Heißes Geld

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Jan Eik

Heißes Geld

Der 22. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Jan Eik, geboren 1940 als Helmut Eikermann, lebt als freiberuflicher Autor und Publizist in Berlin. Er schrieb eine Vielzahl von Sachbüchern, Kriminalromanen und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspielen. Bei Jaron erschienen von ihm u. a. «Schaurige Geschichten aus Berlin» (Neuausgabe 2013) sowie zwei humorvolle kleine Bücher zu den Besonderheiten der heimatlichen Sprache («Berliner Jargon», 2009; «DDR-Deutsch», 2010). Für die Krimiserien des Jaron Verlags verfasste er zahlreiche Bände: für «Es geschah in Berlin» (zuletzt: «Heimkehr», 2013), «Es geschah in Preußen» (zuletzt: «Attentat unter den Linden», mit Uwe Schimunek, 2012), die «Berliner Mauerkrimis» («Am Tag, als Walter Ulbricht starb», mit Horst Bosetzky, 2010) und «Es geschah in Sachsen» (Katzmann und das schweigende Dorf», 2011).

Originalausgabe

1. Auflage 2014

© 2014 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 9783955520212

Für Mausa

INHALT

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

DER BRUCH

GROSSKAMPFTAG

MENSCHENRAUB

LUFTDRUCK GEGEN STALIN

UMZINGELT

DIE BESTELLTE LEICHE

BLOCKADE

EIN EHRENWERTES HAUS

BOMBENSTIMMUNG

MÄNNERWIRTSCHAFT

SENDEPAUSE

KLEINE GRÜNE MÄNNCHEN

DIE STARKEN UND EINE KÜHLE BLONDE

HRIBAL MIT H

SCHICHTWECHSEL

DIE REST-KOLONNE

BADEWETTER

FRÖHLICHE EINTRACHT

ENDE GUT – ALLES GUT?

NACHBEMERKUNG

Es geschah in Berlin …

Es geschah in Preußen …

DER BRUCH

DIE IM HERBSTWIND SCHWINGENDEN LAMPEN warfen ihren matten Schein auf die entblätterten Linden. Die gab es noch – oder wieder, sechseinhalb Jahre, nachdem ringsum alles in Schutt und Asche gelegen hatte. Wenig erinnerte an den Glanz der einst so prächtigen Allee. Zwischen der kahlen Fläche, auf der sich bis vor einem Jahr die Schlossruine erhoben hatte, und dem Brandenburger Tor, wo über den Quadriga-Resten schlaff ein rotes Fahnentuch wehte, war kein Gebäude vom Krieg verschont geblieben. Für die Weltfestspiele, vor drei Monaten mit großem Aufwand veranstaltet, hatte man die gröbsten Schäden beseitigt. Die Tristesse blieb.

Am Tage täuschten der spärliche Straßenverkehr, die Studenten der Universität, die Bauarbeiter am Zeughaus und die Mitarbeiter der Behörden, die sich in den notdürftig wiederhergestellten Bürohäusern breitmachten, Normalität vor. Jetzt, zur Geisterstunde, in einer feuchten Novembernacht des Jahres 1951, lag Preußens Prachtboulevard verlassen wie eine nutzlose Filmkulisse. Bald würde der letzte Bus der Linie 9 vorbeituckern und dann endgültig Ruhe einkehren.

Den drei Männern, die sich seit gut einer Stunde in der Ruine hinter dem Eckhaus an der Charlottenstraße aufhielten, konnte das nur recht sein. Sie hatten manche Nacht hier verbracht und kannten sich bestens aus. Selbst mit der Geschichte des Gebäudes, 85 Jahre zuvor als Grand Hotel de Rome errichtet und 1911 zu einem fünfgeschossigen Geschäftshaus umgebaut, waren sie vertraut. In den Vorkriegsjahren hatten hier Importgesellschaften, Anwälte und Reedereien residiert und Banken die Geschäftsräume im Erdgeschoss genutzt. Die Fassade Unter den Linden verriet wenig von den Bombenschäden an dem mächtigen Baukörper. Der Flügel hingegen, der sich in der Charlottenstraße bis zur Mittelstraße erstreckte, lag in Trümmern. Nur das provisorisch gesicherte Erdgeschoss verdeckte die Sicht auf die kahle Hofwand. Alle Fensteröffnungen zur Straße waren vergittert oder zugemauert, eine ausgediente Zimmertür versperrte den einzigen Zugang.

Durch diese Tür waren die Männer in den vergangenen Jahren immer wieder geschlüpft. Keineswegs unbemerkt, war doch einer von ihnen zeitweilig sogar Teilhaber jener Firma gewesen, die das mit Dachpappe gedeckte Parterre schon 1947 angemietet hatte. Zentral-Immobilien GmbH hieß das anscheinend nicht sonderlich florierende Unternehmen eines gewissen Herrn Müller. In der zerstörten Stadt wunderte sich kein Mensch darüber, dass ein Immobilienhändler sein Geschäftslokal in einer Ruine gegenüber der düster aufragenden Staatsbibliothek betrieb. Die nahen Linden waren noch immer eine gute Adresse und würden es wieder werden. Anwälte und Firmen unterhielten ihre Büros im Haus Unter den Linden 10. Im Erdgeschoss residierte die Verkehrskasse der Reichsbahndirektion Berlin. In der geschäftigen Umgebung fielen weder der Kaufmann Müller noch seine Kunden und Teilhaber auf.

Als das Schild der windigen Firma von einem auf den anderen Tag verschwand, bemerkte es kaum jemand. Die Miete wurde stets pünktlich bezahlt, und keiner kümmerte sich darum, was eine pleitegegangene Immobilienfirma in den Erdgeschossräumen lagerte.

Nebenan, direkt unter der Verkehrskasse, befand sich seit 1911 deren Tresorraum, geschützt von einem stahlbewehrten Betonmantel. Ein schmaler Gang, der keinen Platz für sperriges Werkzeug bot, umgab den festungsgleich gesicherten Raum. Spiegel in den Ecken boten dem stündlich kontrollierenden Wächter am einzigen Zugang einen Rundblick. Die Decke zu den darüberliegenden Bankräumen bestand aus meterdickem Stahlbeton.

Der Tresorraum galt als einbruchsicher. Niemand wusste das so gut wie die drei Männer, die seit einem Jahr Nacht für Nacht damit beschäftigt waren, sich bis dorthin vorzuarbeiten. Der ursprüngliche Plan, sich dem Tresor von unten zu nähern, war schon beim ersten Versuch gescheitert, denn der Grundwasserspiegel lag kaum einen Meter unter dem Kellerboden. Sie hatten sich also etwas anderes einfallen lassen müssen. «Dieser Schrank wird geknackt!», hatte Panitzke geschworen, der Entschlossenste von ihnen. Heute sollte der entscheidende Durchbruch gelingen.

Die Idee, ausgerechnet diesen Tresor zu knacken, war gleich nach dem Krieg entstanden. Damals hatten noch Reichsmark darin gelegen, deren Gültigkeit in naher Zukunft ablaufen würde. Vielleicht hatten die Beteiligten – und das waren ein paar mehr als die drei Nachtarbeiter in der Charlottenstraße – das aufwendige Unterfangen deshalb vor sich hergeschoben, ohne sich endgültig an die Arbeit zu machen.

Im Juni 1948 kam plötzlich, aber nicht unerwartet die Währungsreform. Innerhalb eines Tages galt in der westlichen Trizone nur noch die neue Deutsche Mark, von den Amerikanern ein Jahr zuvor gedruckt und unter höchster Geheimhaltung nach Deutschland eingeflogen. Die Russen standen da wie das Kind beim Dreck und mussten fürchten, in ihrer Zone mit wertlosem Altgeld überschwemmt zu werden. Als die westlichen Alliierten die D-Mark, mit einem runden B-Stempel versehen, auch in ihren Berliner Sektoren zur gültigen Währung erklärten, verhängten die Russen eine Blockade gegen West-Berlin. Im Osten beklebte man mangels neuer Scheine die alten mit eilig gedruckten Coupons, Tapetenmark genannt. Vier Wochen später lieferte Moskau seinem Besatzungsgebiet eine Deutsche Mark, deren Wert von Anfang an nur einen Bruchteil der westlichen ausmachte. Fortan galten zwei Währungen in der sich vollends spaltenden Stadt. Im Osten waren der Besitz von und der Umtausch in Westmark verboten.

 

Seither waren über drei Jahre vergangen. Die Berliner hatten sich an das Währungsgefälle wie an manch anderen Widersinn gewöhnt. Im Westen hielt jeder Händler die täglich aktualisierte Umtauschtabelle bereit, um die Ostkunden zu bedienen. Vollkommen ließ sich die östliche Abschottung gegen die Westmark nicht umsetzen, arbeiteten doch zahlreiche West-Berliner im Osten. Die beanspruchten einen Teil ihrer Bezüge in Westmark, um wenigstens Miete, Strom, Gas und Fahrgeld bezahlen zu können. Die Deutsche Reichsbahn samt Berliner S-Bahn befand sich in östlicher Hand, was das komplizierte Fahrscheinregime keineswegs einfacher machte. In West-Berlin mussten alle Fahrkarten in Westmark bezahlt werden. In Ost-Berlin gab es Rückfahrkarten in Ostmark. Von den Westgeldeinnahmen bezahlte die Reichsbahn ihre in West-Berlin wohnenden Angestellten.

Den drei Männern in der Immobilienfirma war der Umgang mit größeren Geldsummen – zumindest in der Theorie – vertraut. Sie setzten darauf, dass die Ost- wie die Westgeldeinnahmen für die Lohnzahlungen im Tresor der Eisenbahnverkehrskasse landeten. Oft genug hatten sie, verborgen hinter den verstaubten Fenstern der Firma Müller, die in den Hof fahrenden Geldtransporter beobachtet. Volkspolizei sicherte den Weg zum strengbewachten Tresorraum. Vierzehn Säcke hatte Erwin Panitzke am Nachmittag des 6. November gezählt. Das hatte den Ausschlag für den Nachteinsatz gegeben. Es war schon genug schiefgegangen.

Der 51-jährige Panitzke war ein drahtiger, agiler Mann von durchschnittlicher Größe. Seine eher mickrige Figur passte zu seinem Beruf – er hatte Schneider gelernt –, nur waren die Finger etwas zu dick und die Füße ein wenig zu groß geraten. Mit Nadel und Faden hatte Panitzke zuletzt im Zuchthaus hantiert, wo er dreizehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Heute sollte er wieder schneiden – mit dem in einer eiligen Aktion aufgetriebenen Schweißbrenner.

Sein Freund Willy Kremplin, drei Jahre älter und einen halben Kopf größer, bezeichnete sich selbst als Kaufmann und verfügte über nicht weniger Knasterfahrung als Panitzke. In einschlägigen Kreisen galt er genau wie seine beiden Kumpanen als professioneller Schränker von Format.

Der Dritte im Bunde hieß Werner Geißler, im Milieu als «Muhme» bekannt, seiner Brille wegen gelegentlich auch als «Doktor» tituliert. Er war es, der kurz vor eins unter der schützenden Steppdecke einen triumphierenden Schrei ausstieß: «Durch!»

Endlich! Der Steinbohrer hatte die letzten sechs Zentimeter Beton durchdrungen. Ihre Berechnungen stimmten. Der Rest schien nach der monatelangen Plackerei ein Kinderspiel. Sie waren ein paarmal drauf und dran gewesen, die Sache aufzugeben. Panitzke war es, der sich und die anderen immer wieder angetrieben hatte: «Am richtigen Tag sind in dem Tresor Millionen drin, versteht ihr? Nicht bloß ein Handgeld für jeden von uns!»

«Jeder von uns» – das waren längst mehr, als am Anfang geplant. Zwei davon saßen inzwischen in Moabit. Dass die ihr Maul hielten, galt als sicher. Erich Marggraf, ein Jahrzehnt lang in Berlin der «König der Schränker» und Chef der berüchtigten «West-Kolonne», einer Verbrecherbande, war nicht einmal von den Nationalsozialisten kleinzukriegen gewesen, obwohl die ihn als «gefährlichen Gewohnheitsverbrecher» zu Zuchthaus und Sicherungsverwahrung verurteilt hatten. Auf seinen Adlatus Addy Groß war ebenso Verlass. Außerdem brauchte der Geld, wenn er rauskam.

Schuld an der Verhaftung von Marggraf, dem eigentlichen Kopf des Unternehmens, war Panitzke – oder vielmehr dessen Umgang mit dem Brenner. Er sparte beim Sauerstoff, und die Flamme hinterließ eine Rußspur. Wenn man nicht aufpasste, geriet der Tresorinhalt in Gefahr. Genau das war beim letzten Bruch in der Wrangelstraße passiert, wo Panitzke einen Panzerschrank geöffnet hatte. Ein Teil der Beute – 22 000 West- und 26 000 Ostmark, die Wochenendeinnahmen eines geschäftstüchtigen Fleischermeisters – hatte Brandspuren davongetragen. Ausgerechnet der mit allen Wassern gewaschene Erich Marggraf war so unvorsichtig gewesen, gleich am Montagmorgen mit einem Bündel angesengter Scheine auf dem Postamt W 15 zu erscheinen. Die Bullen hatten erstaunlich schnell reagiert und ihn hoppgenommen. Ein herber Rückschlag für das große Unternehmen, zu dessen Finanzierung der Bruch in der Wrangelstraße hatte dienen sollen.

Unverständlicherweise war gleich danach Addy Groß verschüttgegangen und mit ihm das komplette Schneidgerät für die Charlottenstraße. Eigentlich ein Grund mehr, das ganze Vorhaben abzublasen. Hätten die übrigen Beteiligten gewusst, dass die Kripo bei Addy die Skizze des Tresorraums mit der Ansatzstelle für die Bohrung gefunden hatte, wäre es wahrscheinlich dazu gekommen. Doch das Geld lockte. Max Mikulla, Altmeister der internationalen Schränkergilde, riet zum Weitermachen. Für den Einsatz vor Ort war er zu alt, er half aber mit seinen Erfahrungen.

Woher die Skizze, genau genommen nur eine laienhafte Bleistiftzeichnung zweier Rechtecke, die sich an einer Ecke überlappten, stammte, wussten weder Panitzke noch der Doktor oder Kremplin. Dabei war das knittrige Papier der Schlüssel zum Erfolg. Durch die Bombe, die den Gebäudetrakt in der Charlottenstraße zerstört hatte, war auch die Wand zum Kassenraum im Erdgeschoss beschädigt worden. Bei der noch im Krieg erfolgten Instandsetzung hatte man sie um einen Meter in den Kassenraum hinein verschoben. Seitdem befand sich ein schmaler Streifen des Tresorraums unmittelbar unter dem Lagerraum der Immobilienfirma. Darauf beruhte der simple Plan. Zehn Monate hatten sie gebraucht, um ein Loch durch den Beton zu bohren. Jetzt war es so weit, die Früchte nächtlicher Schinderei zu ernten.

Dass Panitzke den Schrank aufschneiden würde, stand fest. Nur er war schlank genug, sich durch die schrundige Röhre im Boden zu winden. Er zog alle überflüssigen Kleidungsstücke aus und ließ sich an einem Feuerwehrschlauch hinab in die Dunkelheit. Es war eng, doch Panitzke schaffte es.

«Alles klar!», rief er nach kurzer Zeit. «Lasst das Zeug runter!»

Für die beiden oben Wartenden schien die Zeit stillzustehen. Voller Spannung horchten sie immer wieder in das Loch hinein, aus dem nur gedämpftes Werkzeuggeklirr und nach endlosen Minuten das Fauchen des Brenners drangen.

Eine weitere Ewigkeit verging. Kremplin standen trotz der Novemberkälte Schweißtropfen im Gesicht. Muhme blickte ihn abschätzig an. «Hast du Schiss?», erkundigte er sich spöttisch.

Unten knirschte Metall, etwas polterte zu Boden. Dann erklang endlich der Befehl: «Hochziehen!»

Der erste Sack schurrte nach oben. «Vorsichtig!», knurrte Muhme Geißler. «Das Loch hat scharfe Kanten!»

Das fehlte noch, dass jetzt ein Sack aufriss! Kremplin nahm den prall gefüllten Sack vom Haken und betastete ihn. «Ich kann es kaum glauben!», flüsterte er.

«Halt’s Maul und mach weiter!», sagte Geißler schroff.

GROSSKAMPFTAG

ES VERSPRACH ein schöner Tag zu werden. Kriminaloberkommissar Hermann Kappe hatte an diesem Sonntag, dem 11. Mai 1952, einen wohlverdienten freien Tag, und er gedachte, ihn zu genießen. Diesmal würde ausgerechnet sein jüngerer Sohn Karl-Heinz dazu beitragen. Der hatte ihm in den vergangenen Jahren nicht viel Freude bereitet. Dank seiner Beziehungen jedoch – und genau die bereiteten Kappe Sorgen – hatte der Junge Eintrittskarten für Berlins größtes Sportereignis an diesem Sonntag besorgen können: den Großkampftag der Berufsboxer in der Waldbühne. Das war schon was! Der Form halber hatte Karl-Heinz, hinter dem eine kurze und reichlich schmerzhafte Boxkarriere lag, sogar seinen älteren Bruder Hartmut eingeladen, doch der durfte als Volkspolizist, und noch dazu als Offizier, schon lange nicht mehr in den Westen. «Ich werde mir die Sandbahnmeisterschaften in Karlshorst angucken», ließ er durch seine Mutter ausrichten.

Sandbahnrennen für Motorräder auf einer staubigen Aschenpiste waren nichts im Vergleich zu den sieben angekündigten Kämpfen mit hochkarätigen Champions. Der lange Hein ten Hoff trat gegen Joschi Weidinger aus Wien an, und, ebenfalls im Schwergewicht, der vielversprechende Conny Rux gegen den starken Belgier Eugene Robert.

In seinen jungen Jahren hatte Kappe nicht besonders fürs Boxen geschwärmt, sich jedoch von der Schmeling-Euphorie in den Dreißigern anstecken lassen. Inzwischen guckte er sich gerne einen ordentlichen Kampf an, statt nur die Radio-Übertragung zu verfolgen. Obwohl dem Boxen, vor allem den Veranstaltern und einem Teil des Publikums, nach wie vor ein zweifelhafter Ruf anhaftete. Aber das fiel nicht in Kappes Ressort. Er gehörte seit über vierzig Jahren zur Mordkommission.

Seit das Berufsboxen in Berlin zugelassen war, erfreute sich der Sport, den Kappes Frau Klara als roh und gewalttätig ablehnte, zunehmender Beliebtheit. Bald sollten im notdürftig hergerichteten Sportpalast wieder Turniere stattfinden. Kappe fand die Waldbühne angenehmer, unter freiem Himmel fühlte er sich nicht so eingezwängt. Jetzt musste nur noch das Wetter halten. Feucht-milde Meeresluft lag über Berlin, die Vorhersage ließ nach einer kalten Nacht zeitweilige Aufheiterungen und örtliche Schauer oder Gewitter erwarten. In der ausgedienten Einkaufstasche, die Klara ihm aufgedrängt hatte, steckte neben dem perlmuttenen Opernglas, einer Thermosflasche mit Kaffee und dem Stullenpaket ein Regencape, das Kappe selbst im dringendsten Notfall nicht zu gebrauchen gedachte. Gegen mögliche Kälte half eher der Flachmann mit dem Hochprozentigen, den er heimlich in die Tasche geschmuggelt hatte. Dabei schwitzte er jetzt schon. Der Tag schien wärmer zu werden, als die Wetterfrösche vorausgesagt hatten.

Die Kämpfe begannen um 15 Uhr. Um gute Plätze für sie zu sichern, hatte Kappe sich frühzeitig mit Karl-Heinz am S-Bahnhof Pichelsberg verabredet. Natürlich traf der Herr Sohn mal wieder verspätet ein und eilte mit wehendem Trenchcoat die Treppe herauf. «Du hättest mir die Karte ja auch schicken können», empfing ihn Kappe bärbeißiger als beabsichtigt. Versöhnlicher fügte er deshalb hinzu: «Ich hätte dir ’n guten Platz freigehalten.»

Karl-Heinz, an kritische Bemerkungen seines Erzeugers gewöhnt, lachte. «Dafür sorgt meine Clique. Du wirst sehen, wir sitzen Ia!»

So war es tatsächlich. Als sie vom oberen Rang des Amphitheaters langsam nach unten drängten, winkte weit vorn eine grellgeschminkte junge Frau aus der Mitte einer lautstarken Meute und rief nach Karl-Heinz. Kappe brauchte keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass er in der Runde fehl am Platz sein würde. Unter diesen bunten Vögeln, die sich schon jetzt höchlichst amüsierten, musste ein Kriminalbeamter in seinen Jahren als Fremdkörper auffallen. Sollte eines von den Mädels in näherer Beziehung zu Karl-Heinz stehen, kam auf Klara eine herbe Enttäuschung zu. Vergeblich hoffte sie schon seit langem auf eine akzeptable Schwiegertochter.

«Ich bleibe lieber hier am Rand!», rief Kappe dem Sohn zu, der sich rücksichtslos durch die Reihen drängte.

Dem schien das recht. «Ich muss nachher noch mit dir sprechen!», rief er bloß zurück.

Auf Kappes Zureden rückten zwei betagtere Herren wohl oder übel etwas zusammen. Fürs Erste zufrieden, ließ Kappe sich in der engen Lücke nahe dem Aufgang nieder und sah sich erst einmal um.

Das weite Rund der Waldbühne, 1936 ursprünglich für die Nebenveranstaltungen der Olympiade am Hang der Murellenschlucht errichtet, füllte sich allmählich. Obwohl sich die Eintrittspreise hier nicht jeder leisten konnte, sahen sich 18 000 Besucher die Kämpfe an, wie Kappe am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren würde.

Von dem Genuss, den er sich versprochen hatte, spürte Kappe vorerst wenig. Der Lärm tobte ohrenbetäubend, und die schmale Sitzfläche verriet schon jetzt ihre Härte. Das zusammengefaltete Regencape machte es kaum besser. Die beiden Alten neben ihm, die er bei näherer Betrachtung zu seinem stillen Schrecken als etwa gleich alt mit sich selbst einschätzte, räsonierten darüber, dass die Engländer das ans Stadion anschließende Maifeld und größere Areale des Olympiageländes als Standort für ihr Hauptquartier beanspruchten, während die Amis in Dahlem residierten, wo sowieso nur hohe Nazis gewohnt hätten. Ein paarmal wandten sie sich beifallheischend an Kappe, der es jedoch vorzog, nur Undeutliches zu murmeln. Er war froh, einigermaßen entfernt von Karl-Heinz und dessen Clique zu sitzen, die sich schon jetzt durch freche Zurufe und auffälliges Gehabe bemerkbar machte. Keiner von denen sah aus, als verdiene er sein Geld mit geregelter Arbeit. Ein paar dicke Schiebertypen taten so, als gehörten sie nicht direkt zu dem auffälligen Haufen, zogen aber wahrscheinlich die Strippen bei den dunklen Geschäften, an denen sich die Jüngeren die Finger verbrennen durften.

 

Endlich begannen mit lautstarkem Tamtam die Vorkämpfe. Der erste Schwergewichtskampf ging nur über vier Runden. Bobby Warmbrunn gewann nach Punkten gegen einen zwanzigjährigen Anfänger. Das war nicht das, worauf die Zuschauer warteten. Auch der Leichtgewichtskampf, der mit einem wackligen Unentschieden endete, erregte eher Missfallen. Die Stimmung besserte sich erst, als mit Gerhard Hecht ein Berliner im Ring stand, der die acht Runden als Punktsieger beendete.

Kappes Nachbarn sparten nicht mit fachmännischen Urteilen und schwelgten in Erinnerungen an die großen Kämpfe der zwanziger Jahre. Von Hans Breitensträter und Paul Samson-Körner war die Rede, ebenso von Sabri Mahir, dem «schrecklichen Türken», wie er auch genannt worden war. Wiederholt versuchten sie Kappe ins Gespräch zu ziehen, aber der konnte und wollte nicht mitreden. In den Zwanzigern hatte er sich eher für Fußball als für Boxen begeistert. Allenfalls war ihm der Name von Franz Diener geläufig, den die beiden zu ihrer Freude drei Reihen tiefer im Publikum entdeckten. Kappe wusste, dass der ehemalige Boxer in Charlottenburg ein gutgehendes Lokal betrieb, in dem Berlins selbsternannte Prominenz verkehrte. Mehr fiel ihm zu dem Mann nicht ein.

Noch weniger ahnte er, dass etliche Reihen hinter ihm zwei Männer saßen, deren Gesprächsinhalt ihn wesentlich mehr interessiert hätte als alle Box-Reminiszenzen. Dabei waren die beiden vom Geschehen im Ring durchaus gepackt, hatte der Ältere und Größere der beiden doch einige Jahre lang keine Gelegenheit gehabt, einem offiziellen Boxkampf beizuwohnen. Dass er selbst mal im Ring gestanden hatte, sah man seiner von einem zu weiten Anzug umschlotterten Figur nicht auf den ersten Blick an. Die ungesund fahle Färbung des ausgemergelten Gesichts deutete eher auf einen zu langen Aufenthalt in geschlossenen Räumen hin.

«Na, wat sachste?», erkundigte sich sein Begleiter, ein mausköpfiges Kerlchen mit flacher Stirn und störrischem Haar, dem auch das schmale Menjoubärtchen unter der angeknickten Nase nicht zum erwünschten Aussehen eines Charmeurs und Weltmannes verhalf. Wenn der jemals geboxt hatte, dann allerhöchstens im Fliegengewicht.

«Ich komme gar nicht über die Geschichte hinweg», antwortete der Bleiche erschüttert. «Wieso hast’n das nicht gleich gesagt?»

Dem Kleinen, der mit Knickerbockerhosen, grellkariertem Sakko und Schiebermütze in Fischgrätenmuster nicht übermäßig modisch gekleidet war, fiel nichts anderes ein als: «Mensch, du musst dich erst mal zurechtfinden, hier in der neuen Welt …» Insgeheim ärgerte er sich, den Mund nicht gehalten zu haben. Er kannte Arnfried Weisel. Versprach eine Sache nur ein Minimum an Erfolg, verbiss der sich darin wie ein Köter in einen saftigen Knochen.

«Ich hab mich immer und überall zurechtgefunden!», gab Arnie prompt zurück. «Nun lass mich mal’n bisschen was Genaueres wissen!»

«Ausgerechnet hier?» Rudi Fenske, der in seinen Kreisen als «Funze» verkehrte, blickte sich um. Kein Mensch nahm Notiz von ihnen, zumal im Ring der nächste Kampf angekündigt wurde. «Das hat Zeit bis heute Abend.» Er hätte sich in den Hintern beißen können! Die Angelegenheit mit Arnie war von vornherein verkorkst, und das ausschließlich durch seine eigene Schuld. Er war und blieb ein Unglücksrabe! Brachte er mit den Händen ausnahmsweise mal was zustande, riss er es mit dem Mundwerk allemal wieder ein. Arnie gegenüber einen geglückten Millionenraub zu erwähnen war eine Schnapsidee gewesen! Der dachte doch an nichts anderes als an Geld! Er selbst auch, zugegeben – aber nicht in diesen Dimensionen.

Kennengelernt hatten Arnie und er sich Ende ’48 in Luckau, einer unbedeutenden märkischen Stadt, deren Namen in gewissen Kreisen kein guter Klang anhaftete. Im alten Luckauer Knast hatte schon so mancher ein paar Jährchen abgebrummt. Funze hatte nur achtzehn Monate dort gesessen, und das allein durch einen unglücklichen Zufall. Er war im Berliner Wedding aufgewachsen und alles andere als ein Ganove von Format. Lieber angelte er die kleinen Fische, stand mal Schmiere, sammelte Informationen und gab sie an Interessierte weiter. Der dilettantische Bruch in einer Provinzsparkasse, zu dem Funze sich hatte überreden lassen und der ihm Luckau beschert hatte, war eine Nummer zu groß ausgefallen, wie er sich inzwischen insgeheim eingestand. Noch dazu hatten sie das Ding kurz vor der Währungsreform gedreht – aber wer hatte das damals ahnen können?

In der überfüllten Zelle, wo unverbesserliche Nationalsozialisten taten, als hätten sie um ein Haar den Krieg gewonnen, und ein paar Politische, die nicht mal wussten, weshalb sie inhaftiert waren, sich mausigmachten, versuchte er anfangs große Bögen zu spucken. Er renommierte mit seinen kriminellen Erfahrungen, bis Arnie, der dank seiner Körperkraft und Persönlichkeit tatsächlich den Ton angab, ihm einen schmerzhaften Rippenhieb verpasste und ihm kategorisch das Maul verbot.

Funze, sonst nicht der Klügste, begriff rasch, dass Arnie das Recht des Stärkeren auf seiner Seite hatte. Also schwieg er fortan und hielt sich wohl oder übel an Arnies Führerrolle. Der spielte in einer höheren Liga als er. Vier Jahre hatten sie dem übergeholfen, weil er irgendwo einen Tresor geknackt hatte. Mehr erfuhr Funze nicht. Das war auch besser so, denn die Bullen holten ihn manchmal, einfach so, um ihn auszuhorchen. Er war der Richtige dafür, ein Quatschmaul, das wusste jeder. Über Arnie zu reden, weigerte er sich jedoch standhaft.

Es dauerte lange, bis Arnie ihm das mit ein bisschen Vertrauen lohnte, und es kostete Rudi Fenske die Adresse der eigenen Mutter am Gesundbrunnen. «Über die erreichst du mich jederzeit», musste er Arnie eins ums andere Mal versichern, bis der ihm endlich glaubte. Das hatte er nun davon!

Nachdem Funze nach Berlin zurückgekehrt war, verschwand Arnie vorerst aus seinem Gedächtnis. Mit der neuen Währung und den gänzlich veränderten Verhältnissen zwischen Ost und West stürmte zu viel Neues auf ihn ein. Ein halbes Jahr Plötzensee verdrängte die Luckauer Erlebnisse endgültig.

Arnie jedoch hatte den Berliner Kumpel und dessen angeblich weitreichende Verbindungen in den einschlägigen Kreisen nicht vergessen. Der Osten war sowieso nichts für ihn: Hungerlöhne bei hohen Normen, Lebensmittelkarten, knappes Fressen und eine allgegenwärtige Polizei. Kaum aus Luckau entlassen, zog es Arnie nach West-Berlin – wohin sonst. Außerdem hatte er da noch eine dicke Rechnung offen, wie er Funze gegenüber andeutete. Um die zu begleichen, brauchte er ortsansässige Hilfe.

Als Erstes suchte er Funzes alte Mutter auf und bequatschte sie so lange, bis sie ihm haarklein den Weg zu der Laube in Mariendorf beschrieb, in der sich Funze nach dem letzten Reinfall verkrochen hatte. Seit über einer Woche hausten sie nun zu zweit in der Bretterbude, in der Arnie sofort das Kommando übernommen hatte. Er wollte nicht in irgendeinem Flüchtlingsnotquartier beklaut werden. Die Befragungen durch die drei Besatzungsmächte und etliche deutsche Stellen verlangten sowieso ein ungewohntes Maß an Zurückhaltung von ihm. Dabei standen seine Chancen, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden, nicht einmal schlecht. Nur die Freiheitlichen Juristen ließen ihn abblitzen. Die kannten überraschenderweise sein Strafregister.

Arnie verstand es, das Maul zu halten, das wusste Funze. Ihn auszuhorchen, hatte er längst aufgegeben. Wenn es jedoch sein musste, konnte Arnie auch beredsam sein wie ein Missionar auf Seelenfang. Dem fühlte Funze sich in keiner Weise gewachsen. Bis in die tiefe Nacht erzählte Arnie von den Fachleuten, mit denen er zusammengesessen hatte, richtigen Schränkern der alten Schule, die von nichts anderem geredet hätten als vom großen Geld, das in festen, stählernen Behältnissen aufbewahrt werde. Die warteten nur darauf, von geschickten Händen geknackt zu werden. «Das ist künftig unser Feld!», schwärmte Arnie, der sich in der neuen Umgebung fühlte wie ein Golddigger am Klondike. «Es kann doch nicht so schwer sein, irgendwo in dieser Stadt einen gutgefüllten Tresor ausfindig zu machen und dazu ein, zwei Leute, die was auf dem Kasten haben. Ich denke, du kennst hier Gott und die Welt!»

Funze gab sich wenig optimistisch. Namen nannte er schon gar nicht. Doch an Arnie prallten alle Einwände ab. Immer wieder fing der davon an. Auch jetzt beobachtete er aufmerksam die Betuchten, die sich in der Nähe des Rings sammelten. «Irgendwo müssen die ihre Kohle bunkern!», stieß er zwischen den ungepflegten Zähnen hervor.

Um ihm wenigstens das Hirngespinst eines mühelosen Tresoreinbruchs auszutreiben, fiel Funze nichts Besseres ein, als ausgerechnet den Bruch in der Verkehrskasse als abschreckendes Beispiel aufzubauschen. «Du hast keine Ahnung, wie das hier zugeht! Die im Osten haben alle Beteiligten ganz schnell gegriffen. Dabei sind die Jungs echte Profis, das kannst du glauben!»

«Und das Geld?», fragte Arnie, der ihm mit leuchtenden Augen zuhörte. Bis Luckau war nur eine verschwommene Version von dem Raubzug gedrungen. Jetzt wollte er jede Einzelheit hören.

Funze hob die schmalen Schultern. «Danach fragt man besser keinen», meinte er. «Die Bullen haben es jedenfalls nicht gefunden.»

Arnie grinste breit. «Na siehste! Da ist noch alles drin! An so ein Ding muss man sich ranhängen, Mensch!»