Museen mit Kunstgegenständen von der Erde und mit historischen Exponaten aus den Anfangszeiten der Kolonie. Den Namen hatte New Paris allein deshalb bekommen, weil in diesen Museen hauptsächlich Ausstellungsstücke aus dem alten Frankreich präsentiert wurden, unter anderem die „Mona Lisa“. Ansonsten war New Paris eine gewöhnliche Baukastenstadt, nach demselben Prinzip gebaut wie alle anderen Städte der Kolonie. Es gab mehrere kreisförmige Hauptstraßen, die durch Nebenstraßen miteinander verbunden waren. Die Gebäude standen zwischen den Hauptstraßen.

Beziehungsweise hatten gestanden. Auch wenn der Feind noch weit weg war, so war er doch nah genug, um die Stadt mit Artillerie zu bombardieren. Stolze Wolkenkratzer waren bereits zerstört worden und hatten ganze Viertel unter sich begraben. Schutzschilde gab es nur für wenige militärische Gebäude wie den Flughafen.

Jedoch hatten alle Koloniestädte noch eine zweite Besonderheit, was ihre Bauweise anging. Die gesamte wichtige Infrastruktur lag unter der Erde: Straßen, die aus der Stadt hinausführten, Schienennetze für die Magnetschwebebahnen, Krankenhäuser, Feuerwehren, Polizeistationen, Kraftwerke – einfach alles, was eine Stadt zum Funktionieren brauchte. Auf der Oberfläche selbst befand sich das in Kriegszeiten Entbehrliche wie Freizeiteinrichtungen, Kaufhäuser und Wohnmöglichkeiten. Für die Einwohner existierten tief unter der Erde Bunker, die zwar schlicht waren, aber alles boten, was man zum Leben brauchte, wenn die Stadt belagert und vor allem beschossen wurde. Und das wurde sie auch, weshalb die Einwohner sich nun in diesen Bunkern befanden, während die Soldaten sich oben zwischen den Ruinen und unzerstörten Gebäuden verschanzten, um die Stadt gegen den anrückenden Feind zu verteidigen. Gleichzeitig wurde die unterirdische Evakuierung der Zivilbevölkerung über das Schienennetzwerk vorbereitet. Zusätzlich belud man die Magnetschwebezüge mit wichtigen Gütern, um sie in Richtung Norden zu den Städten in den Bergen zu schicken.

Der Frontverlauf zwischen den Putschisten, die sich mit den Dämonen verbündet hatten, und den Loyalisten, die für die alte Regierung kämpften und sich um ein Bündnis mit den Urvölkern Locondias bemühten, war folgender: Während die Verräter den Süden der Kolonie, also den Großteil der Städte, die in der Sahara lagen, kontrollierten, konnten sich die Loyalisten im Norden in den teils unterirdischen Bergstädten, die aufgrund ihrer Lage gut geschützt waren, verschanzen. Das bedeutete, dass die Putschisten acht der dreizehn Städte, nämlich New Berlin, New Washington, New Peking, New Rom, New London, New Kairo, New Tokio und New Moskau, in ihrer Gewalt hatten, während die fünf verbliebenen Städte New Madrid, New Seoul, New Ottawa, New Brasilia und New Paris in der Hand der Loyalisten waren.

Die Städte im Süden waren zuerst entstanden, wogegen die Bergstädte sich später aus Minenkomplexen, die die Bergarbeiter mit ihren Familien beheimateten, gebildet hatten. In diesen Bergen wurden vielfältige Rohstoffe, teils altbekannte wie Silber, Gold oder Kupfer, teils aber auch neuartige wie Hydraeisen, abgebaut. Es war schon ein großes Naturwunder, was man so alles in diesem Gestein finden konnte. Aus den Minenkolonien hatten sich erst in den letzten hundert Jahren richtige Städte entwickelt, nachdem immer mehr Arbeitskräfte dorthin gezogen waren, weil der Rohstoffbedarf der Kolonie stetig wuchs. Durch die Varianz in der Entstehung von Nord und Süd hatte sich auch ein leichter kultureller Unterschied entwickelt.

Wegen der Aufteilung der Kolonie in Nord und Süd war New Paris eine besondere Stadt. Sie wurde gern als „Kind von Nord und Süd“ bezeichnet. Das hing mit ihrer Lage zwischen den beiden Städtegruppen zusammen, was sie zu einem Knotenpunkt für den Transport der Ressourcen und Güter machte. Darum besaß die Stadt einen der größten Bahnhöfe der Kolonie, da sie die Schnittstelle zwischen dem südlichen und dem nördlichen Schienennetz bildete, was zur Abwandlung eines altbekannten Sprichwortes führte: „Alle Schienen führen nach Paris.“

New Paris befand sich zwischen den Bergen und der Wüste, also dort, wo der Sand vom Gestein abgelöst wurde. Die Gegend war deshalb sehr flach und die Stadt konnte von jeder Seite angegriffen werden. Zwar war sie so gebaut, dass man sie gut verteidigen konnte, jedoch ließ sich eine gewaltige feindliche Übermacht auch nicht mit einer günstigen Verteidigungsposition abwehren. Darum war die Evakuierung der Zivilbevölkerung und aller wichtigen Ressourcen und Geräte in vollem Gange, während auf der Oberfläche zirka zwanzigtausend Männer und Frauen auf den Feind warteten und dabei immer wieder die Köpfe einzogen, wenn die Projektile der feindlichen Artillerie einschlugen. Die Verteidiger, denen der gesamte Fuhrpark des Kolonie-Militärs wie Panzer, Kampfroboter und Fluggeräte zur Verfügung stand, konnten sogar auf die Unterstützung eines Raketensilos zählen, der sich weit entfernt in den Bergen befand.

Trotzdem waren alle nervös und hatten Angst vor dem, was kommen würde. Ja, sie hatten zwar jahrelanges Training hinter sich gebracht, da aber die Menschen der Kolonie noch nie einen Krieg erlebt, geschweige denn gekämpft hatten, besaßen sie praktische Erfahrungen nur aus Übungsmanövern. Es war, als würde man jemanden, der Schwimmbewegungen nur in Trockenübungen erlernt hatte, ins Wasser stoßen. Er könnte zwar das anwenden, was er gelernt hatte, doch das Ergebnis bliebe trotzdem bescheiden. So ging es auch den Soldaten.

Aber derjenige, der sich am meisten bei dieser Sache unwohl fühlte, war Kommandant Sinnas Dillingham, der Neffe der Zwillinge John und Joy Dillingham. Er fühlte sich nicht einmal ansatzweise so kompetent wie seine berühmten Onkel. Auf seinen Schultern lag die Verantwortung für die Stadt, für seine Männer und Frauen sowie für die Zivilisten. Wenn ihm bei der Verteidigung auch nur ein kleiner Fehler unterlief, würden viele den nächsten Tag nicht erleben. Alles lag in seinen Händen, in den Händen eines Kommandanten, der sich noch mitten in der Ausbildung befand, als er aus der Militärakademie gezerrt wurde, weil es keinen anderen Kandidaten gab. Der alte Befehlshaber war verschwunden, entweder geflohen oder übergelaufen.

Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war Sinnas eigentlich noch weit entfernt vom Abschluss seiner Ausbildung und er fühlte sich schon jetzt hoffnungslos überfordert. Irgendwie glaubte er auch, sein bekannter Name könnte einen Einfluss darauf gehabt haben, dass man ihm das Kommando übertrug. Jeder dachte, er würde die Soldaten am besten anführen, nur weil er ein angehender Kommandant mit ehrbarer Militärverwandtschaft war.

Natürlich wusste Sinnas, wie man Befehle gab und die Übersicht behielt, doch sein gesamtes Wissen über Taktik und Strategie umfasste nur die Grundlagen. Das Einzige, was Sinnas wirklich meisterhaft konnte, war, seine Angst und sein schlechtes Gefühl zu verbergen, sodass niemand bemerkte, dass der Kommandant die Schlacht bereits für verloren hielt, weil er selbst an seinen Qualifikationen zweifelte. Doch sein Pflichtbewusstsein, welches ihn daran erinnerte, dass er für das Leben von Tausenden verantwortlich war, verdrängte die Selbstzweifel.

Kommandant Sinnas griff zum Mikrofon, um eine letzte Rede vor dem Angriff zu halten: „Soldaten, ich will ehrlich sein. Unser Aufklärer, der als Einziger wieder zurückkam, berichtet von einer Armee, die uns mindestens um das Dreifache überlegen ist.“ ‚Toller Anfang, ich Idiot! Das wird sie ja richtig motivieren‘, schalt sich Sinnas in Gedanken selbst. „Und wir werden die Stadt nicht halten können. Doch das müssen wir nicht. Wir müssen sie aufhalten, bis jedes Kind, jede Frau und jeder Mann in Sicherheit ist. Kämpft für ihre und eure Zukunft. Kämpft für die Menschheit!“

Der gedämpfte Jubel der Soldaten wurde über die Lautsprecher in die Kommandozentrale übertragen und Sinnas wusste, dass er wenigstens das hinbekommen hatte. Er blickte sich in der Zentrale um und sah jeden seiner Untergebenen an. „Packen wir es an“, sagte er zu ihnen. Sie nickten allesamt und blickten wieder auf ihre Monitore. Ganz leise murmelte Sinnas: „Möge Gott mit uns sein.“

Leise zischte der Wind durch die Stadt und trug dabei Sand in die Straßen. Doch heute interessierte sich niemand für dieses tägliche Ärgernis. Die Augen aller Soldaten waren trotz des Sandes, der ihnen entgegengeblasen wurde, auf den Horizont gerichtet. Alle warteten auf den Feind und wünschten sich gleichzeitig, dass er nie kommen würde. Die Infanterie hockte hinter den Barrikaden, die auf den Straßen aufgebaut worden waren, während die Panzer und Kampfroboter ihre Waffen in die Ferne gerichtet hielten, um den Feind, sobald er sich blicken lassen würde, zu befeuern. Über ihren Köpfen flogen zwischen den verbliebenen Wolkenkratzern hindurch einige Senkrechtstarter, die Luftunterstützung geben sollten. Zu guter Letzt befand sich in der Stadtmitte die Artillerie, die die ungefähre Position des Feindes dank Rader orten und ihn so unter Beschuss nehmen konnte.

So stand nun die Armee in der Stadt und wartete, während die Soldaten die Artilleriegeschosse beider Seiten davonfliegen beziehungsweise einschlagen sahen. Und auch Sinnas wartete, während er auf das Hologramm starrte, welches das Schlachtfeld in groben Umrissen zeigte. Die Position der eigenen Truppen wurde korrekt angezeigt, während das Hologramm nur ungefähre Positionen des Feindes wiedergeben konnte, da Störsignale eine genaue Ortung verhinderten. Dies verdeutlichte dem jungen Kommandanten, dass der Feind noch einen großen Vorteil hatte. Während er sich auf das Radar verlassen musste, konnte der Feind dank des Satellitensystems, das sich unter der Kontrolle der Putschisten befand, die Positionen und Bewaffnung der Verteidiger genau erkennen. Kurz gesagt: Der Feind wusste, was ihn erwartete, die Verteidiger aber nicht.

Die Berichte des Aufklärers waren viel zu vage. Die Unmengen an Panzern und Kampfrobotern, die in dem vom Bordcomputer aufgenommenen Film zu sehen waren, erstickten die Hoffnung der Loyalisten. So blieb dem jungen Kommandanten nichts anderes übrig, als auf das Rader zu schauen und zu warten, bis die ersten Gegner in Sichtweite kommen würden.

Dann war es so weit: Sandwolken erschienen am Horizont und enthüllten Panzer und Truppentransporter, die sich rasch der Stadt näherten und das Feuer eröffneten, während über ihnen Kampfsenkrechtstarter hinwegdüsten. Die Verteidiger erwiderten das Feuer.

Als der äußerste Stadtring erreicht wurde, blieben die Truppentransporter stehen und entluden ihren Inhalt, während die Panzer weiterrollten und Feuerschutz gaben. Besessene Soldaten sprangen heraus und eröffneten unverzüglich das Feuer. Die Schlacht um New Paris hatte begonnen.