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Jan Schäfer





Seid bereit,  immer bereit!





Wie die DDR die BRD

 wiedervereinte





Erzählung





Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2021






Diese Erzählung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit  lebenden oder verstorbenen Personen wäre daher rein  zufällig und nicht beabsichtigt.





Bibliografische Information durch die Deutsche

 Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

 diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

 detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

 https://dnb.de abrufbar.



Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig



Alle Rechte beim Autor



Titelbild © hansmuench



Gestaltung: T. Hemmann



Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)





www.engelsdorfer-verlag.de









›Eine neue Art von Denken ist notwendig,







wenn die Menschheit weiterleben will.‹







Albert Einstein









Einleitung





Wir schreiben das Jahr 1998. Seit einem Jahr ist die Bundesrepublik Deutschland Teil der Deutschen Demokratischen Republik. Deutschland ist damit wiedervereint. Zehn Jahre zuvor hatte ein hochrangiger bundesdeutscher Politiker Staatsgeheimnisse preisgegeben und dafür mit seinem Leben bezahlt. Die wahren Umstände seines Todes blieben ungeklärt oder aber Teil von Mutmaßungen und Spekulationen über mögliche Szenarien. Die Kapitalmasse, die in den ostdeutschen Staatshaushalt einfloss, wurde von einer eigens gebildeten treuhänderischen Kommission nach sozialistischem Vorbild erfasst. Unter Leitung des Generalsekretärs der SED und der ihm unterstellten Einrichtungen und Kader der DDR begann so die systematische Zerschlagung bundesdeutschen Eigentums. Das war ein Kraftakt von epischem Ausmaß. Möglich nur dadurch, dass staatstragende Geheimnisse aus dem Bundesministerium des Innern auf dem Schreibtisch des Chefs der Hauptverwaltung Aufklärung landeten, der damit alle Mittel besaß, um einen weltpolitischen Coup zu landen. Man frohlockte nicht ohne heimliche Genugtuung, denn der Grabenkrieg der Geheimdienste hatte bizarre Formen angenommen. Spätestens seit dem Ende der mächtigen Sowjetunion und aller sich daraus ergebenden Konsequenzen hatte niemand eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Dass es das kleine Land zwischen Ostsee und Thüringer Wald überhaupt noch gab und alle Bemühungen des Westens, es von der Landkarte verschwinden zu lassen gescheitert waren, grenzte an ein Wunder. Besonders da, wo traditionell das Kapital regierte, wollte man es nicht für möglich halten. Aus diesen Reihen erwuchs dem sozialistischen Staat auch der schärfste Widerstand gegen die Politik der Wiedervereinigung und Verstaatlichung im Sinne des Arbeiter- und Bauernstaates. Doch es gab kein Comeback der Waffengewalt, um den politischen Gegner zum Schweigen zu bringen und es wurden keine energischen Gegenmaßnahmen getroffen, wie zunächst zu erwarten stand. Allein die Grenzöffnung sah Deutsche im Widerstreit vereint, denen es egal war, dass gerade der Zusammenbruch eines Systems erfolgte und niemand so recht wusste, wie das überhaupt möglich sein konnte. Im Zentralrat der SED und im Politbüro hatte man diese Entwicklung mit Wohlwollen aufgenommen. Die Parteiführung sah sich bestätigt und der Staatsapparat belächelte das Gebaren börsenorientierter Aufsichtsräte, für die Sozialismus immer nur ein Fremdwort war. Der gewaltige Wirbel, der folgte, war mit nichts zu vergleichen. Die DDR dagegen untermauerte ihre Existenz eindrucksvoll.







Seid bereit, immer bereit.  Wie die DDR die BRD wiedervereinte





Inmitten all dieser Vorgänge war Hermann Schreiner damit befasst, seine Briefmarkensammlung zu sortieren. Ein Markensatz aus der Nachkriegszeit wechselte von der Pinzette geführt seinen Sammelort in ein neu angelegtes Album zu jener Zeit. Hermann hatte keine Mühe, doch es kostete ihn etliche Schweißperlen, die empfindlichen Marken unbeschädigt umzusetzen. Mit auf dem Tisch lag die Zeitung ›Neues Deutschland‹, ein Blatt mit dem er normalerweise nichts anfangen konnte, doch hin und wieder las er darin so, als wolle er in Erfahrung bringen, ob mit der Neuverstaatlichung der BRD auch neue Märkte für Philatelisten entstehen. Dabei entging ihm nicht die Polemik des Klassenkampfes, die den Heißhunger des Kapitals auf höhere Profite für beendet erklärte und anzeigte, dass Konzerne keine Zukunft haben. Er erfuhr auch weitreichende Aufklärung über die abwertende Umschreibung Zonengrenze, wie der ehemalige deutsch-deutsche Grenzstreifen genannt wurde. Über vierzig Jahre hatte auf der anderen Seite die BRD regiert. Das war Hermann natürlich bekannt, doch es ging alles so plötzlich. Nicht von ungefähr fühlte er sich angehalten, vorsichtig zu sein. Als gelernter DDR-Bürger argwöhnte er skeptisch was Veränderungen betraf, doch seit Perestroika und Glasnost war auch Neugier im Spiel. Er wollte wissen, wie die deutsche Geschichte weiterging, seit es im Kreml so gewaltig rumort hatte, dass der Bruderkuss aus der Mode kam. Die Interessen der Machthaber ließen keinen Schmusekurs mehr zu, sondern bestimmten über den Fortgang der Ereignisse neu. Damit erlebte die Sowjetunion eine Aufspaltung ihres Territoriums, mit der die Auflösung des Landes verbunden war. Für die DDR, die mit der Wiedervereinigung alles auf einmal riskierte, ziemlich viel für den Anfang. Hermann Schreiner schätzte das mit der Reserviertheit und Zurückhaltung eines Menschen ein, der so etwas aus der Vergangenheit nicht kannte. Raubtierkapitalismus war im Übrigen ein Wort, mit dem er nichts verbinden konnte und so schob er die Zeitung ein Stück von sich.



Der Krawall aus dem Fernseher ging Hermann mächtig auf die Nerven. Er sah sich nur widerwillig die gesendeten Bilder an und konnte sich ihnen doch nicht entziehen. Vor einer Woche hatte der Zentralrat der SED den Abriss der Berliner Mauer beschlossen und seit einer Stunde waren Bagger damit befasst, die ersten Teilstücke zu demontieren. Vor dem Brandenburger Tor protestierte eine Gruppe ehemaliger Abgeordneter des Bundestages gegen diese Maßnahme. Sie wurden aber von den Sicherheitsorganen der DDR zurückgedrängt und in der Ausübung ihres Protestes zurechtgewiesen. Dabei intonierten sie lautstark Parolen, schwenkten Transparente auf denen feindselige Losungen zu lesen waren und beklagten die ausgebliebene Hilfe der Nato. Eigentlich berief man sich auf den Bündnisfall, aber eben nur eigentlich. Hermann mokierte sich über die Dummheit dieser Leute, die doch wissen mussten, dass zwischen der DDR und der Nato ein Nichtangriffspakt bestand. Emsige Diplomaten hatten das Kunststück vollbracht, mit dem westlichen Verteidigungsbündnis einen Separatfrieden auszuhandeln, der den Amerikanern lukrative Geschäfte im Rahmen der Wiedervereinigung zusicherte. Der Ex-Sowjetunion wurden zeitgleich Aufbauhilfen zugesichert, die den Zusammenbruch auffangen und einen Neubeginn unterstützen sollten. Als dann die DDR-Regierung aus Washington die Garantie erhielt, dass von Seiten des westlichen Militärs keine entsprechenden Abwehrmaßnahmen geplant seien, sollte demonstrativ vor dem Brandenburger Tor mit dem Abriss begonnen werden. So geschah es nun auch. Eben da umstanden die Demonstranten eine Baubrigade vom Berliner ›Kombinat für urbane Flächenplanung‹ und machten ihrem Ärger Luft. Hermann fühlte sich ganz scheußlich beunruhigt ob dessen was da zu sehen war, doch die Angst schwand mit dem Vertrauen in die Sicherheitskräfte der DDR. Bald war das erste Teilstück der befremdlichen Mauer abgebrochen, jenes antifaschistischen Schutzwalles, den die DDR einst selbst errichtet hatte. Ironie des Schicksals, dachte Hermann und schaltete die Glotze aus.



In der Wohnungsgenossenschaft ›Friedensglück‹ wohnten fast ausschließlich verdiente Persönlichkeiten der DDR. Überzeugte Antifaschisten, meist Parteiveteranen, die ihr Leben der Sache des Kommunismus gewidmet hatten und für die ein Mann wie Ernst Thälmann ein leuchtendes Vorbild war. Beim Spatenstich zum Baubeginn in den späten fünfziger Jahren war Walther Ulbricht höchst selbst erschienen. Fast so lange wohnte Günther Liebig im Haus, ein altgedienter Parteigänger der SED, inzwischen verwitwet und trotzdem kein Kind von Traurigkeit. Hermann, seines Zeichens erst im Jahr 1993 eingezogen, war für ihn so etwas wie ein Ziehsohn aus der Nachbarschaft, der ihm schon etliche Einkaufstaschen hochgeschleppt hatte, von denen einige schwer zu tragen waren. Dass er noch lebe, habe er ausschließlich dem Hermann zu verdanken, sagte Herr Liebig immer. Mit dieser Übertreibung wollte er weiter nichts als anzeigen, welche Wertschätzung er dem jungen Mann entgegenbrachte. Dieses Lob schmeichelte Hermann in seiner Bescheidenheit, ja es beschämte ihn fast ein wenig. Er hatte ja noch Liebigs Frau Gertrud und ihre zupackende Art erlebt und die nimmermüde Kraft, mit der sie im Haushalt schaltete und waltete. Die beiden waren ein Paar, seit sie sich Mitte der dreißiger Jahre kennengelernt hatten. In einem Sommerlager für Jungkommunisten inmitten der Schorfheide, da wo früher ein Teil der Parteiprominenz eine Datsche zu haben pflegte und ein gewisser Herr Honecker viele Jahre der Jagd auf Hirsche und Wildschweine nachgegangen war. Dort hatte die Liebe zwischen Gertrud und Günther ihren Anfang genommen. Nun war Herr Liebig Ende achtzig, fast so aufmerksam und pfiffig wie in jungen Jahren und manchmal von einer Zufriedenheit erfüllt, wie man sie von ihm nicht kannte. Seitdem die politischen Ereignisse zum Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus geführt hatten, bemerkte man diese Verwandlung immer mal wieder mit. Das ließ den alten Arbeitersohn sämtliche Gebrechen des Alters vergessen. Seine Hingabe an den Frühsport markierte jeden Morgen die Lebenslust, mit der er darauf reagierte. Natürlich sprachen Hermann und er nun viel öfter über die Ereignisse. Dabei urteilten beide unterschiedlich. Während Günther Liebig eine gesund-optimistische Haltung an den Tag legte, hielt Hermann sich noch bedeckt.

 



Mit dem Abzug der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR wurde ein weiteres Kapitel der Nachkriegsgeschichte beendet. Die Wiedervereinigung, nicht unwesentlich beeinflusst vom Geschehen in der ehemaligen Sowjetunion, hatte diesen Schritt schon fast herausgefordert. Vor ein paar Jahren und einem Machtkampf voller Gefahren war die westliche Allianz als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorgegangen. Da hatte es auch die BRD noch gegeben. Glücklicherweise schlug die Regierung der DDR daraus Kapital und nutzte die weltpolitische Windflaute, um sich mehr Souveränität und Sicherheit anzueignen. Die Bevölkerung hielt an der Beobachtung der Ereignisse aufmerksam fest. Sie ließ keine Zeit verstreichen, verlegte sich aufs Abwarten, noch skeptisch aber schon am Ablauf interessiert. Ungefähr so wie jemand, der die Vergangenheit loswerden wollte und es plötzlich auf einen vollkommenen Wandel ankommen ließ. Unter die Anteilnahme mischte sich vielfach Neugier, dass unstillbare Verlangen nach Teilhabe, um sich vielleicht selbst mehr einzubringen als zunächst gedacht oder angenommen. Auch Ostberlin bildete da keine Ausnahme, sondern teilte den Geist der Zeit. Es war nicht das erste Mal, dass sich viele Menschen in der Stadt versammelten, aber anders als je zuvor. Neugierige Westberliner kamen über die Grenze, die keine mehr war, sondern Gegenstand eines historischen Irrtums infolge einer fehlgeleiteten Nachkriegspolitik. Ihr Auftreten gegenüber den Sicherheitskräften im Uniformrock war ausgesprochen höflich. Sie machten die Grenzsoldaten der DDR freundlich darauf aufmerksam, nicht gleich die ständige Vertretung der BRD in Ostberlin zu informieren, die ja längst über alles Bescheid wusste. Das waren Vorgänge von einer Tragweite, wie sie ein Jahrzehnt zuvor möglicherweise noch zu einem atomaren Konflikt und damit zum Ende der Menschheit geführt hätten. Die damalige Friedensbewegung reagierte auf das Wettrüsten ausgelöst durch den Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung neuer Raketen auf dem Gebiet der BRD, nachgerade so, dass ein Atomkrieg bedrohlich realistisch erschien. Nunmehr waren diese Raketen Teil einer Altlast, die zur Beseitigung stand. Auch der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war eine Altlast, die alle Anstrengungen unternahm, die Wiedervereinigung zu boykottieren und das drohende Ende abzuwenden. Freilich ohne Erfolg.



Hermann hatte das Treppenhaus gewischt. Das war kein neusozialistisches Gebaren, sondern eine Pflicht, die einmal im Monat mietvertraglich auf dem Programm stand. Die Altneubauten dieser Generation hatten erfreulich kleine Treppen und Stufen. Einen Reinigungsservice, wie er andernorts schon üblich war, gab es bei der Genossenschaft nicht. Hinter den Wohnungstüren herrschte Stille. Auch aus der Wohnung von Frau Lutze, mit Vornamen Annegret, war nichts zu hören. Oft war es vorgekommen, dass sie plötzlich aus der Wohnung trat und ebenso deutliche wie ungestüme Bemerkungen gegen den westlichen Nachbarn, die Bundesrepublik, richtete. Ein Land, das nach ihrem Verständnis für eine permanente Bedrohung stand. Mannigfaltig waren die Anschuldigungen, die sie dabei verbal intonierte und ziemlich schonungslos die Wortwahl, derer sie sich bediente. Man konnte darüber glattweg vergessen, wie gebildet und kultiviert sie war. Frau Lutze wusste Hermann, war eine Verfolgte des Nationalsozialismus, die im Dritten Reich wegen aktiver politischer Tätigkeit für die Kommunisten fünf Jahre im KZ gesessen hatte. Geschunden und gequält von den Nazischergen, wie sie zu sagen pflegte. Die Annegret, wie Herr Liebig sie liebevoll beim Vornamen nannte, sei eine gute Seele, doch die BRD war für sie immer gleichbedeutend mit Adolfs NSDAP-geführtem Deutschland. Bei Wasser und Brot und Entbehrungen, wie sie sich kein Mensch vorstellen kann, habe sie unter Zwang die schlimmsten Arbeiten verrichten müssen und für ihre politischen Überzeugungen einen hohen Preis gezahlt. Das Nachkriegsdeutschland des Westens war für sie die Fortsetzung von Nazideutschland mit geringfügigen Änderungen. Diese Übertreibung hatte sie verinnerlicht wie die Narben auf ihrer Seele. Sie überhaupt noch lebend anzutreffen grenze an ein Wunder, so sagte Günther Liebig stets, wenn die Rede auf sie und ihr Schicksal kam. Immer wieder habe man sie bei ihrem Leben bedroht und immer wieder sei sie standhaft geblieben. Die Frage nach einer späten Gerechtigkeit bejahte sie mit der Begründung, dass sie in der DDR ein glückliches Leben leben durfte und dieses Land ihr die größte Freude sei. Nun war Hermann fast ein bisschen in Sorge ob der Stille, die hinter Frau Lutzes Wohnungstür herrschte. Bestimmt hat sie wieder die Kopfhörer auf und ist vor dem Fernseher eingeschlafen, dachte er.



Die neudeutsche Wirklichkeit offenbarte sich an jeder Straßenecke. Das sächsische Kleinstadtprofil von Hermann Schreiners Wohnort machte da keine Ausnahme. Auch hier bahnten sich Veränderungen an, wie sie das Land im Zuge der Wiedervereinigung erlebte. An den Ausläufern des Erzgebirges gelegen und nur einen Steinwurf von Karl-Marx-Stadt entfernt, lebte sie vom Tourismus und Holzhandel. ›Beschaulich eingebettet ins Erzgebirgsvorland‹ lautete eine Umschreibung, wie sie in jedem Reiseführer zu den Besonderheiten der Region zu finden war. Hermann sah sich da ein wenig abseits der allgemeinen Lesart, denn er verband seine Heimatstadt vor allem mit seiner Passion als Briefmarkensammler und Gelegenheitswanderer. Seine ausgeprägte Leidenschaft verfiel oft in den Stand einer lebensbegleitenden Notwendigkeit, ohne die sein Tun keinen Sinn hatte. In Anbetracht der Umstände jedoch spiegelte sich wider, was Hermann Schreiner und viele andere dazu brachte, ganz genau hinzusehen. Hier und da und unübersehbar nahm der Wandel im städtischen Stadtbild schnell konkrete Formen an. Plötzlich gelangten Westwaren in den Osten, die Hermann bis dahin nur aus der Werbung kannte. Die DDR-Regierung hatte den großen Handelsketten aus der Bundesrepublik eine Beteiligung am Staatsmonopol der freien Wettbewerbspolitik zugesprochen und sie in die Lage versetzt, ihr Handelsgebiet auf das Territorium jenseits der ehemaligen Grenze auszudehnen. Eine Offerte, die einen regelrechten Begeisterungssturm bei den Großhändlern im ehemaligen Westen ausübte. Lediglich fünf Prozent des monatlichen Nettogewinns waren an die Adresse des Staatshaushaltes abzuführen und galten somit als Gewinnbeteiligung der DDR. Ein Geschäft, das sofort Schule machte. Wenn also ein Aldi-Laster durch den Ort fuhr oder ein Rewe-Truck mal wieder die viel zu engen Durchfahrtsstraßen versperrte, war das ein sicheres Zeichen des politischen und wirtschaftlichen Triumphes der sozialistischen Staats- und Parteiführung. Selbst Günther Liebig hatte sich inzwischen bekehren lassen und Artikel in seinen Haushalt aufgenommen, die Hermann ihm gelegentlich vom Einkauf mitbrachte. Ihr Beispiel machte Schule und so wunderte es nicht, dass selbst in der Wohnungsgenossenschaft ›Friedensglück‹ bald vermehrt Westwaren auf den Einkaufszetteln vorzufinden waren.



Im Plenar- und Tagungssaal der Volkskammer im Palast der Republik stimmten die Abgeordneten ›Die Internationale‹ an. Der riesige Saal mit seiner ausgeklügelten Akustik widerhallte vom Gesang der vielen hundert Stimmen. Mit der Unterzeichnung des Vertrages zur Wiedervereinigung seitens beider deutscher Staaten und der Anerkennung der DDR als rechtmäßiger Nachfolger der BRD sowie nunmehrigem Souverän auf gesamtdeutschem Territorium war die Hoheitsfrage zur Übernahme der Bundesrepublik geklärt. Sektgläser wurden gereicht, gegenseitiges Händeschütteln machte die Runde, Jubel brandete durch die Reihen der Anwesenden und stellenweise sah man geballte Fäuste in die Höhe ragen. Die Nationalhymne folgte überzeugend vorgetragen im machtvollen Chorus und man brachte Hochrufe auf die Gründungsväter der DDR aus. In einem festlichen Reigen feierte man den Beginn eines neuen Zeitalters, eines Zeitalters sozialer Gerechtigkeit und friedlicher Koexistenz mit den Staaten der Europäischen Union und der Nato. Die altehrwürdige Freundschaft zur Sowjetunion war einem Freundschaftspakt mit Russland gewichen, das, obwohl es die klassischen Blöcke und das Gleichgewicht des Kalten Krieges nicht mehr gab, neben den USA auch weiterhin als zweites politisches Schwergewicht auf der internationalen Bühne agierte. Man hatte sich ganz bewusst für diesen Weg entschieden, damit die bilateralen Beziehungen keinen Abbruch nahmen und mehr als vierzig Jahre teils sehr wechselvoller Nachkriegsgeschichte eine gemeinsame Zukunft haben. Unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin, der ›Heiligen Trinität der Sozialisten‹ wie man scherzeshalber zu sagen pflegte, erblühte ein neuer Zeitgeist und wie die Aktivisten von einst zeigte man sich entschlossen und gewillt, die historische Chance aufzunehmen und der weltpolitischen Mission gerecht zu werden, die mit der Wiedervereinigung verbunden war. Das, was lange Zeit als vollkommen unmöglich galt, wurde mit diesem Tag Lügen gestraft. Dazu gehörte auch, dass ›Der schwarze Kanal‹ keine Zukunft hatte, denn das Format der Sendung hatte ausgedient und wurde ersatzlos gestrichen. Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR und jetzige Alterspräsident der Volkskammer Erich Honecker sah sein politisches Lebenswerk gefährdet. Die Tatsache, nicht mehr Generalsekretär zu sein verstimmte ihn mehr als ein wenig, doch er arrangierte sich weitestgehend kritiklos. Seine politische Distanz nahm damit zu und offenbarte gelegentlich Abgründe. Als Alterspräsident der Volkskammer fühlte er sich dennoch recht wohl.



Hermann begleitete Günther Liebig auf dem Weg zum Einkauf in der ›HO‹, was als Kürzel für ›Handelsorganisation‹ stand. Herr Liebig brauchte Brot, Milch und Butter, – allesamt Lebensmittel, die seit Jahrzehnten extrem preisgünstig waren, weil sie vom Staat subventioniert wurden. Eine Errungenschaft des Sozialismus, wie Herr Liebig es zu nennen pflegte und ein Ausdruck der Wertschätzung des Volkes zum Wohle des Staates. Hermann half dem alten Herrn beim Einkauf, trotzdem dieser noch gut auf den Beinen war, was sich in seiner fußläufigen Geschwindigkeit widerspiegelte. So sah man sie nebeneinander die Straße hinuntergehen, dabei manchmal andere Passanten grüßen. Beiden entging nicht, dass der Delikat-Laden, der eine lange Tradition aufzuweisen hatte und als Tempel der Privilegierten galt, vor der Schließung stand. Herr Liebig hatte dort oft eingekauft, wenn es etwas zu feiern gab. Sein Verdienst als Werkzeugmaschinist und späterer Ingenieur für maschinelle Verfahrenstechnologie machte es möglich, zumal seit er als Verfolgter des Faschismus und Parteimitglied auch eine Zusatzrente erhielt. Seit der Grenzöffnung allerdings gab es Krimsekt, Bananen und Cognac der Marke Dujardin fast überall zu kaufen. Günther und Hermann war die ›HO‹ eh das Liebste, um die Einkäufe zu erledigen, zumal Gertrud Liebig für die Handelsorganisation gearbeitete hatte und die Angestellten dort immer besonders freundlich und zuvorkommend auf Herrn Liebig eingingen. Hermann sonnte sich dann in Günther Liebigs Glanz, der vielen zu Unrecht als Systemkritiker galt, weil er ganz öffentlich auf die Risiken der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit hinwies, die angetan war, sozialistische Werte zu torpedieren, wie er es in seinem Sprachgebrauch zu nennen pflegte. Auf die warnenden Worte achtete zumeist nur der Sekretär der SED-Bezirksleitung, der von Amtswegen dazu verpflichtet war und sorgfältig darüber wachte, mögliche Schäden am sozialistischen Gemeingut zu vermeiden. Hermann Schreiner und die anderen nahmen das mit Gelassenheit auf. Sie verwiesen den Kritiker Liebig liebevoll auf das Prinzip des freien Handels, wie es im Einigungsvertrag geschrieben stand und dankten ihm im selben Atemzug für seine selbstlose Agitation zum Schutz des Sozialismus. Günther dachte dann immer an Gertrud, um Rat suchend bei seiner verstorbenen Ehefrau. Ihre alten Kolleginnen halfen ihm über den Verlust hinweg und trösteten ihn so gut es ging. Am Ende des Einkaufs war Herr Liebig dann meist zufrieden, auch weil Hermann ihn mal wieder gut unterstützt hatte.



Eine Gruppe Thälmannpioniere mit roten Halstüchern zog die Straße unterhalb des Wohnblocks der Genossenschaft ›Friedensglück‹ entlang. Sie klingelten an und fragten, ob jemand Hilfe braucht. Annegret Lutze, die normalerweise einmal die Woche Wirtschaftshilfe erhielt, reagierte unentschlossen auf das Angebot. Andere Mieter im Block kamen gern auf die Initiative der Pioniere zurück und waren voll des Lobes ob dieser. Frau Lutze entschied sich letztlich doch dagegen. Sie wusste, dass sie in dringenden Fällen stets den Hermann bemühen durfte, weil sie dann immer noch jemanden hatte, mit dem sie eine Tasse Kaffee trinken konnte. Diese Annehmlichkeit wusste sie zu schätzen und so spendierte sie den Thälmannpionieren zwei Tafeln Schokolade und bedankte sich höflich. Als Frau Lutze die Wohnungstür geschlossen hatte, blickte sie auf ein Regal voller Auszeichnungen und Ehrenurkunden an der Wand. Sie war mehrfache Aktivistin, verdiente Leiterin des sozialistischen Kollektivs, Botschafterin des Friedens und sogar Trägerin des Vaterländischen Verdienstordens in Silber. Diese hohe Auszeichnung hatte sie für ihr unermüdliches Wirken zur Stärkung des Sozialismus in der DDR erhalten. Von ihrem selbstlosen Einsatz als Trümmerfrau bis hin zur leitenden Angestellten der Stadt Karl-Marx-Stadt waren es lange, harte Jahre voller Entbehrungen. Das war es auch, was ihr ständiges Misstrauen ausmachte, da sie nicht zu der Ruhe finden konnte, die anderen Sicherheit gab. Ein Gruppenfoto vom Betriebsausflug zeigte sie inmitten ihres Kollektivs vor dem ›Nischel‹, wie die honorige Titulierung der Kolossalbüste von Karl Marx im Stadtzentrum liebevoll lautete. Seitdem waren ein paar Jahre ins Land gegangen und neben Herrn Liebig und wenigen anderen Mietern zählte sie zu den Ältesten im Block. Die neue Zeit empfand sie, wenn schon nicht als Bedrohung, so doch als Gefahr. Ihr Vertrauen in die Führung und ihre politische Orientierung seit dem großen Triumph über den Klassenfeind verband sie mit wechselvoller Sympathie. Sie wusste nur zu gut, wieviel Kraft die Auferstehung aus Ruinen gekostet hatte und argwöhnte bezüglich der Hinterlist der Kapitalisten jeden Tag, was die Entwicklung des Landes anbetraf. Doch sie fand auch Trost bei Männern wie dem ortsansässigen Sekretär der SED-Bezirksleitung, zu dem sie einen direkten Draht hatte. Auch Hermann zerstreute ihre Skepsis, vor allem mit dem Argument, dass die Währungsreform abgeschlossen sei.

 



Die Mark der DDR war nun das landesweite Zahlungsmittel. Viele Milliarden mussten neu gedruckt werden, um sechzig Millionen ehemalige Bundesbürger mit Geld zu versorgen. Aufgrund der Vermögenslage besonders wohlhabender Kreise und auch aus Gründen der monetären Gesamtsituation, wurden zusätzlich eine 200- und eine 500 DDR-Mark Banknote eingeführt. Vor diesem Hintergrund gab es mancherorts einen Ansturm auf Verkaufseinrichtungen und Warenhäuser in den östlich gelegenen Großstädten der neuen sozialistisch-demokratisch legitimierten Republik. Tausendfach kamen in Scharen ehemalige Bundesbürger aus Westberlin und den alten Bundesländern, um sich dem Konsumrausch in Städten wie Leipzig, Magdeburg, Berlin und eben auch Karl-Marx-Stadt hinzugeben. Es bedurfte keiner Einladung, sie zu mobilisieren, um in den innerstädtischen Kaufhäusern der Konsumlust zu frönen. Sie hatten das meiste Geld gemessen an dem, was einem Arbeiter zur Verfügung stand. Einen Plan zur Umverteilung von Vermögenswerten oder gar einer Enteignung wie sie nach dem Krieg stattgefunden hatte, gab es nicht. Auch durften keine Ansprüche auf ehemaligen Privatbesitz geltend gemacht werden, denn solcher war als sozialistisches Eigentum Staatseigentum und galt damit als unantastbar. Mit dieser Entscheidung sollten die Besitzstände vorab eine eindeutige Regelung erfahren, denn sie gestand Erzkapitalisten die Sicherheit ihres Besitztandes zu, garantierte aber gleichzeitig Hoheitsrechte der DDR, die den zuständigen Organen Handlungsfreiheit bis hin zur Anwendung von Gewalt sicherte. Das war ein Akt der Notwendigkeit zur Absicherung des geltenden Rechts. Und es war ein Kompromiss, der ein weiteres Kapitel diplomatischer Erfolgsgeschichte bedeutete, dass die Unterhändler der DDR am Verhandlungstisch durchsetzen konnten. Neuzeitliche Demokratie hieß auch, dass man die 200 Mark-Note zu Ehren von Willy Brandt mit seinem Konterfei versah und auf dem 500 Mark-Schein die überparteiliche und neutrale, weil von Genialität getragene Forschermiene des Albert Einstein erschien. ›Der Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, wie ihn Alexander Dubcek einst genannt hatte, begann zu reifen, auch da wo Sterne über Autohäusern aufgingen oder alte Stahlbarone ihr Süppchen kochten. Gerade in der Stadt, die zu Ehren von Karl Marx seinen Namen trug und Kunstfasern wie ›Malimo‹ und ›Dederon‹ der Textilindustrie das Überleben gesichert hatten, erlebte man das hautnah mit, denn mit der Konsumwanderung von West nach Ost gelangten auch neue Unternehmenspläne zur Praxisreife. Gleich nebenan, da wo Hermann Schreiner vom Tag seiner Geburt an zu Hause war, geschah Gleiches nur in kleinerem Maßstab.



Günther Liebig konnte es nicht fassen, 500 Mark der Deutschen Demokratischen Republik in den Händen zu halten. Sein Leben lang war er ein sparsamer Mann gewesen und nun das! Einsteins Forschermiene schaute vielfragend skeptisch drein und auch einen Hauch von melancholisch verklärter Allwissenheit glaubte Herr Liebig darin zu entdecken. Das Gewohnheitsprinzip, mit der man einen 20 oder 50 Mark-Schein aus der Geldbörse nahm, wurde hier außer Kraft gesetzt. Herr Liebig hatte sich diesen Schein auf Wunsch bei seiner Bank auszahlen lassen, um nur einmal im Besitz eines solchen zu sein. Er feierte im Stillen und freute sich wie ein Schuljunge. Das sein Vaterland, dem er seinen Stand, seine Karriere und sein Lebensglück zu verdanken hatte, es jetzt verantworten konnte, so eine werthohe Banknote zu drucken, grenzte für ihn schlichtweg an ein Wunder. Mehrfach war er im Wohnzimmer auf und abgewandert, den Geldschein vor sich hertragend, ihn dabei immer wieder hochhaltend, als würde er tatsächlich den Heiligen Gral vor sich haben. Es wäre wohl vermessen, fand Günther Liebig, dieses vermeintliche Stück Papier wie einen Schatz zu feiern, doch der besondere Moment war eigentlich nur vergleichbar mit dem Tag, als er es sich das erste Mal leisten konnte, im ›Delikat‹ einzukaufen. Seine nüchterne Weltsicht und seine Definition von Vernunft gaben ihm aber auch zu verstehen, dass es sich nur um Geld handelte. Hier im ›Friedensglück‹ wollte er sich weder durch Raffgier noch durch Prahlerei neu definieren, schon gar nicht auf seine alten Tage und er glaubte zu wissen, warum. Liebig verstand seinen Reichtum aus Sicht eines Arbeiters, der auf ein erfülltes Leben zurückblickte und eben gerade jetzt wusste er um die Bedeutung seiner Herkunft und seines Standes nur allzu gut Bescheid. Und als er sich gesetzt hatte, folgte auf die Einsicht die Ruhe. Aus Einsteins Konterfei erwuchs mehr als eine Summe. Die altehrwürdige DDR würde schon damit zurechtkommen, dass er den neuen Reichtum in Frage stellte und es dennoch als Triumph ansah, was sich innerhalb kürzester Zeit ereignet hatte. So demonstrativ in Schwarz gekleidet, wie sich die Abgeordneten des Bundestages zu ihrer letzten Sitzung versammelt hatten, käme es nun darauf an, dass die DDR nicht am Besitzdenken scheitert und dem Kapital seine Grenzen aufgezeigt werden. Ein guter Kaffee machte dem alten Günther Liebig bewusst, wie wichtig das war.



Die Bundesrepublik Deutschland war Geschichte. Nach über vierzig Jahren ihres Bestehens hatte sie aufgehört zu existieren. Im Kanzleramt oder dem was davon übrig war herrschte Trauerstimmung. Der ehemalige Kanzler und seine Minister saßen ratlos zusammen und haderten mit ihrem Schicksal. Das Geschehene zu begreifen, grenzte für sie an eine Laune des Schicksals. Von ihren Gesichtern war abzulesen, was sie dachten und fühlten und mit der Verdrossenheit machte Müdigkeit die Runde. An der ehemaligen innerdeutschen Grenze wurden von den Sicherheitskräften der DDR die Grenzschutzanlagen abgebaut, in Berlin wurde stückweise die Mauer demontiert und aus Moskau und Washington erhielten die Sozialisten auch noch Unterstützung. Das war zweifellos eine friedliche Revolution, so wie sie von allen Seiten angepriesen wurde, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Der Bundeskanzler und sein Stab hatten eigentlich andere Pläne gehabt, die politisch nicht minder motiviert angelegt waren, doch dieser windige Spion im Kanzleramt hatte mit seinen Aktivitäten hochbrisantes Geheimmaterial ausspioniert und an die Genossen nach Ostberlin geliefert. Zwar hatte Erich Honecker nicht die Schalmei aus dem Geschenkefundus gekramt, was manch anderer getan hätte, um wie ein Triumphator den politischen Coup offenkundig zu machen. Dazu war es dank der Vernunft und im Interesse der Beibehaltung des internationalen Friedens dann doch nicht gekommen. Trotzdem rumorte es im politischen Gedärm ganz gewaltig und ein paar Etagen weiter oben, da wo der politische Verstand an der Bewältigung des Fiaskos zu knabbern hatte, verweigerte sich den Herren auf der Suche nach dem politischen Neubeginn der Erfolg. Der Kanzle