Schaurige Geschichten aus Berlin

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Schaurige Geschichten aus Berlin
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Jan Eik

Schaurige Geschichten aus Berlin

Die dunklen Geheimnisse der Stadt

Jaron Verlag

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe

1. Auflage dieser Ausgabe 2013

© 2003–2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung einer historischen Abbildung (Flugblatt zur Hinrichtung des »Hofjuden« Lippold, 1573, Ausschnitt)

ISBN 9783955521820

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort zur Neuausgabe

Rund um die Marienkirche

Die Hohenzollern und ihr Schlossgespenst

Aufruhr, Brände und andere Katastrophen

Huren, Hexen, Zauberer

Strafe muss sein

Gerechtigkeit ist ein schön’ Ding

Willkür gegenüber den Juden

Henkergeschichten

Friedhofs- und Grabgeschichten

Verrufene Orte

Aus gutem Hause

Berliner Polizeigeschichten

Berlins organisierte Unterwelt

Geschichten aus dem Untergrund

Eine schaurige Bilanz: Politische Verbrechen

Literatur

Personenregister

Vorwort zur Neuausgabe

Berlin ist sicherlich keine üblere Großstadt als andere Metropolen dieser Welt. Und trotz der Unmenschlichkeit der NS-Zeit gelten noch immer die »Goldenen Zwanziger« als Gradmesser für die dunklen Seiten der Stadt. Wer heute jedoch nach dem Berliner Verbrecherviertel sucht, »das sich zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Bahnhof erstreckt«, wie Hardy Worm 1924 berichtete, erlebt eine herbe Enttäuschung. Dort langweilt eine der eintönigsten Gegenden der Stadt, gesichts- und kneipenlos, von Auto-Pisten zerschnitten und begrenzt.

Wo Berlin gegenwärtig schaurig ist, mag der Mutige selbst herausfinden. Wir wenden uns nach der guten alten Zeit, als es in der Stadt angeblich noch »richtich jemietlich zujing«, auch den schwerlich zu übertreffenden Schrecknissen des 20. Jahrhunderts zu. Versprochen ist ein Ausflug an die schaurigen Orte einer barbarischen Justiz, der Unruhen und der Katastrophen, die Berlin erschütterten, wo leicht zu erregende Bürger und despotische Fürsten, Hexen, Huren, Henker, stöhnende Mönche, weiße Frauen, Brandstifter, attentäterische Bürgermeister, pädophile Konditormeister und Polizeipräsidenten mancherlei Couleur neben gewöhnlichen und politischen Verbrechern, Tunnelgangstern und Serienmördern zu Hause waren und sind.

Der Verfasser hat wie alle seine Vorgänger aus alten und neueren Quellen geschöpft, die er der bildhaften Sprache wegen gerne zitiert. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie die eine oder andere Geschichte in abweichender Fassung lesen oder gehört haben. Für manches gilt ohnehin der alte Berliner Spruch: »Wer’t jloobt, wird selich, wer’t nich jloobt, kommt ooch in’ Himmel.«

Dass die »Schaurigen Geschichten« zehn Jahre nach der Erstauflage und fünf nach einer erweiterten Fassung neu erscheinen, verdankt der erfreute Autor ausschließlich dem anhaltenden Interesse der Leser, die wahrscheinlich gerne erfahren, dass es in Berlin schon immer so zuging, wie es eben zugeht.

Rund um die Marienkirche

Totentanz und Sühnekreuz

Die Berliner gelten von jeher als ein unruhiges und unzufriedenes Volk. Sie selber behaupten natürlich, dass erst die Zugewanderten Unruhe in die teils sandige, teils sumpfige Wüstenei der Schwesterstädte Berlin und Cölln brachten. Andererseits – was wäre aus Berlin (die Insel Cölln immer einbezogen) ohne die Neuankömmlinge aus allen Teilen des Reiches, aus Holland, Frankreich und der Schweiz, aus Polen, Litauen und Böhmen geworden? Nichts. Nicht einmal eine Millionenstadt – und die war Berlin schon am Ende des 19. Jahrhunderts – reproduziert ihre Einwohnerschaft aus eigenen Ressourcen. Wer weiß heute noch, dass um 1860 zu den 19 Millionen Preußen auch 2,5 Millionen Einwohner nichtdeutscher Nationalität zählten? Daran mussten sich die Berliner gewöhnen, die den wendischen Ureinwohnern der umgebenden Mark nicht einmal das Bürgerrecht eingeräumt hatten. Bürger konnte nur werden, wer zum städtischen deutschen, zum Teil adligen Patriziat und – eine Stufe niedriger – zu den Handwerksmeistern, Kaufleuten und anderen Besserverdienenden gehörte.

Auf jeden Fall waren die alten Berliner fromm und gottesfürchtig. Beides wiederum nicht allzu sehr. Fromm genug immerhin, um zu Ehren Gottes hohe Kirchen zu bauen, viel höher als jedes bürgerliche oder adlige Haus und vollständig aus Stein, während man selber in hölzernen oder Lehmfachwerk-Bauten hauste. Von diesen zumindest in hygienischer Hinsicht wahrhaft schaurigen Baulichkeiten ist keine mehr zu finden in der Stadt. Die Kirchen aber stehen noch, soweit sie nicht durch Feuers- oder Kriegsbrunst und Abriss vernichtet wurden, wie mehrfach die Cöllnische Petrikirche, über deren Standort und einstigen Kirchhof sich heute der Verkehr zwischen Mühlendamm und Gertraudenbrücke zehnspurig ergießt. Aber das soll sich – wie so vieles in Berlin – bald wieder ändern.

Fliegende Baumeister und Chorknaben

Die ältesten Berliner Kirchen sind die Nikolai- und die Marienkirche. In der Marienkirche entdeckte man 1860 eine Wandmalerei aus der Pestzeit um 1485, einen 22 Meter langen Totentanz. Seltsamerweise aber erinnern die Berliner Sagen und Geschichten, die sich um das Bauwerk ranken, mit keinem Wort an diesen schaurigen Zug, sondern vielmehr an das unscheinbare Steinkreuz, das links neben dem Eingang der Kirche steht. Da soll beispielsweise ein braver Dachdecker abgestürzt sein, an den das Kreuz erinnert. Vielleicht aber auch an den Baumeister, der sich mit dem Teufel einließ, um diese besonders schöne Kirche zu errichten. Als Beelzebub sich am Tag der Fertigstellung die versprochene Seele abholen wollte, stand der Baumeister auf dem Turm und sprach ein Dankgebet. Da verlor der Teufel seine Macht über ihn und stieß ihn voller Wut vom Turm. Ein Windstoß erfasste jedoch seinen weiten Mantel, so dass er sanft herabschwebte und unverletzt unten ankam. Zum Dank ließ er das Kreuz errichten.

Dieses Kreuz beschäftigte die Berliner in geradezu verdächtiger Weise; als Grund für seine Errichtung wurden vielerlei Geschichten erfunden, in denen der Teufelspakt des Baumeisters häufig eine Rolle spielt. Nach einer anderen, zumindest in der Einleitung recht realistischen Version soll der Meister die Baugelder beim Kartenspiel verloren und deshalb den Pakt geschlossen haben. Der Teufel gab ihm das Geld unter der Bedingung, dass ein absichtlicher Fehler beim Bau der Gewölbe am Einweihungstag zu deren Zusammensturz führe. Der Baumeister, oberschlau wie manche Leute sich nun einmal dünken, wollte den Teufel übers Ohr hauen und vermied jeden Fehler. Satanas lauerte ihm nach der Einweihung hinter dem Kirchenportal auf, griff sich den Wortbrüchigen und drehte ihm den Hals um. Zum Andenken an den getreuen Baumeister stifteten die dankbaren Berliner das Kreuz.

Oder geht es doch gar nicht um den Baumeister? Vielleicht gilt das Kreuz dem Zinkenbläser, der am ersten Sonntag nach der Vollendung der Kirche auf den Turm stieg und dort oben ein Lied zur Ehre Gottes blies. Den Teufel ärgerte das fromme Lied so sehr, dass er den Musikanten vom Turm stieß. Da blähte ein Windstoß dessen Mantel auf … Den Rest kennen wir vom Baumeister.

Von besonderem Einfallsreichtum zeugt die Fassung mit den drei hungrigen Chorknaben, die aus ganz irdischen Gründen auf den Turm stiegen, um Krähen- oder Dohlennester auszunehmen. Sie legten ein Brett aus der Turmluke, auf dem der eine mit einem Körbchen hinauskroch, während die beiden anderen als Gegengewicht im Turm hockten.

Die Eiersammlung muss sich gelohnt haben, denn unversehens gerieten die drei in Streit über die Aufteilung der Beute. Der mutige Eierdieb beanspruchte die Hälfte, die Bretthalter verlangten je ein Drittel, und um ihre Macht zu demonstrieren, sprangen sie vom Brett. Der aushäusige Knabe stürzte samt Brett in die Tiefe, segelte aber dank seines weiten Chorhemdes so sanft zu Boden, dass nicht einmal die Eier im Körbchen Schaden nahmen.

 

So weit die Sagen um das Steinkreuz. In Wahrheit hatten die alten Berliner mehr zu verstecken, als unter das Mäntelchen eines nesträuberischen Chorknaben passt. Im 14. Jahrhundert dräute der Kirchenbann über der Stadt, und daran waren deren ach so fromme Bewohner ausnahmsweise selber schuld. Zwischen den Einwohnern der Doppelstadt und ihren geistlichen Herren und Hirten bestand nie ein besonders inniges Verhältnis, die Berliner (die Cöllner immer stillschweigend eingeschlossen) hassten »der Pfaffen Gierigkeit und Unkeuschheit« und liefen nicht von ungefähr 200 Jahre später spornstreichs zu Luther über.

Propst Nikolaus

Das Ereignis, von dem das schlichte Steinkreuz neben dem Kirchenportal noch heute zeugt, hatte für damalige Verhältnisse einen weltpolitischen Hintergrund. Die in jenen Jahren im Babylonischen Exil in Avignon residierenden Päpste mischten sich schon damals gerne in die deutsche Innenpolitik ein und versuchten, Könige und Kaiser nach ihrem Gusto einzusetzen. Jakob de Oza, der sich 1316 selbst zum Papst Johannes XXII. ernannt hatte, wollte Friedrich den Schönen aus dem Hause Österreich zum deutschen König machen, während die deutschen Fürsten und die Bürger in den Städten den späteren Kaiser Ludwig von Bayern bevorzugten. Ludwig belehnte nach dem Tod des letzten askanischen Markgrafen Woldemar seinen achtjährigen Sohn mit der herrenlosen Mark Brandenburg. Der Heilige Vater hingegen sprach die Mark, die ihm nicht gehörte, dem Herzog Rudolf von Sachsen zu und verbot bei Androhung des Kirchenbanns allen märkischen Untertanen, einem anderen Landesherrn zu gehorchen. Der Berliner Rat ergab sich 1321 wahrscheinlich nicht ganz freiwillig dem mit den Askaniern verwandten Rudolf, »dem aber ein großer Teil der Bürgerschaft nicht geneigt gewesen zu sein scheint«.

Der Papst beließ es nicht bei drohenden Worten, sondern schickte 1325 den als Königshasser bekannten Bischof Stephan von Lebus zusammen mit Propst Nikolaus Cyriakus von Bernau zum Polenkönig, um ihn zu überreden, in die Neumark einzufallen, was der brave Katholik prompt tat. Als Propst Nikolaus anschließend seinen Berliner Amtsbruder Propst Eberhard besuchte, war er darauf aus, auch den Berliner Rat im Sinne der Kirche und gegen das markgräfliche Kind Ludwig zu beeinflussen. Derlei Einmischung schätzten die Berliner nicht. Als Nikolaus sich in einer donnernden Predigt in der Marienkirche auch noch drohend für die Zahlung des Peterspfennigs starkmachte, lehnte er sich, wie man heute sagen würde, entschieden zu weit aus dem Fenster. Gleich nach der Predigt fielen die aufgebrachten Pfarrkinder mit Knüppeln über ihn her, erschlugen ihn auf der Stelle und verbrannten den Leichnam vor der Kirche auf dem Neuen Markt.

Berlin und Cölln hatten durch den daraufhin vom Magdeburger Erzbischof verhängten Bann »viel Verdrießlichkeit und Kosten zu erleiden«: Die Glocken verstummten, und die Kirchen blieben geschlossen, es fanden keine Taufen und Eheschließungen statt, den Sterbenden blieb die Letzte Ölung versagt. Da auch der Umgang mit den Gebannten verboten war und viele Kaufleute die Städte mieden, stockten Handel und Gewerbe. Nur die grauen Franziskaner in ihrem Berliner Kloster fügten sich nicht dem erzbischöflichen Interdikt, »dessen sich die Geistlichkeit, besonders der Bischof von Brandenburg bediente, die Städte auf schändlichste Art ums Geld zu bringen«. Der Bischof nahm 750 Mark Silber als Buße entgegen, verzettelte aber unter dem Vorwand, eine päpstliche Bulle wäre notwendig, die Sache bis 1345, indem er alle Bürger einzeln nach Brandenburg zitieren und jeden für die Absolution bezahlen ließ. Erst nachdem der Propst Gerwin zu Bernau und der Bruder des Erschlagenen mit beträchtlichen Summen abgefunden waren, erteilte er endlich 1347 die völlige Absolution. Der Vertrag forderte neben einem Altar in der Marienkirche ein mit einer ewigen Lampe versehenes Sühnekreuz von zwölf Fuß Höhe am Ort der Untat, etwa an der heutigen Ecke Spandauer-/Karl-Liebknecht-Straße, beim sogenannten »Lampenschmied«.

Das heutige Kreuz neben dem Kirchenportal misst kaum vier Fuß Höhe. Man nimmt an, dass es sich um eine spätere Replik des – vermutlich hölzernen – Originals handelt, das 1726 der Bebauung der Spandauer Straße weichen musste. Seitdem steht das Steinkreuz auf einem niedrigen Sockel am heutigen Platz.

Die Hohenzollern und
ihr Schlossgespenst

Der Grüne Hut und die Eiserne Jungfrau

500 Jahre hat sie in Cölln an der Spree gestanden, die Zwingburg der Hohenzollern, deren Geschichte im Jahre 1448 mit einer vorsätzlichen Flutung der Baugrube begann. Doch nützte aller Aufruhr den Bürgern nichts – wie so oft in der Berliner Geschichte. Kaum drei Jahre später zog der eiserne Kurfürst Friedrich II. (nicht zu verwechseln mit seinem Nachfahren, dem gleichnamigen preußischen König Friedrich II.) auf der Burg ein.

Für die Berliner blieb das Gemäuer ein schauerlicher Ort. Stand doch an der Spreeseite bis zum Abriss des Schlosses im Jahre 1950 als einziger Rest der alten Burg ein kleiner Turm mit spitzem, von Grünspan schimmerndem Kupferdach. Der Grüne Hut diente bis 1648 als Gefängnis für das angeblich heimliche Gericht der Hohenzollern, und ganz unten im Turm stand die Eiserne Jungfrau: eine Frauengestalt aus Eisen, die weitgeöffneten Arme als Schwerter ausgebildet, der Leib links und rechts mit Messern versehen. War nun jemand zum Tode verurteilt, so musste er auf eine steinerne Platte dicht vor die Jungfrau hintreten und sie küssen. Durch ein Räderwerk schlossen sich die Arme, pressten ihn gegen die Messer und zerschnitten seinen Körper. Eine Klappe öffnete sich, der zerstückelte Leichnam fiel in die Spree und diente dort den Fischen und Krebsen als Nahrung.

Die Jungfrau war wohl in Wahrheit eine aufklappbare Maschine mit Dornen zum Peinigen durch quälenden Druck, die noch 1718 im Inventarverzeichnis des Gefängnisses im Stadthof vom Magistrat aufgeführt wurde. Ob sie der Große Kurfürst, der in seinem Schloss kein Gefängnis dulden wollte, beim Umbau des Grünen Huts 1648 in die Stadtvogtei neben dem damaligen Dom umsetzen ließ, ist nicht bekannt.

Die Weiße Frau – Gräfin von Orlamünde

Noch berüchtigter als die unheimliche Eiserne Jungfrau war unter den Schaurigkeiten Berlins ein anderes weibliches Wesen, dessen Geschichte untrennbar mit dem Hohenzollernschloss verbunden ist: die Weiße Frau.

Nach älteren Quellen soll es sich bei dieser Dame um die verwitwete Gräfin Kunigunde von Orlamünde-Plassenburg gehandelt haben, die in Liebe zu dem Nürnberger Burggrafen Albrecht dem Schönen entbrannt war, der sich jedoch zurückhielt. »Gern wollt ich dem schönen Weib mich zuwenden«, soll er geäußert haben, »wenn nicht vier Augen wären« – womit er seine Eltern meinte. Die verliebte Gräfin bezog den Ausspruch auf ihre beiden Kinder und beschloss, sie zu töten, indem sie ihnen mit einer goldenen Nadel ins Hirn stach. Nach anderen Quellen beauftragte sie ihren Bediensteten Hayder mit dem Mord.

Natürlich wandte sich der Burggraf nun vollends von ihr ab und heiratete eine andere. Viel zu spät bereute die Gräfin ihr scheußliches Verbrechen, unternahm eine Pilgerfahrt nach Rom, stiftete das Kloster Himmelsthron und verbrachte dort den Rest ihrer Tage mit Bußübungen. Im nahen Kloster Himmelskron bewahrte man noch im 17. Jahrhundert die angeblichen Gebeine der beiden Kinder auf, bevor sie infolge häufigen Vorzeigens zu zerfallen drohten und in einer steinernen Truhe bestattet wurden. Kein Wunder, dass die Mörderin nicht einmal nach ihrem Tode Ruhe fand und »als weiße Frau umgehen muss, bis ihre Zeit erfüllt ist«.

Den Geist der Gräfin von O. zeichnete nach ihrem Tode eine gewisse Reiselust aus. 1486 trat sie als Weiße Frau erstmalig im alten Schloss zu Bayreuth auf und wurde zwei Jahre später in den düsteren Gängen und Gewölben der Plassenburg gesichtet. 1540 stellte der dortige Schlossherr Markgraf Albrecht Alkibiades das Gespenst und warf es die steile Wendeltreppe hinunter. Unten lag sein Kanzler Christoph Straß mit gebrochenem Genick …

Die Weiße Frau – die schöne Gießerin

Wen wundert es, dass die echte Weiße Frau daraufhin den beschwerlichen Weg nach Berlin wählte, um sich ausgerechnet im Schloss der zahlreichen Ururgroßnachkommen ihres einst Angebeteten festzusetzen? Im Cöllner Schloss ist ihr Auftreten seit 1598 bezeugt. Da allerdings war sich alle Welt einig, dass es sich nicht um die längst vergessene Gräfin von Orlamünde handelte, sondern um die schöne Gießerin Anna Sydow, Witwe des Artilleriehauptmanns und Stückgießers Matthias Dieterich aus Burgund. Sie war die langjährige Favoritin des Kurfürsten Joachim II., der sie mehr liebte »als alle seine anderen Gespielinnen, von seiner angetrauten Ehefrau gar nicht zu reden«. Sie begleitete Joachim auf allen Reisen und Jagden und spielte auch sonst gerne die Landesmutter.

Mindestens zwei Kinder gingen aus dieser Verbindung hervor. Der Tochter Magdalena von Brandenburg verlieh der Vater den Titel einer Gräfin von Arneburg und sorgte sich sehr um ihre Aussteuer.

Joachim Hektor trat 1539 entgegen seinem dem frommen und fruchtbaren Vater geleisteten feierlichen Eid zum Luthertum über. Ohnehin war ja ein Hohenzoller, Joachim Nestors Bruder Albrecht nämlich, Schuld an der Reformation. Der hatte sich bereits als 24-Jähriger zum jüngsten Erzbischof von Magdeburg und Kurfürsten von Mainz emporgekauft. Die Augsburger Fugger liehen ihm das Geld dafür. Damit er es zurückzahlen konnte, privilegierte der Papst Albrecht zum Ablasshandel, unter der Bedingung, dass die Hälfte der Einnahmen für den Bau des Petersdoms nach Rom floss. Der nicht sonderlich fromme Erzbischof holte den wegen Ehebruchs zum Tode durch Ersäufen verurteilten und vom Sachsenherzog zu ewiger Haft begnadigten Dominikaner Tetzel aus dem Grimmaischen Turm zu Leipzig und ernannte ihn zum »Untersuchungsrichter der ketzerischen Entstellungen« und zum obersten Ablasskrämer. War es ein Wunder, dass sich der Doktor Luther in Wittenberg gegen Tetzels freches Gebaren empörte und die halbe Christenheit aufschrie? Erzbischof Albrechts und Joachim Nestors Vetter Markgraf Albrecht von Hohenzollern, letzter und jüngster Hochmeister des Deutschritterordens, war 1525 der erste Herrscher, der die neue Religion in seinem eben vom Polenkönig gelehnten Herzogtum Preußen zur Staatsreligion erhob.

Joachim sorgte sich nicht nur um seine uneheliche Tochter Magdalena und um die drei Kinder der Anna Sydow aus deren erster Ehe. Mit Recht misstraute er vor allem seinem ältesten Sohn Johann Georg. Am Sonnabend nach Pfingsten 1561 ließ er diesen in Zechlin eine Urkunde ausstellen, in der Johann Georg Folgendes versicherte:

Unsre liebe getreue Anna Sydows … jederzeit schützen handhaben und vertheidigen … Wir nehmen sie samt Kindern Haab und Gütern in Unsern sonderlichen Schutz, und versprechen auch alles wie obstehet, und Wir solches Unserm Herrn und Vater mit Hand und Mund angelobet haben …

Kaum aber war der Herr und Vater nach einer Wolfsjagd in der Nacht zum 3. Januar 1571 im Jagdschloss Köpenick verblichen, ließ der wortbrüchige Sohn die Sydow verhaften, aller ihrer Güter und Kleinodien berauben und auf die Festung Spandau bringen, »wo sie bis an ihren Tod (im Jahre 1575) sehr hart gehalten worden sein soll«.

Die durch Joachims Prunksucht und Mätressenwirtschaft verarmten Landeskinder sahen darin eine durchaus gerechte Strafe. Neben dem kurfürstlichen Münzjuden Lippold war ihnen die schöne Gießerin am meisten verhasst. Auch aus der glänzenden Aussteuer der mit einem Grafen von Eberstein verlobten Tochter Magdalena wurde nichts. Johann Georg fragte seinen verkrüppelten Schreiber Andreas Kohl mit herbem Spott: »Willst du mein Schwager werden?« Der lehnte nicht ab. Nach Kohls Tod lebte die kurfürstliche Halbschwester als bürgerliche Witwe in Berlin.

Sosehr das Volk die Gießerin verabscheute, verknüpfte es ihr Schicksal dennoch mit der Sage von der Weißen Frau, »die seit Jahrhunderten im Schloss zu Cölln umgeht und sich vor jedem Todesfall in der Hohenzollern-Familie zeigt«. Zu ihrer Zeit eine berühmte Schönheit, avancierte Anna Sydow 23 Jahre nach ihrem Tode zum berühmtesten Gespenst Brandenburg-Preußens. Sie fände, so behauptete der Volksglaube, in Spandau keine Ruhe, ja, sie sei in Wahrheit im Jagdschloss Grunewald unter der Treppe eingemauert worden. Selbst in einem Privatgebäude in Charlottenburg ginge sie um. Man bemerke dort im Trauerzimmer eine sanfte Erschütterung, die silbernen Wände würden von einer unsichtbaren Macht in einer lebhaften hellgrünen Farbe erleuchtet, süße, harmonische Töne vermischten sich zu einer fröhlichen Melodie …

 

Die Weiße Frau war kein fürchterliches Gespenst. Lautlos schwebte sie dahin und erfüllte die ihr vom Schicksal zugedachte Aufgabe, die Todesbotin der Hohenzollern zu sein.

Zum ersten Mal zeigte sich die weiße Gestalt in Cölln 1598, acht Tage vor dem Tod des 73-jährigen Johann Georg, dem Anna Sydow ihr bitteres Ende verdankte. Kurfürst Johann Georg war der fruchtbarste aller Hohenzollernherrscher, deren 20 es auf immerhin 165 anerkannte Nachkommen brachten. Das letzte von Johann Georgs 23 Kindern wurde erst nach dem Tod des Vaters geboren.

Auch vor dem Ableben von Johann Georgs Enkel, dem abergläubischen Kurfürsten Johann Sigismund, geisterte das Gespenst herum: »Dies, der Wein und dunkle Gedanken veranlassten den Zermürbten, die Regierung seinem Ältesten zu übergeben und das bessere Jenseits aufzusuchen …«

Es half nicht, dass Johann Sigismund aus Furcht vor der Weißen Frau ins Haus seines Kämmerers Anton Freytag an der Langen Brücke zog – er hatte nur noch sechs Wochen zu leben.

Die Weiße Frau wird aktenkundig

Mit der Leichenrede des Dompredigers Berger von 1619 geriet das Gespenst in die schriftlichen Annalen des Hauses Hohenzollern:

Es hat sich die Weiße Frau in leidtragender Gestalt auf dem Churfürstlichen Schlosse sehen lassen vor Personen allerhand Standes und Alters, daß also an ihrer Erscheinung nicht zu zweifeln ist.

Aus dem 17. Jahrhundert stammen die meisten Meldungen über das Gespenst, das sich gewöhnlich ruhig und anständig benahm. Nur wenn man sie durch frechen Übermut reizte, wurde die Dame zornig. Ein hoher Kavalier erzählte, dass er bei Ihrer kurfürstlichen Durchlaucht einstmals wegen wichtiger Affären ziemlich spät im Gemach gewesen, da sei das weiße Weib in Gestalt einer Beschließerin über den Saal gegangen. Sein Page, aller Warnungen ungeachtet, sei ihr nachgelaufen und habe sie angefasst mit den Worten: »Mutter, wo wollt ihr hin?« Der Vorwitzige bekam mit dem Schlüssel einen solchen Schlag an die Ohren, dass er bewusstlos zu Boden stürzte, während das Gespenst über ihn hinwegschritt. Zitternd wagten sich die anderen hervor und trugen den Pagen in seine Kammer, wo er trotz ärztlicher Bemühungen am dritten Tag den Geist aufgab. Man darf den Satan nicht reizen, schlussfolgerten die Todesmutigen, und so flüchteten sie alle, wenn im Schloss nur entfernt etwas Weißes schimmerte.

Einem schwachen Vater folgt mitunter ein noch schwächerer Sohn: Georg Wilhelm, der nächste Kurfürst, war schon bei seiner Huldigung mit 24 Jahren ein kranker Mann, der an der hohenzollernschen Erbkrankheit litt, einer schweren Wassersucht. Er starb 1640 mit nur 45 Jahren, vermutlich vom eigenen Kanzler Schwarzenberg vergiftet. Die wahre Herrscherin in Berlin blieb bis 1625 seine harte und herrschsüchtige Mutter Anna von Preußen, die älteste der fünf Töchter des Herzogs Albrecht Friedrich der Blödsinnige. Sie brachte den ohnehin nahe verwandten Hohenzollern immerhin das spätere Königreich Preußen als Morgengabe mit. Um den Stammbaum des Hauses Hohenzollern noch unübersichtlicher zu gestalten, heiratete ihre jüngere Schwester Eleonore Johann Sigismunds Vater Joachim Friedrich, starb aber bald darauf.

Kaum fünfzig Jahre später zog eine weitere schaurige Person ins Berliner Schloss ein: die ebenso gescheite wie ehrgeizige und rachsüchtige zweite Gemahlin des blatternarbigen Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, eine verwitwete Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Die Schwarze Dorothea ging wegen verschiedener unerwarteter Todesfälle und Koliken in der Herrscherfamilie – wahrscheinlich unverdientermaßen – als Giftmischerin in die Geschichte ein. Immerhin starben plötzlich und unerwartet zwei Kurprinzen, und der dritte, überraschend zum Kronprinzen aufgestiegen, hielt sich nach einer höchst unbekömmlichen Tasse Kaffee vorsichtshalber von ihr fern. Dafür stand ihm am Ende seiner Tage noch eine besonders eindrucksvolle Begegnung mit der Weißen Frau bevor.

Ein mutiger Hohenzoller

Etliche Jahre vorher wollte der Oberkämmerer und Saufkumpan des Großen Kurfürsten, Oberst Curt von Burgsdorff, ein trinkfester Mann von unbändiger Stärke, das schleierumwogte Hausgespenst endlich einmal mit eigenen Augen sehen. Er wolle ihm schon Bescheid stoßen!

Wunschgemäß begegnete ihm denn auch, nachdem er eines späten Abends den Kurfürsten zu Bette geleitet hatte, auf einer kleinen Treppe die Weiße Frau. Der erschrockene Oberst fasste sich und rief mit kerndeutsch-adligem Charme »Du alte sakramentarische Hure, du, hast du noch nicht genug Fürstenblut gesoffen? Willst du noch mehr haben?« und stürmte auf die zarte Gestalt ein. Die aber packte ihn mit unerwarteter Kraft am Kragen und warf ihn die Treppe hinunter. Der Kurfürst hörte es poltern, schickte vorsichtshalber jedoch nur den Kammerpagen hinaus, der dem zerschundenen Burgsdorff auf die Beine half. So mutig waren die Hohenzollern, wenn es darauf ankam.

Die Geschichte ist in verschiedenen Versionen und Datierungen überliefert und wird mitunter Burgsdorffs Bruder, dem Oberstallmeister Ehrenreich von Burgsdorff, zugeschrieben, der ein gleichermaßen großer Saufaus war wie Curt. Auch vor dem Dahinscheiden des Großen Kurfürsten trat die Weiße Frau in Erscheinung und zeigte sich diesmal dem Hofprediger Brunsenius gar am helllichten Tag.

Der Schiefe Fritz und die Mecklenburgische Venus

Irrtümlich wird Burgsdorffs Abenteuer gelegentlich mit dem Sohn des Großen Kurfürsten, Preußens erstem König Friedrich I., in Zusammenhang gebracht. Der Schiefe Fritz, wie er auch genannt wurde, war ein stilles, verwachsenes und dementsprechend gehemmtes Kind mit großem Kopf und auffallend großer Nase. Als Dreißigjähriger trat er 1688 die Nachfolge seines berühmten Vaters an, krönte sich dreizehn Jahre später in Königsberg selbst zum König in Preußen und starb 1713. Friedrich war ein gläubiger Fürst, er glaubte nicht nur an Geister wie die Weiße Frau.

Immerhin wurde Friedrichs Aberglaube belohnt: Brandenburg-Preußens erster König war der einzige Hohenzoller, dem die Weiße Frau vor seinem Tode nicht nur virtuell erschien – was ihn zu Tode erschreckte, hatte er ihr doch ein christliches Begräbnis ausrichten lassen. Im Jahre 1709 fand sich nämlich beim Schlossbau in den Fundamenten der früheren Burg ein eingemauertes schneeweißes weibliches Skelett, von dem Friedrich wie alle anderen glaubte, es sei das der Weißen Frau. Er ließ die Gebeine auf dem Domfriedhof beisetzen. Der süße Trost, er habe dadurch das Gespenst zur Ruhe gebracht, erfüllte sich leider nicht.

Das Unheil geschah ein Jahr nach der Geburt und Taufe seines Enkels Friedrich im Januar 1712. Dieser Friedrich, den die Welt einmal als den Großen kennenlernen sollte, war bereits der dritte Enkel, auf den Preußens erster König seine Hoffnungen setzte. Mit der Kinderpflege haperte es im Berliner Schloss offensichtlich. Der erste Thronfolger überlebte den Lärm der Kanonenschüsse bei seiner Taufe nicht, einem zweiten zerdrückte bei gleicher Gelegenheit die überschwere Goldkrone das Köpfchen. Reichlich Kummer also für den selbst von mannigfaltigen Leiden geplagten Monarchen.

Eines Nachmittags ruhte er in seinem Armsessel, als ihn eine grauenhafte Erscheinung aus dem Schlummer riss. Vor ihm stand eine hohe weiße Gestalt mit wild herabhängenden Haaren, die blutigen nackten Arme und Hände gen Himmel gereckt. Das Weib starrte ihn mit irren Augen an, aus denen der Wahnsinn glühte, und warf sich mit Zetergeheul auf ihn. Schreiend überhäufte sie ihn mit Vorwürfen über sein lasterhaftes Leben, bis ihn eine gnädige Ohnmacht erlöste.

Der Schreck, so wird berichtet, verschlimmerte die Krankheit des 55-jährigen Monarchen. Er wurde zu Bett gebracht und verließ es nicht wieder. »Ich habe die Weiße Frau gesehen, ich werde nicht wieder besser werden!«, klagte er. Seine Krankheit dauerte sechs Wochen. Er fühlte selbst, dass sie tödlich war, aber er wollte nicht glauben, dass jene grauenhafte Erscheinung niemand anderes gewesen sei als seine eigene Gemahlin Sophie Luise von Mecklenburg-Schwerin, genannt die Mecklenburgische Venus. Mit ihr war Fritz seit 1708 in dritter Ehe verheiratet. Die 24-jährige Prinzessin galt keineswegs als besonders sittenstreng, wurde angesichts ihres Ehemanns jedoch zur unerbittlichen Lutheranerin, die sich in Andächtelei vertiefte, »bis endlich über dem Grübeln ihr Verstand sich verwirrte, ihre Vernunft zerrüttet ward«. Diesmal war die Geisteskranke der Bewachung und ihren Hofdamen entkommen, durch eine geschlossene Glastür zu ihrem entsetzten Gemahl vorgedrungen und hatte ihn im wahrsten Sinn des Wortes zu Tode erschreckt.

An Friedrichs Gemahlinnen erinnern heute Stadtteile in Berlin: Zu Ehren der zweiten, Sophie Charlotte, trägt Charlottenburg seinen Namen, nach der Mecklenburgischen Venus sollte die nördliche Vorstadt Berlins Sophienvorstadt heißen. Sophie Charlottes Sohn Friedrich Wilhelm I., Preußens prügelnder Soldatenkönig, setzte durch, dass es bei der Spandauer Vorstadt blieb. Die Spandauische Kirche in der Sophienstraße aber heißt noch heute Sophienkirche.