Anjuli Aishani

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Anjuli Aishani
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Janina Gerlach

ANJULI AISHANI

Im Reich

der schwarzen Engel

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Für Papa, Mama & Stephan,

meine Felsen in der Brandung

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelfoto Janina Gerlach

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Widmung

Impressum

Prolog

Kapitel 1 – Nächtlicher Besuch?

Kapitel 2 – Floresville High School

Kapitel 3 – Grandma‘s Spezialsoße

Kapitel 4 – Cleopatra

Kapitel 5 – Lauf um dein Leben

Kapitel 6 – Die Auflösung

Kapitel 7 – Freitag nach der Schule

Kapitel 8 – Zitronen

Kapitel 9 – Herzklopfen

Kapitel 10 – Überraschungsbesuch

Kapitel 11 – Taufe?

Kapitel 12 – Der Schock

Kapitel 13 – Die Wahrheit

Kapitel 14 – Von Strigoi und Vukodlaks

Kapitel 15 – Aus Freund wird Feind

Kapitel 16 – Schwarzer Engel

Kapitel 17 – Die neue Welt

Kapitel 18 – Zu Besuch bei Freunden

Kapitel 19 – Missverständnis

Kapitel 20 – Unerwartete Wendung

Kapitel 21 – Flucht

Kapitel 22 – Rosy & Co

Kapitel 23 – Krieg

Kapitel 24 – Der Wächter

Kapitel 25 – Um Leben und Tod

PROLOG

Lange lange Zeit zuvor in der Unterwelt am Portal zu Rumänien:

Der Saal ist brechend voll. Alle sind sie zusammengekommen in der schwarzen Festung am Rande des Portals, gerufen durch ihre Meister. Ahnungslos sitzen sie in kleinen Grüppchen zusammen, gespannt darauf, was verkündet werden wird. Das Stimmengewirr erfüllt die Luft wie das Rauschen eines Wasserfalls. Der Raum ist riesig und die steinernen Mauern ragen weit in den Himmel hinauf. Trotzdem haben einige sogar auf den schweren hölzernen Querbalken an der Decke Platz nehmen müssen, da es sonst zu eng geworden wäre.

Erst vor ein paar Jahrhunderten ist der Erste von ihnen geschaffen worden und schon jetzt zählen sie fast fünfhundert ihrer Art. Wirklich alle haben sich an diesem Tag versammeln müssen. Nicht nur wie üblich die Familienältesten, nein, heute tummeln sich auch Frauen und unbeholfene Kinder im Gedränge.

Mit einem lauten Schlag fliegt plötzlich das massive Eingangsportal auf. Der eintretende Windstoß bringt die Fackeln an den Wänden zum Flackern. Sofort verstummt das Gemurmel im Saal. Jeder starrt gespannt zur Tür. Im nächsten Moment treten sie ein, zwanzig an der Zahl. Allesamt sind sie in lange schwarze Kutten gehüllt, die ihren Körper und sogar das Gesicht vollständig verdecken. Majestätisch schreiten sie in der altbewährten Formation durch den Gang, den die Umstehenden ehrfürchtig für sie geräumt haben, bis sie sich schließlich in einem Halbkreis vor der Menge aufbauen. Einer von ihnen tritt einen Schritt nach vorne und ergreift das Wort.

»Seid gegrüßt!«, schreit er in die Menge und sofort ertönt ein lautes Jubeln. Ein kleines Handzeichen des Sprechers genügt und es ist sofort wieder verstummt. Sie lauschen gespannt seinen Worten. Die Älteren erkennen, dass es der alte Radu ist, der spricht.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um den größten Triumph unserer Geschichte zu zelebrieren!« Die eingelegte Pause bedeutet der Menge in erneutes Jubeln auszubrechen, dann donnert seine Stimme weiter.

»Vor wenigen Stunden ist es mir und meinen Männern«, er deutet auf die Gestalten hinter sich, »gelungen, die Hexen zu einem weiteren, ja zu einem gigantischen Entgegenkommen zu zwingen. Seht nur!«

Er greift mit beiden Händen die Ränder seiner Kapuze und die Männer hinter ihm tun es ihm gleich. Bedächtig langsam zieht er den schwarzen Stoff nach hinten und entblößt Stück für Stück seinen Kopf. Zum Vorschein kommt das Gesicht eines alten, grauhaarigen Mannes. Man würde ihn auf um die sechzig Jahre schätzen. Er hat buschige weiße Augenbrauen, die seinen Ehrgeiz verraten, und ein paar Falten spielen um seinen leicht lächelnden Mund. Seine weit aufgerissenen blauen Augen blicken Stolz erfüllt in die Menge.

Für einen Menschen wäre dieser Anblick nichts Besonderes gewesen, doch aus den Mienen der Zuschauer sprechen Entsetzen und Verblüffung. Sofort erfüllt lautes Gemurmel und Getuschel den Raum.

»Wie ist das möglich, Herr?«, ruft einer.

»Das will ich dir sagen«, spricht Radu weiter und der Saal liegt wieder in Totenstille vor ihm. »Ihr alle kennt den Brunnen im großen Saal der Festung.« Ein paar nicken eifrig, der Rest lauscht, traut sich kaum zu atmen. »Wir haben die Hexen dazu zwingen können, ihn in eine unversiegbare verzauberte Quelle zu verwandeln. Derjenige, der sich ihr Wasser über sein Haupt ergießen lässt, soll menschliche Gestalt annehmen und in der Menschenwelt leben können, ohne erkannt zu werden.«

Ein Raunen geht durch die Menge, die meisten tauschen ungläubige Blicke, doch keiner protestiert, denn der lebende Beweis steht ja dort vor ihnen. Plötzlich beginnt einer in der hinteren Reihe lautstark zu jubeln und bald stimmt der ganze Saal in die Freudenschreie ein. Es wäre wahrscheinlich den ganzen Abend so weiter gegangen, hätte der alte Radu nicht wieder das Wort ergriffen: »Halt!«, ruft er mit drohender Stimme, die den ganzen Saal erfüllt. Mit schnellen Schritten geht er auf die erste Reihe zu, die augenblicklich ehrfürchtig ein Stück zurückweicht. Er hebt seinen Finger mahnend in die Höhe.

»Ihr werdet die Vorzüge dieses neuen Zaubers sicherlich genießen, doch ich warne euch: Wenn auch nur ein Mensch hinter das Geheimnis kommt und ihr ihn nicht sofort beseitigt, wird das mit euch passieren!«

Ohne Vorwarnung tritt er noch ein Stück näher an die Masse heran, greift wahllos nach einem jüngeren Alters und haut ihm die nun wieder an seinen Fingern erschienenen langen Klauen in die Schultern. »Dies soll euch allen eine Lehre sein!«, ruft er aus und übertönt damit den verzweifelten Angstschrei des Opfers. Mit einer schnellen Bewegung hat der Meister den Hals des Jungen nach hinten überstreckt und rammt seine spitzen Zähne in seinen Hals. Blut spritzt, dann noch ein kurzes Zucken und der Körper fällt schlaff zu Boden. Die Umstehenden treten hastig noch weiter zurück, dann schreit Radu: »Und jetzt geht hinaus, Brüder und Schwestern und genießt die Freiheit!«

Er richtet das blutverschmierte Gesicht gen Himmel und lacht laut und voller Triumph.

KAPITEL 1 – NÄCHTLICHER BESUCH?

Es ist mitten in der Nacht, als ich plötzlich aus dem Schlaf gerissen werde. Kalte Schwärze umgibt mich. Es muss um Mitternacht sein. Was hat mich geweckt? Ein lautes Knacken meiner Dielen. Da ist es schon wieder. In Sekundenschnelle sitze ich aufrecht im Bett, schaue mich in meinem Zimmer um. Zitternd versuche ich meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Mein Herz rast. Ich hätte schwören können, dass eine dunkle Gestalt an meinem Bett gestanden hat. Dass sie mich angestarrt hat.

 

Ich blinzelte, dann war sie spurlos verschwunden.

Das ist absurd, versuchte ich mir einzureden. Ich schüttelte den Kopf und versuchte den Gedanken zu vertreiben. Das musste eine Auswirkung der vielen Horrorfilme sein, die ich mir in den Sommerferien zusammen mit Ashley angeschaut hatte. Dennoch wollte es mir nicht gelingen zu entspannen. Mein Herz pochte immer noch heftig.

Ein Blick durch mein Zimmer versicherte mir, dass sich dort keiner verstecken konnte. Langsam entkrampften sich meine Muskeln. Der Raum war noch sehr spärlich eingerichtet, da wir erst in der letzten Woche nach Floresville gezogen waren.

Das Fenster hatte ich wegen der unerträglichen Hitze am Abend offen gelassen, doch nun peitschte ein kalter Wind durch die Dachgaube. Vorsichtig schwang ich meine Beine aus dem Bett und erschrak. Da war das Knacken wieder.

Es dauerte einen Augenblick bis ich begriff, dass ich das Geräusch selbst ausgelöst hatte, als meine nackten Füße den alten Eichenboden berührten. Schnell huschte ich an meinem Schreibtisch vorbei und schloss das Fenster. Ich hielt einen Moment inne und betrachtete die dunklen Wolkenfetzen, die der Wind über den Himmel jagte. Nur ab und zu ließen sie den Mond durch ihre grauen Mauern blitzen.

Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke. Konnte jemand durch das Fenster eingestiegen sein? Ruckartig riss ich meinen Blick von dem Himmel los und drehte mich um. Dicht an die Wand gepresst durchsuchte ich die Schwärze nach einer Gestalt, nach einer Bewegung.

Alles blieb ruhig. Ich zwang mich dazu, das Geräusch endlich zu vergessen.

Es muss ein Albtraum gewesen sein. Wer sollte schon über den zwei Meter hohen Saarlouis-Zaun geklettert sein, der unser Grundstück umgab, um dann womöglich wie Spiderman zehn Meter an der Wand in die Höhe zu klettern und in mein schmales Fenster einzusteigen.

Es ist absurd. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Ich habe wirklich eine blühende Fantasie.

Wesentlich entspannter schlich ich zurück in mein Bett, wobei mein Blick auf meinen Nachttisch fiel. Blitzartig wurde mein Herz schwer und Trauer brannte in meinen Adern. Da stand ein Foto von Julien, meinem…naja, unfreiwillig gewordenem Ex-Freund, und mir. Vor einigen Wochen noch hatte ich in Portland in seinen Armen gelegen und auf Wolke sieben geschwebt, doch dann hatte mein Vater kurzerhand beschlossen, nach Floresville in Texas zu ziehen. In unserem alten Zuhause war etwas Schreckliches passiert, und außerdem würde mein Dad in San Diego einen neuen Auftrag haben. Alles was ich wusste war, dass er beim FBI arbeitete und wirklich nie über seine Arbeit sprach. Ob er es nicht durfte oder einfach nur unklug fand, seiner 16- jährigen Tochter etwas anzuvertrauen, wusste ich nicht. Ich fragte auch nicht mehr nach, denn inzwischen war mir klar geworden, dass es nichts brachte und ich ohnehin nichts aus ihm herausbekommen würde.

Ich war natürlich ziemlich verärgert darüber, dass ich all meine Freunde und mein Zuhause der letzten 15 Jahre verlassen sollte, doch schweren Herzens willigte ich schließlich ein und trennte mich von Julien. Ich tat es sehr ungern, da wir bereits elf Monate eine glückliche Beziehung geführt hatten, doch die fast dreieinhalb tausend Kilometer, die nun zwischen uns lagen, hätten für jedes Treffen mehr als eine Tagesreise gefordert und ich konnte mir eine Fernbeziehung einfach nicht vorstellen. Dass ich ihn früher als geahnt wiedesehen würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Traurig nahm ich das Bild von dem sonst noch leeren Nachttisch und legte es in die unterste Schublade, wo ich es sorgfältig mit ein paar bunten Halstüchern bedeckte. Es würde das Beste für mich sein, ihn einfach zu vergessen und aus meinem Leben zu streichen. Meine Illusion jener Nacht war bereits eine gute Ablenkung gewesen.

Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte an der Wand neben meinem Schrank die silberne Digitaluhr erkennen, die mir mein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich kniff die Augen zusammen, um die roten Ziffern erkennen zu können. Stöhnend ließ ich mich wieder in mein Bett sinken, zog die Bettdecke bis zu meinen Ohren nach oben und machte die Augen zu. Die Uhr hatte 01:54 Uhr angezeigt – in etwa viereinhalb Stunden würde ich wieder aufstehen müssen und alle Energie brauchen, um meinen ersten Schultag an der Floresville High School zu absolvieren.

Ich werde meinen Vater bitten, sich um die Dielen zu kümmern, war das Letzte, was ich dachte, bevor ich wieder tief und fest einschlief und im Land der Träume versank.

KAPITEL 2 – FLORESVILLE HIGH SCHOOL

Robert nahm meine Hand, zog mich ganz nah an seine Brust und hob mit sanften Händen mein Kinn an, sodass ich in seine blaugrauen Augen blicken konnte. Er war zum Verlieben schön. Mein Herz fing heftig an zu klopfen, als er langsam seinen hübschen Kopf neigte, seine braunen Haare leicht in sein Gesicht fielen und schließlich seine Lippen die meinen berührten.

»Schätzchen, bist du schon wach?«

Der Kuss war unendlich schön. Ich legte meine Hände an seinen Nacken, um ihn noch näher an mich heranzuziehen.

»Anjuli? Du musst jetzt wirklich aufstehen. Wir haben schon viertel vor acht!« Was? Die Stimme klang aber nicht nach Robert. Langsam öffnete ich die Augen und bemerkte entsetzt, dass ich da nicht Robert Pattinson im Arm hatte, sondern nur mein zerknuddeltes Kopfkissen.

Mist! Vor der Tür stand meine Mutter um mich zu wecken und das war ein schlechtes Zeichen, da sie morgens eigentlich nur an meine Tür klopfte, wenn ich wirklich spät dran war. Was hat sie gesagt? 7:45 Uhr – und um 8 Uhr fängt die Schule an?

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, versicherte meiner Mutter rasch, dass ich schon so gut wie fertig war und zog mir schnellstmöglich wahllos ein paar Shorts und ein Shirt aus einem der Umzugskartons über. In Windeseile hetzte ich ins Bad, welches direkt neben meinem Zimmer lag, putzte mir so schnell die Zähne, dass mein Zahnarzt bei dem Anblick im Dreieck gesprungen wäre und legte etwas Make-up auf, um die kleinen roten Stellen auf meiner Stirn zu bedecken. Dann noch ein wenig Kajal um meine kastanienfarbenen Augen und fertig. Kritisch betrachtete ich mich im Spiegel. Bei dem Anblick meiner zerzausten Haare kräuselten sich meine Lippen, doch ein Blick auf die Uhr verriet, dass ich es schon jetzt nicht mehr rechtzeitig schaffen würde.

Super! Das macht ja einen tollen Eindruck bei meinem ersten richtigen Schultag. Ungekämmt und trotzdem viel zu spät.

Ich war aufgeregt und gespannt, wie die anderen Schüler auf mich reagieren würden. Zwar war ich am vorigen Tag bereits an der Schule gewesen, jedoch nur um ein paar Formulare auszufüllen und meinen Stundenplan abzuholen.

Während ich die Treppe halb runter rannte, halb runter stolperte, warf ich einen kurzen Blick darauf und sah mit Entsetzen, dass ich in der ersten Stunde Mathe haben würde. Leider gehöre ich nicht zu den wenigen Genies dieser Welt, die etwas von Integralrechnung, Stochastik und wie das alles heißt, verstehen, sondern sitze immer einfach nur da, mein süßestes Lächeln aufgesetzt und nicke ganz schnell, wenn der Lehrer fragt, ob wir auch alles verstanden haben.

Die Klausuren zeigten dann meistens, dass ich da doch noch ein paar Fragen hatte …

Unten angekommen sprintete ich in die Küche, drückte meiner Mum einen Schmatz auf die Wange, warf mein Frühstück in meinen Rucksack und packte mir die Autoschlüssel. Mein weißer Audi wartete bereits im Hof auf mich. Ich bin eigentlich nicht so markenverrückt wie einige meiner Freunde, aber ich muss sagen, dass dieses Auto schon das gewisse Extra hat. Mit Navi, Sitzheizung und eingebautem Bordcomputer machte das Fahren echt Spaß und die Chromfelgen gaben dem Ganzen den letzten äußerlichen Schliff – meinte zumindest mein Vater, der mir den Wagen zu meinem 16. Geburtstag geschenkt hatte.

Vom Geld her war das kein Problem. Schließlich verdiente er beim FBI mehr als genug, um mir jeden Wunsch zu erfüllen, doch ehrlich gesagt wollte ich das nicht so ausnutzen und hatte mir, bis auf ein fahrtaugliches Auto zum Geburtstag, noch nie so etwas Großes gewünscht. Dass es genau dieses Auto wurde, hat mich dann auch nicht gestört.

Das einzig Schlechte daran war, dass es zahlreiche Blicke von gaffenden Schülern auf sich und somit auch auf mich lenkte. Als ich gestern zum ersten Mal vor der Schule vorgefahren war, hatte ich mich vor neugierigen Blicken kaum retten können und war froh, als ich durch die Tür des Sekretariats geschlüpft und somit erst mal sicher gewesen war.

Heute würde mir das wahrscheinlich nicht drohen, da meine Uhr bereits 8:10 Uhr zeigte, als ich die Hofausfahrt verließ und mich in Richtung Schule begab.

Unser neuerworbenes Haus lag an einem abgelegenen Waldstück etwas abseits der Stadt und so dauerte es fast zehn Minuten bis die Schule in Sicht kam.

Auf dem Schulparkplatz angekommen, drehte ich eine Runde, um noch eine freie Parklücke zu finden, und siehe da – hinter einer Reihe von Büschen und Bäumen gab es noch weitere fünf Parkplätze. Drei davon waren bereits belegt und eine der freien Parklücken war so eng, dass ich bestimmt Probleme mit dem Einparken bekommen würde. Ich steuerte also auf die letzte Parklücke zu, die wie für mich gemacht zu sein schien, da tauchte plötzlich hinter mir ein anderes Auto auf. Es war eine schwarze Corvette, die mich überholte und sich in die Lücke stellte, auf die ich gerade zugehalten hatte. Verärgert grub ich meine Fingernägel in das Lenkrad.

Was erlaubt sich dieser Typ?

Genervt legte ich den Rückwärtsgang ein und versuchte mir die Worte meines Fahrlehrers über Einparken wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ich wollte jetzt einfach möglichst schnell in diese Parklücke und am besten ohne mir eine Delle in meinen Audi zu fahren.

Wie ich erwartet hatte, klappte es nicht beim ersten Versuch. Beim zweiten auch nicht. Der dritte war knapp, doch ich wollte nicht riskieren, gegen eins der anderen Autos zu fahren, also setzte ich nochmals zurück und versuchte es ein viertes Mal. Ich war so konzentriert gewesen, dass ich gar nicht bemerkte, wie drei Personen aus der Corvette ausstiegen. Zwei davon, ein Junge und ein Mädchen, entfernten sich in Richtung Schulgebäude, der Dritte kam direkt auf mich zu. Ich betete, dass ich es dieses Mal schaffen würde. Alles andere wäre einfach viel zu peinlich gewesen. Ich hielt die Luft an, lenkte in Richtung Parklücke, drückte leicht das Gaspedal und… atmete aus, denn ich hatte es endlich geschafft. Hastig ergriff ich meinen Rucksack, der auf dem Beifahrersitz lag und stieg aus. Ich hoffte immer noch, dass ich mich nur verguckt hatte, doch der Fahrer der Corvette kam wirklich auf mich zu.

Was will der nur?

Eigentlich kochte die Wut in meinem Magen, doch bei dem Anblick des jungen Mannes verflog der Ärger und wich einem Hauch von Scham, welcher meine Wangen rosa rot färbte.

Er musste etwa 1,90m groß sein, denn ich selbst war schon mit 1,78m nicht klein und er schien mich noch um einen Kopf zu überragen. Mein Blick wurde auf seine muskulösen Arme gelenkt, während er sich lässig in meine Richtung bewegte.

Ich musste echt lächerlich aussehen, wie ich einfach nur so dastand und ihn anstarrte, denn als er näher kam, erkannte ich ein schelmisches und zugleich arrogantes Lächeln auf seinen Lippen. Lippen, die einfach perfekt zu dem Teint seiner braunen Haut passten. Seine Augen waren verdeckt von einer großen, schwarzen Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, so dass es mir unmöglich war zu sehen, wohin er schaute.

Bitte geh an mir vorbei, bitte geh an mir vorbei.

Seine Haare waren leicht nach oben gegelt und eine Mischung aus schwarzbraunen und haselnussfarbenen Strähnen, die in sein Gesicht fielen und somit seine makellose Haut im Bereich der Stirn verdeckten. Als er keine zwei Meter mehr von mir entfernt war, verlangsamte er seine Schritte und blieb schließlich stehen.

»Du bist neu in der Stadt, stimmt´s? Ich habe dich gestern schon hier gesehen«, sagte er unerwartet freundlich. Beim Klang seiner Stimme klopfte mein Herz schneller. Die Melodie, die darin mitschwang, war einfach atemberaubend schön.

»Ehm, ja stimmt.«

Ich spürte wie Unmengen von Blut in mein Gesicht gepumpt wurden und konnte mir gut vorstellen, wie rot ich wohl sein musste. Mit einem Grinsen im Gesicht streckte er mir die Hand entgegen und sagte:

 

»Nathan Hawk. Sorry noch mal wegen eben. Ich hatte es ein wenig eilig.«

Eilig? Wieso nimmt er sich dann die Zeit mit mir zu reden?

Ein winzig kleiner Teil in mir bestand darauf, sauer auf diesen arroganten Nathan Hawk zu sein, doch der restliche Teil meines Verstands verzieh ihm sofort und wie ferngesteuert streckte ich auch meine Hand aus und stellte mich vor.

»Anjuli Aishani. Macht nichts. Ist ja nix passiert.«

Mit der freien Hand strich er sich ein paar Strähnen zur Seite und ich konnte sehen, wie er die Stirn runzelte.

»Anjuli Aishani? Das ist aber nicht sehr amerikanisch. Wo kommst du ursprünglich her, wenn ich fragen darf?«

Diese Frage kannte ich nur zu gut, da sie mir schon viele Leute zuvor gestellt hatten – zu Recht, wenn man nicht wusste, dass meine Mutter indischer Abstammung war, ich mich jedoch durch und durch als Amerikanerin fühlte und nicht ein Wort Indisch konnte. Ich wusste lediglich was mein Name bedeutete. Anjuli, der Segen, und Aishani, die Göttin.

Du bist wirklich ein Segen Gottes, hatte mir meine Mutter immer ins Ohr geflüstert, als ich klein war.

Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke etwas höher, da ein kräftiger kalter Windstoß von hinten kam, meine Haare in Nathans Richtung wehte und mich leicht frösteln ließ. Ich wollte ihm gerade die passende Antwort auf seine letzte Frage geben, da bemerkte ich seinen Gesichtsausdruck, der sich schlagartig von jetzt auf gleich verändert hatte.

Seine Züge ließen erahnen, dass er die Augen geschlossen hatte, und ich konnte deutlich sehen, wie er die roten Lippen aufeinander presste, so als hätte er eine Fliege verschluckt und wollte sie auf keinen Fall wieder aus seinem Mund lassen.

Verwundert sah ich ihm zu, wie er das Gesicht in den Wind hielt und kräftig einatmete. Mein Verstand musste mich täuschen, denn das, was ich da vor mir sah, erinnerte mich mehr an ein wildes Tier, das die Fährte seiner Beute aufnimmt, als an einen Menschen.

Seine Hände verkrampften sich und ich konnte deutlich die blauen und grünen Adern erkennen, die sich darauf abzeichneten. Ich hatte Angst, sie könnten aufplatzen, so fest drückte er darauf. Völlig erschrocken trat ich einen Schritt zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. Angst um mich hatte ich in diesem Moment keine.

Warum sollte dieser Mensch mich angreifen? Ich habe ihm nichts getan.

Vielmehr sorgte ich mich um sein Wohlbefinden. Vielleicht hatte er einen Anfall? Ich biss mir leicht auf die Lippe, so wie ich es immer tat, wenn ich mir in einer Sache unsicher war, und fragte ganz leise:

»Ist alles in Ordnung, Nathan?«

Endlich entspannten sich seine Züge. Er schien wieder zu sich gekommen zu sein.

»Ich muss los«, presste er zwischen den Lippen hervor. Anstatt mir zu versichern, dass alles klar war, wie es normale Menschen für gewöhnlich taten, verzog er das Gesicht, rückte seine Brille zurecht, während er einen unheimlich arroganten Blick aufsetzte und sich dann schließlich umdrehte und in schnellen Schritten den Parkplatz verließ. Zu meiner Überraschung, die durch dieses Verhalten sowieso schon riesig war, ging er jedoch nicht in Richtung Schule, sondern verschwand in ein anderes Gebäude, das ich jedoch noch nicht kannte. Ich überlegte einen Moment lang, ob ich ihm nachrufen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Ich würde aus diesem Jungen wohl so schnell nicht schlau werden. Außerdem war ich bereits mehr als spät dran und so eilte ich in das Schulgebäude, welches ich wohl für die nächsten zwei Jahre so gut wie täglich besuchen würde.

In der großen Eingangshalle angekommen, zerrte ich den geknickten Stundenplan aus meinem Rucksack und versuchte vergeblich herauszufinden, in welchem Raum ich eigentlich schon vor dreißig Minuten hätte erscheinen sollen. Die Halle war verlassen. Keiner, den ich hätte fragen können. Natürlich nicht – alle saßen bereits im Unterricht. So blieb mir nichts anderes übrig, als noch einen kurzen Abstecher ins Sekretariat zu machen, um die zum Glück freundliche und verständnisvolle Mrs. Jacobs nach dem Weg zu fragen.

Ich war leicht außer Atem, als ich endlich die Tür des Klassenzimmers erreichte, noch einmal tief durchatmete und dann leise aber hörbar anklopfte. Ein älterer Mann, graue Haare, Halbglatze, groß und schlaksig, öffnete mir und starrte mich mit zornigem Blick an. Er rückte seine altmodische Brille zurecht und verkündete spöttisch:

»Ah, sie müssen zweifellos Miss Aishani sein, habe ich Recht? Wir haben Sie bereits erwartet.«

Beschämt nickte ich, betrat den Raum und setzte mich kleinlaut auf den einzigen freien Platz, auf den Mr. Black, mein neuer Lehrer, mich verwiesen hatte. Ich spürte, wie alle Blicke auf mich gerichtet waren, während ich meine Jacke auszog, sie über den Stuhl hängte und mich schließlich darauf niederließ. Neben mir saß ein Junge, der mich mit schwarzen kurzen Haaren, grünen Augen und Sommersprossen anlächelte und sich als Daniel Reed vorstellte. Er schien nett zu sein und ich hoffte nur, dass er mir helfen würde, dieses grauenhafte Fach zu überleben.

Mr. Black war nicht gerade der Mathelehrer, den ich mir gewünscht hatte, und um direkt zu demonstrieren, dass man bei ihm besser niemals zu spät kam, holte er mich auch schon an die Tafel und ließ mich eine verdammt schwere Aufgabe vorrechnen. So etwas Gemeines hatte ich an meinem ersten richtigen Schultag nun wirklich nicht erwartet. Ich würde mich zum Schulgespräch Nummer eins machen – jedoch nicht auf positive Weise.

Ich wollte gerade verzweifeln, da ich nicht mehr weiter kam, als es plötzlich an der Tür klopfte. Wenige Sekunden später streckte Nathan seinen Kopf durch die Tür, setzte seine Sonnenbrille ab und murmelte etwas, dass wie »Entschuldigung, verschlafen«, klang. Mr. Black setzte dieselbe Miene auf wie auch bei mir vorhin und wies ihn zurecht.

»Tja, tut mir leid, Mr. Hawk, aber ich fürchte, ihr Platz wurde soeben vergeben. Da Sie es ja sowieso vorziehen, gar nicht, oder wenn, dann viel zu spät zu meinem Unterricht zu erscheinen, denke ich, es macht ihnen bestimmt nichts aus zu stehen.«

Verblüfft sah ich von Nathan, dessen Augen wütend funkelten, zu Mr. Black, der in der Ecke stand und zu seiner Genugtuung grinste.

»Wie wäre es, Hawk«, fuhr er schließlich fort, »wenn sie gastfreundlich wären und für unsere neue Schülerin, Miss Aishani, diese Aufgabe zu Ende rechnen würden?«

Ich atmete auf. Danke lieber Gott – ich bin gerettet.

Mit gepresster Stimme würgte Nathan ein »Aber liebend gerne doch«, was mehr als zynisch klang, heraus und kam in Richtung Tafel auf mich zu. Ich reichte ihm die Kreide und ging auf meinen Platz zu. Gerade als ich mich wieder neben Daniel setzte, hörte ich noch ein leises »Vielen Dank« seinerseits. Von der schönen Melodie, die ich vorhin noch in Nathans Stimme vernommen hatte, war nun nichts mehr übrig.

Ich verstand nicht, warum er sich so anstellte, an die Tafel zu müssen. Er gehörte zweifellos zu den wenigen Mathegenies, denn er rechnete die Aufgabe fehlerfrei und ohne langes Grübeln zu Ende.

Bewundernd schaute ich ihm dabei zu. Er stand mit dem Rücken zur Klasse. Ich konnte nicht erkennen, welches Logo auf seine schwarze Jeans aufgenäht war, doch es musste zweifelsfrei eine teure Markenhose sein. Dazu trug er ein weißes Shirt, eine schwarze Lederjacke und abgenutzte, knöchelhohe Stiefel.

Ein nahezu makelloses Bild gab er ab, wie er so da stand und in atemberaubender Geschwindigkeit unzählige Formeln an die Tafel kritzelte. Schon halb gefangen in einem herrlichen Tagtraum schreckte ich plötzlich hoch, als Mr. Black einmal in die Hände klatschte und Nathan mit einer Handbewegung zurück an die Tafel zitierte, um ihn auch noch den Rechenweg für die anderen Schüler erklären zu lassen.

So wundervoll das Mathegenie auch von hinten noch ausgesehen haben mochte, als ich in sein ernstes und zugleich genervt dreinblickendes Gesicht schaute, verflog der Zauber, der ihn noch eben umgeben hatte. Ich kannte diesen Typ erst seit weniger als einer Stunde – wenn man überhaupt von kennen sprechen konnte – und er war mir schon jetzt unsympathisch. Als er vorhin durch die Tür gekommen war, hatte ich die Reaktionen seiner Mitschüler aus den Augenwinkeln mitverfolgen können. Die Mädchen hatten alle wie verzaubert in seine Richtung geschaut, was den Jungen etwas zu missfallen schien, doch auch ein paar von ihnen hatten Nathan mit einem Grinsen zugenickt. Es musste also noch eine andere Seite an ihm geben, die die Schüler der Floresville High School zu bewundern schienen.

Als er gerade mit seiner Erklärung beginnen wollte, meldete sich die Schulklingel in der Ecke des Klassenzimmers und verkündetet das Ende dieser Stunde. Nathan war der erste, der den Raum verlassen hatte, ohne auf Mr. Black zu hören, der ihm laut nachbrüllte und wohl noch ein Wörtchen mit ihm reden wollte. Ich heftete mich an Daniel, folgte ihm aus dem Raum und atmete erleichtert auf, als ich auf dem Flur im dritten Stock stand und das Schlimmste an diesem Tag wohl zum Glück schon hinter mir hatte.

Oder kann es noch schlimmer kommen?

Mein Stundenplan kündigte Französisch für die nächste Stunde an. Daniel war wirklich hilfsbereit, zeigte mir den Weg zu dem Raum, hielt mir die Türen auf, die wir passierten, und beantwortete alle meine Fragen, die ich zwischendurch stellte. Ein echter Gentleman! Ich fühlte mich geschmeichelt.

Die Französischstunde war schon viel angenehmer. Kein Wunder – Sprachen fielen mir im Allgemeinen leicht und Französisch war meine Lieblingssprache. Mit vierzehn hatte ich etwa ein halbes Jahr bei meinem Onkel Charly verbracht, der in Paris lebte, und in dieser Zeit mehr über Grammatik, Aussprache und Vokabeln gelernt als in drei Jahren Schulunterricht. Freundlich lächelnd begrüßte mich Madame Ciboulette, deren Name jedem Französischkundigen ein Grinsen entlockte, mit einem: «Ah, bonjour! Tu es la nouvelle fille, Anjuli Aishani, c’est vrai?»