Attentat Unter den Linden

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Attentat Unter den Linden
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Es geschah in Preußen 1844

Jan Eik

Uwe Schimunek

Attentat

Unter den Linden

Von Gontards dritter Fall

Criminalroman

Jaron Verlag

Jan Eik, geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Im Jaron Verlag erschienen von ihm in der Krimireihe »Es geschah in Berlin« mehrere Bände, zuletzt »In der Falle« (2011) und »Polnischer Tango« (2012). Für die Reihe »Es geschah in Preußen« schrieb er den Auftaktband »Verhängnis in der Dorotheenstadt« (2011).

Uwe Schimunek, Leipziger Journalist und Autor, schreibt Kurzgeschichten und Kriminalromane. Er liest regelmäßig bei den jährlich stattfindenden Ostdeutschen Krimitagen und im Rahmen des Krimi-Kleinkunst-Programms »Killer-Kantate«. Im Jaron Verlag erschienen von ihm in der Reihe »Es geschah in Sachsen« die beiden Bände »Katzmann und die Dämonen des Krieges« (2011) und »Mord auf der Messe« (2012).

Originalausgabe

1. Auflage 2012

© 2012 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520328

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Eins

Ein Schuss donnerte durch den Stall. Adalbert Kirchner wunderte sich. Vielleicht hatte er sich verhört und das Geräusch einer Reitpeitsche vernommen. Aber nein, so laut würde keiner peitschen, und die Pferde sprangen und wieherten, als wolle ein Metzger ihnen ans Leder.

Kirchner schritt durch den Lärm. Hier im Marstall herrschten wenigstens erträgliche Temperaturen. Draußen drückte die Junisonne, als wolle sie Berlin noch platter machen, dachte Kirchner. In seiner Heimat im schlesischen Gebirge reichte es, in einen der dichten Tannenwälder zu gehen, um vor der Sommerhitze zu fliehen. Hier in der Residenzstadt drängten sich am Wochenende die Berliner unter den Bäumen im Thiergarten.

Langsam ließ das Gewieher nach, aber dafür hörte Kirchner Schreie - ein schrilles Quieken, so klangen Schweine beim Schlachten … Kirchner meinte, einen Hilferuf zu hören. Aber Schweine konnten doch nicht sprechen, nicht einmal in der Residenzstadt.

Kirchner rannte los. Die Schreie kamen aus der hinteren Ecke der Stallanlagen, ein ganzes Stück von ihm entfernt. Aus den Stallkammern glotzten die Gäule ihn an, als würden sie seine Versuche bemitleiden, auf Menschenbeinen schnell voranzukommen. Die Blicke folgten ihm.

Kirchner lief schneller. Er bog nach links. Weit konnte es nicht mehr sein. Vielleicht in dem Gang dahinten. Da sprangen die Pferde, als wollten sie ihre Verschläge eintreten.

Dann waren keine Schreie mehr zu hören. Auch das Getrampel ließ nach. Es wurde ruhig im Neuen Marstall.

Kirchner dachte an das Pferd, das auf seinen Ausritt wartete. Bernward von Pragenau, mit dem Kirchner sich die Schlafstube in der Kaserne teilte, überließ ihm seinen Grani. Der Hengst mochte vor einigen Jahren ein feuriger Rappe wie Siegfrieds Pferd im Nibelungenlied gewesen sein. Inzwischen aber war Grani trotz seines sagenhaften Namens ein gemütliches Tier. Er hatte sicher nicht verrücktgespielt wie die anderen Gäule hier. Nein, Grani musste warten.

Die Hilfeschreie klangen noch in Kirchners Ohr - konnte das ein Mensch gewesen sein? Er musste nachschauen, sonst würde er keine Ruhe finden. Kirchner rief: »Hallo? Braucht jemand Hilfe?«

Keine Reaktion. Nur ein paar Gäule in unmittelbarer Nähe wieherten. Er bog nach links. Im Neuen Marstall blieb es leise, Hunderte Pferde schnaubten vor sich hin, als hätte es keine Schüsse oder Schreie gegeben. Kirchner lief den Gang hinunter, es konnte nicht mehr weit sein … Der Gestank von Pferdemist biss in der Nase. Merkwürdig, bis eben war ihm das gar nicht aufgefallen - als hätte der Krach seinen Geruchssinn abgelenkt. Konnte das sein? Ließen sich seine sieben Sinne so einfach gegeneinander ausspielen?

Die Schreie - die verstummten Schreie!

Kirchner trat an die Kammer zu seiner Linken und schaute über die Planke. Zwei Grauschimmel guckten ihn an, als sei er ein Hausierer und wolle ihnen etwas verkaufen. Prompt schüttelte das größere der Pferde mit wehender Mähne den Kopf.

Also gut, dann eben die nächste Kammer. Dort stand ein Karster auf seinen kurzen Beinen. Vielleicht gehörte er einem Spross der Hohenzollern, von denen brauchten viele eine Leiter, um auf einen Hannoveraner oder einen Oldenburger zu steigen. Das Tier war grau gesprenkelt und stand still wie beim Appell.

In diesem Bereich des Neuen Marstalls mussten die Zwerge ihre Pferde stehen haben, denn neben dem Karster stand ein Knabstrupper - fleckig, als hätte ein Maler einen Eimer mit schwarzer Farbe über dem Pferd ausgeschüttet. Die Knabstrupper waren bei den Damen sehr beliebt. Die Familie musste gute Beziehungen haben, im Neuen Marstall durfte nicht jeder sein Pferd abstellen. Von Pragenau hatte dieses Privileg seinem Vater und dessen Heldentaten im Kampf gegen Napoleon zu verdanken.

Kirchner kam zu einem weiteren Gang. Sollte er geradeaus gehen oder nach links abbiegen? Er versuchte sich zu orientieren … Links, dort musste die Quelle des Unheils liegen - ganz in der Nähe.

Die nächste Kammer war leer, Pferd und Besitzer jagten sicher durch den Thiergarten. Also weiter! Kirchner lief, schaute über Planken: keine Pferde. Aber von hier musste die Stimme doch gekommen sein!

Ein Araberhengst guckte aus der Ecke der nächsten Kammer und wieherte, kaum dass Kirchner hineinsah. Das Tier war aufgezäumt. Es schüttelte die Mähne, wich in die Ecke zurück und schnaufte. Kirchner schaute über die Planke, die Kammer bot genug Platz für zwei Pferde. In der freien Ecke stand eine Tränke. Er beobachtete das schnaubende Pferd im Augenwinkel und beugte sich über die Bretter. Die Tränke war leer, der Boden mit Stroh bedeckt. Und in dem Stroh ein paar Stiefel. Und Hosen. Uniformhosen. Eine ganze Uniform voller Blut! Ein Mann! Mehr konnte Kirchner für den Moment nicht erkennen. Der Kopf sah aus wie eine blutige Masse. Haarsträhnen glänzten im Schleim. Ob das neben dem rechten Ellenbogen ein Auge war, wollte Kirchner lieber nicht wissen.

Er öffnete die Planke und betrat vorsichtig die Kammer. Der Araber schnaufte unruhig, blieb aber in der Ecke stehen. Kirchner sagte mit tiefer Stimme: »Ist gut, Schwarzer, ist gut.« Er ging auf das Pferd zu, griff nach dem Zügel und machte das Tier an der Wand fest.

Dann betrachtete Kirchner den Leblosen. Die Glieder des Mannes lagen in grotesker Weise verquer - als hätte jemand eine Marionette mit Wucht auf den Boden geworfen und zertreten. Diese Figur … Kirchner überlegte. Woher kannte er diesen Mann? Der Kragenspiegel der Uniform verriet, dass es sich um jemanden von der Artillerieschule handelte, an der Kirchner in diesem Jahr sein Studium absolvierte. Ein Oberst-Lieutenant dem Rangabzeichen nach. Davon gab es unter den Lehrern nur zwei …

Neben der Schulter des Leblosen lag eine Pistole im Unrat. Kirchner hob die Waffe auf.

»Mein Herr …«

Kirchner blickte auf, der Stallmeister stand in der Tür und betrachtete ihn und die Leiche am Boden.

»Sie wurden neben dem Leichnam im Stall angetroffen.« Kirchner überlegte, ob das eine Frage war. Es klang eher wie ein Vorwurf. So, als ob es dem Criminal-Commissarius um die Zeit leidtue, die er mit diesem Verhör verbringen musste. Der Beamte war kleiner als Kirchner und schien trotzdem auf ihn herabzublicken. Als er sich vorstellte, hatte Kirchner den Namen nicht recht verstanden: Wurzel, Erpel oder so. Hamster hätte besser gepasst. Über den Pausbacken lauerten kleine Augen.

Sie saßen in einer Kammer, die der Stallmeister ihnen zugewiesen hatte. Keine Fenster, die Wände grau wie Asche und kahl wie Bäume im November. An Nägeln hing Zaumzeug, auf einem Brett lagen Reitpeitschen. Sie saßen hier allein um einen Tisch aus nacktem Holz, der Criminal-Commissarius und Kirchner. Allerdings schien klar, dass jeglicher Fluchtversuch zwecklos sein würde. Sicher standen alle Bediensteten des Neuen Marstalls vor der Türe und lauschten.

 

Kirchner sagte: »Ich habe den Toten gefunden.«

Der Criminal-Commissarius setzte eine amtliche Miene auf und blaffte: »Name?«

»Ich bin nicht sicher, wer der Tote ist. Auch wenn ich ihn zu kennen meine.«

»Machen Sie sich über mich lustig?«

Offenbar sah der Criminal-Commissarius ihm an, dass er die Frage falsch verstanden hatte, denn er sagte schroff:

»In Herrgotts Namen, wie Sie heißen, will ich wissen.«

»Kirchner, Adalbert Kirchner.«

»Geboren.«

»12. Januar 1815. In Reichenbach im Eulengebirge.«

»Schlesier …«

Was sollte Kirchner sagen? Ja, er war Schlesier. Schlesien gehörte zu Preußen. Was also bezweckte der Criminalbeamte mit seinem Einwurf?

»Abkommandiert in die Residenz?«

»Ich belege an der Artillerie- und Ingenieurschule ein Studium der Physik.«

»Physik?«

»Ich beschäftige mich vor allem mit der Optik. Mit den Eigenschaften von Linsen.«

»Linsen …« Der Criminal-Commissarius sah aus, als habe er keinen Appetit auf Hülsenfrüchte.

»Refraktoren …«

»Ja, ja.« Der Criminalbeamte winkte ab. »Genug damit. Jetzt erklären Sie mir, was es mit dem Tod des Herrn Oberst-Lieutenant von Streyth auf sich hat.« Der Commissarius betonte den Rang des Toten, als handle es sich bei dessen Ableben um eine bedeutende Staatsaffäre.

»Der Herr Oberst-Lieutenant von Streyth …« Triumphierend fuhr der Criminal-Commissarius auf.

»Sie kennen das Opfer also! Das geben Sie zu.«

»Er gehört dem Lehrkörper an.«

»Ha!« Der Polizist klopfte auf den Tisch. Er sah aus, als sei die Befragung damit weitgehend abgeschlossen.

In der Tat erschien Kirchner die eigene Lage nicht vorteilhaft. Mit einer Pistole in der Hand neben einer Leiche angetroffen zu werden war schlimm genug. Und nun kannte er das Opfer auch noch. Ausgerechnet Aemilius von Elster, genannt von Streyth, dieser Grobian, gleichermaßen verabscheut von den Studenten wie den Lehrkräften, musste der Tote sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Criminal-Commissarius herausfinden würde, dass von Streyth in einem fort über die naturwissenschaftliche Ausbildung an der Artillerie- und Ingenieurschule gelästert hatte.

»Aber ich …«, begehrte Kirchner auf.

Der Criminal-Commissarius beugte sich vor und starrte ihn so grimmig an wie ein Raubtier. »Ja?« Das klang schon wieder nicht wie eine Frage.

»Ich wollte nur ausreiten. Ich bin in den Stall gekommen und habe die Schreie gehört. Und dann bin ich losgelaufen … Ich wollte helfen!«

»Und dafür hielten Sie eine Pistole in der Hand.«

»Die Waffe lag am Boden neben der Leiche. Ich habe sie nur aufgehoben … und untersuchen wollen.«

Der Criminal-Commissarius schüttelte den Kopf. »Also gut …« Er machte eine lange Pause, blickte Kirchner lauernd an und schüttelte noch einmal den Kopf. Schließlich sagte er: »Fangen wir von vorn an. Sie wollten also reiten. Ihr Pferd steht hier im Neuen Marstall?«

»Also… nein … Ich wollte mit dem Pferd eines Freundes ausreiten.«

»Name?«

»Der meines Freundes?«

Der Criminal-Commissarius guckte, als wolle er Kirchner mit seinem Blick in den Boden stampfen, und schwieg.

»Pragenau. Von Pragenau. Bernward.«

»Der Sohn des Herrn Oberst Hermann von Pragenau?«

»Jawohl, das ist er. Und ich teile ein Zimmer in der Kaserne mit ihm.«

Der Criminalbeamte schaute etwas weniger grimmig - oder kam Kirchner das nur so vor? Pragenaus Name machte allemal Eindruck. Ein wenig erleichtert fuhr er fort: »Bernward ist ganz froh, dass ich hin und wieder mit seinem Pferd in den Thiergarten reite. Die militärische Ausbildung fordert ihn sehr. Und Grani braucht die Bewegung.«

»Grani …«

»So heißt Bernwards Pferd.«

Der Criminal-Commissarius senkte den Kopf, als hoffe er, aus einem anderen Blickwinkel Kirchners Gedanken lesen zu können. »Also zurück zur Leiche. Sie haben die Schreie gehört und sind losgelaufen. Einfach so? Woher wussten Sie denn, an welcher Stelle die Tat geschah?«

»Ich wusste es nicht. Ich lief in Richtung des Lärms. Dann wurde es wieder ruhiger, und ich habe gesucht, habe in die einzelnen Kammern geschaut, bis ich … das Unheil entdeckt habe.«

Der Criminalbeamte sah nicht aus, als glaube er ihm auch nur ein Wort. Er winkte ab und sagte: »Das klingt mir alles sehr zufällig. Ich denke mal, ich nehme Sie jetzt mit und lasse Sie ein paar Tage in der Stadtvogtei am Molkenmarkt zu Sinnen kommen. Und dann unterhalten wir uns noch einmal ganz in Ruhe über die Pistole in Ihrer Hand, Herr Kirchner.« Mit einem weiteren Kopfschütteln stand der Criminal-Commissarius auf.

Die Tür quietschte. Im Rahmen drehte der Criminalbeamte sich noch einmal um und betrachtete Kirchner, immer noch kopfschüttelnd. Es sah aus, als habe der Criminal-Commissarius Mitleid mit einem Delinquenten auf dem direkten Wege zum Henker.

Die Tür fiel ins Schloss, der Schlag dröhnte in Kirchners Ohren.

Von Schnödens dringliche Botschaft erreichte den Major Christian Philipp von Gontard ausgerechnet in jenem Augenblick, in dem er seine Wohnung am östlichen Ende der Dorotheenstraße zu verlassen gedachte, um sich - wie so oft des Nachmittags - mit seinem Freund, dem Mediciner Doktor Friedrich Kußmaul, im Café Stehely dem Vergnügen eines geistreichen, mitunter auch ins bloße Plaudern oder in die Erörterung eines interessanten Criminalfalls abgleitenden Disputs hinzugeben. Im berüchtigten und zu dieser Jahreszeit angenehm kühlen Roten Zimmer bei Stehely mangelte es nie an Gesprächsstoff und -partnern - ebenso wenig wie an unerwünschten Zuhörern. Das Spitzel- und Denunziantenunwesen, dessen Ende man bei der Krönung von Friedrich Wilhelm IV. vor vier Jahren erhofft hatte, stand in giftiger Blüte, und die hochmütigen Äußerungen des gleichermaßen kunstsinnigen wie redseligen und bigotten Königs ließen kaum eine Änderung erwarten.

Der Major von Gontard, als einer der Enkel des berühmten gleichnamigen Baumeisters aus altem hugenottisch-preußischem Adelsgeschlecht stammend, hatte seine eigenen Erfahrungen mit den Agenten des Doktor Wiesenburg gemacht, des obersten Herrn der behördlichen Zuträger. Bei allem Interesse, das Gontard aus Passion dem Verbrecherischen entgegenbrachte, reizte ihn das von Wiesenburg und seinen Kundschaftern überwachte Gebiet der politischen Criminalität allenfalls zu gehörigem Widerspruch. Den behielt er klugerweise für sich, oder er ließ allenfalls im vertraulichen Gespräch mit Kußmaul oder einem ähnlich Vertrauten durchblicken, was er dachte. Preußen war eben trotz seiner gewaltigen Ausdehnung zwischen Memel hoch oben im Nordosten und Kleve weit im Westen die enge, beschränkte Monarchie geblieben, die ihre Untertanen zu gängeln pflegte.

Gontard kleidete sich also nach dem vormittäglichen Unterricht und einer hitzigen Übungsstunde auf dem Fechtboden gerade um, als ihn die Nachricht des Directors der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule überraschend in den Neuen Marstall rief. Das mächtige Gebäude mit seiner barocken Fassade zu den Linden hin, in dessen Obergeschoss die Königliche Akademie ihren Sitz hatte, erstreckte sich im ausgedehnten Geviert neben der Universität bis hin zu den weniger prächtigen Bauten in der verlängerten Dorotheenstraße und war von Gontards Quartier aus bequem mit wenigen Schritten zu erreichen. Mehrmals hatte Gontard versucht, seinen Hengst Waldemar in dem so günstig gelegenen Stall unterzubringen, war jedoch an den rigiden Bestimmungen gescheitert. Nur Prinzen und Hofschranzen von Geblüt sowie wenigen auserwählten Eximierten, also über das gemeine Volk Erhabenen, wurde das Einstellen ihrer Reit- und Kutschpferde gestattet. Dass ausgerechnet sein Kollege und erklärter Widersacher Aemilius von Elster, genannt von Streyth, zu diesen Bevorzugten gehörte, hatte ihn von jeher geärgert, aber gerecht ging es nun einmal nicht zu in dieser Welt - und schon gar nicht in Preußen.

Der Oberst-Lieutenant von Streyth, dessen Namen der wortkarge Rittmeister als Opfer eines blutigen Vorfalls im Marstall genannt hatte, gehörte wahrlich nicht zu jenen Personen, denen Gontard besondere Sympathie entgegenbrachte. Vier Jahre zuvor, in ebenjenem Hoffnungsherbst nach dem Tode von Friedrich Wilhelm III., war Gontards junger Freund und Kollege, der hoffnungsvolle Wissenschaftler Gebhardt Heidenreich, das Opfer einer unsinnigen Mordtat geworden, und beinahe hatte es ausgesehen, als wäre der starrsinnige alte Militär von Streyth nicht ganz unbeteiligt daran gewesen. Gemeinsam mit Kußmaul war es Gontard schließlich gelungen, den wahren Mörder zur Strecke zu bringen. Sein ohnehin gestörtes Verhältnis zu dem allseits wenig geschätzten Oberst-Lieutenant aber blieb dauerhaft getrübt und drückte sich in gegenseitiger Nichtbeachtung aus.

Von Streyth, dem nicht allein nach Gontards Urteil jegliche Befähigung zur wissenschaftlichen Lehrtätigkeit abging, dem man jedoch nicht von ungefähr eine höhere Gönnerschaft im Herrscherhaus nachsagte, war nach einem gut einjährigen Urlaub auf seinen ostpreußischen Gütern zur Überraschung aller wieder auf seine alte Stelle an der Artillerieschule zurückgekehrt. Nun verstreute er seine ebenso bescheidenen wie antiquierten militärischen Kenntnisse über die jeweilige schläfrige Zuhörerschaft. In letzter Zeit hatten sich die Stimmen gemehrt, die seine endgültige Entfernung von der Schule forderten. Lag es daran, dass im Jahre 1843 eine gewisse Persönlichkeit verstorben war, die bis dahin die schützende Hand über den Oberst-Lieutenant gehalten hatte?

Es hieß allgemein, von Streyth sei vor zwei Jahren nur auf den dringenden Wunsch seiner jungen Gemahlin in die Residenzstadt zurückgekehrt. Eine einleuchtende Annahme, wie Gontard fand, der insgeheim viel mehr als jeder andere über jene Melitta von Streyth wusste, die einmal seinem Freund Heidenreich sehr nahe gestanden hatte.

Das alles ging ihm durch den Kopf, während er im Sturmschritt an der Wache in der Charlottenstraße vorbei zum Hintereingang des Neuen Marstalls eilte. Über dem Gebäude erhob sich noch immer der Turm der alten Sternwarte, den man für optische Telegraphie benutzte. Gemeinsam mit Heidenreich hatte Gontard an einem elektrischen System gearbeitet, das inzwischen auch ohne ihr Zutun seinen Siegeszug angetreten hatte. Wieder einmal war der wissenschaftliche Ruhm an ihm vorbeigegangen. Zumindest konnte er sich mit seinen Erfolgen bei der Aufklärung von Mordtaten darüber hinwegtrösten.

Hatte ihn von Schnöden deshalb benachrichtigt? Niemand dachte bei einem Unfall im Stall an einen Mord. Nur hatte der Rittmeister von einer Pistole gesprochen, die jemand in der Hand gehalten habe - wer auch immer es sein mochte. Vergeblich hatte Gontard versucht, eine klare Auskunft zu erlangen. Die würde er nun hoffentlich finden.

Die vertrauten Ammoniakdüfte des Pferdestalls ließen ihn keinen Augenblick zögern. Eilends durchschritt er die Gänge, bis er vor einem Nebengelass eine Ansammlung von Männern gewahrte, während zwei abgerissene Gestalten gerade damit beschäftigt waren, auf einer Bahre einen mit einer groben Decke bedeckten Körper davonzuschleppen. Dem Umfang nach konnte es sich durchaus um den Oberst-Lieutenant handeln.

»Halt, halt!«, rief von Gontard, während er warnend die Hand hob. Und tatsächlich ließen die beiden ihre Last sinken und setzten sie ab, worauf jemand in ärgerlichstem Ton ihnen befahl, gefälligst ihrer Pflicht nachzukommen.

Gontard kannte diese Stimme. Er war dem Criminal-Commissarius Werpel bereits mehr als einmal begegnet, ja gelegentlich auch mit ihm aneinandergeraten. Werpel sah es höchst ungern, dass sich ein blutiger Dilettant, und sei es im königlich-preußischen Rock eines Majors der Artillerie, in seine amtlichen Angelegenheiten einmischte - und noch dazu mit Erfolg. »Der Mann ist tot!«, stellte der Criminal-Commissarius auch diesmal mit einer Endgültigkeit fest, die Gontard innerlich sofort gegen ihn aufbrachte.

»Daran zweifle ich nicht«, sagte der im Näherkommen.

»Dennoch würde ich gerne einen Blick auf die Leiche werfen.«

Immerhin zögerten die beiden mit der Bahre.

»Das ist wahrlich nicht nötig«, wandte nun der Herr von Schnöden ein und schüttelte sich. »Kein angenehmer Anblick, versichere ich Ihnen, und ich habe so manchen Toten gesehen.«

Er reichte von Gontard zu dessen Überraschung die Hand und drückte sie fest. »Gut, dass Sie gleich gekommen sind.« Er senkte seine Stimme. »Ein schrecklicher Tod, vom eigenen Gaul niedergemacht zu werden. Überdies droht die Angelegenheit eine unangenehme Wendung für unser Institut zu nehmen …«

 

Werpel, der wohl glaubte, sich gegenüber einem Major gewisse Freiheiten erlauben zu dürfen, war klug genug, einen hohen Stabsoffizier wie von Schnöden nicht zu verärgern. Er schlug die Hacken zusammen, was auf dem strohigen Untergrund des Stalls wenig Effekt machte, und erklärte stramm: »Ich verlasse mich auf die Absprachen mit dem Herrn Generalmajor!«

Von Schnöden nickte ihm gnädig zu und sagte halblaut zu Gontard: »Und ich verlasse mich ganz auf Sie und die diskrete Aufklärung dieser leidigen Angelegenheit, mein lieber Herr Major. Ich hoffe, es gelingt Ihnen, dem Täter auf die Spur zu kommen.«

»Ich werde mir die größte Mühe geben«, versprach Gontard, der noch immer keine Ahnung hatte, was hier wirklich vorgefallen war.

Der Generalmajor nickte noch einmal aufmunternd und sagte stirnrunzelnd: »Mir bleibt die traurige Pflicht, der Witwe die Unglücksbotschaft zu überbringen.« Damit wandte er sich zum Gehen.

Gontard, grüßend, versuchte, sich mit einem Blick eine gewisse Übersicht über die Lage zu verschaffen. Da waren einerseits die Leichenträger, die es aufzuhalten galt, und da war andererseits der Criminal-Commissarius, der sich zu dem Rittmeister gesellt hatte. Der wiederum stand an der Bohlentür eines abgeteilten Raumes.

Ruhe. Kirchner merkte, wie ihn das Verhör angestrengt hatte. Er hockte immer noch auf dem Schemel und kam sich vor, als hätte er ein Brett verschluckt. Dabei war der Polizist gar nicht mehr da.

Erst jetzt bemerkte er, dass er zitterte. Er musste nachdenken … Dazu würde er bald viel Zeit haben, wenn er in der Stadtvogtei saß. Aber würde er dort Ruhe finden? Wie viele Sünder saßen in so einer Zelle? Was hatten die anderen verbrochen?

Halt. Er hatte gar nichts getan. Allerdings gelang es ihm nicht, sich ein Zuchthaus voller Unschuldslämmer vorzustellen - schon gar nicht in Berlin. Manchmal, wenn er in der Dunkelheit durch die Straßen der Residenzstadt ging, fragte er sich bei manchen Leuten, wieso die frei herumlaufen durften. Wenn er es recht bedachte, wollte er lieber nicht daran denken, welche Art von Gesindel in der Stadtvogtei strandete.

Vielleicht sollte er einfach versuchen zu verschwinden. Aber wie? Aus der Kammer führte nur diese eine Tür, und er konnte nicht davon ausgehen, dass er nur den Türschieber zu betätigen brauchte, um hinauszuspazieren. Vor der Tür saß bestimmt eine Wache. Andererseits - wo blieb dieser Criminal-Commissarius? Hatte die Polizei ihn vergessen? Sollte er einfach die Tür öffnen und nachschauen?

Vielleicht war es besser, zunächst bei geschlossener Tür zu lauschen. Kirchner stand auf und schlich zu der aus groben Bohlen zusammengefügten Tür. Er legte das Ohr an das Holz und vernahm Stimmen. Da draußen sprachen Leute, eine Flucht kam also nicht in Frage. Er verstand kein Wort. Aber wenn er sein Ohr nicht an das Holz, sondern an den Schlitz der Schiebevorrichtung drücken würde …

Kirchner zögerte. Wenn plötzlich die Tür aufging und er daran klebte, wäre das sicher nicht geeignet, den Mordverdacht gegen ihn zu entkräften. Andererseits hatte der Polizist sich offenbar bereits festgelegt und hielt ihn für einen Verbrecher. Was also konnte er verlieren?

Er betrachtete den Schiebeknauf. Der stand mitten in der Fuge. Damit sein Ohr Platz an einer freien Stelle fand, musste er den Riegel ein wenig zur Seite schieben. Aber er durfte keine Geräusche verursachen.

Vorsichtig zog er an dem Riegel, Millimeter für Millimeter, bis genug Platz war. Dann presste er das rechte Ohr gegen den Schlitz.

»… ich denke, das haben Sie nicht zu entscheiden.«

Die Stimme kannte er. Kirchner überlegte, sicher kam er gleich darauf, wem sie gehörte.

»Ich gebe zu bedenken, sehr geehrter Herr Generalmajor, es handelt sich um Mord. Da ist es nun einmal meine Pflicht …«

»Ich trage die Verantwortung für die Angehörigen meines Instituts! Bei dem Lieutenant Kirchner handelt es sich um einen Studiosus der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Er dient in der Armee des Königs und untersteht damit der Militärjustiz.«

Von Schnöden, der große Rektor persönlich - Kirchner wusste nicht, ob er sich über die Intervention des hohen Offiziers freuen sollte. Welch ein Aberwitz! Nur weil er einem in seiner Not schreienden Mann hatte helfen wollen, stand er im Blickpunkt der Polizei und eines Generals der preußischen Armee.

»Auch wenn es sich bei dem Verdächtigen um einen Studenten Ihrer Schule handelt, bleibt ein Mord ein Offizialdelikt.« Das klang fast nach Rückzug.

Von Schnödens Stimme schwoll dennoch leicht an.

»Criminal-Commissarius Werpel, machen Sie sich nicht lächerlich! Die Armee unseres Königs schützt keine Mörder. Und ich schon gar nicht. Oder wollten Sie das etwa behaupten?«

Der Criminalbeamte entgegnete nichts. Gerne hätte Kirchner jetzt das Gesicht Werpels gesehen.

»Nun also …« Von Schnöden beendete das Schweigen.

»Wir werden selbstverständlich dafür sorgen, dass Lieutenant Kirchner jeder Strafe zugeführt wird, die er verdient. Darauf haben Sie mein Wort als preußischer Offizier.«

Das hörte sich gut an, fand Kirchner. Die Stadtvogtei würde ihm erspart bleiben, zumindest vorerst.

»Und wenn ich Fragen an den Delinquenten habe?«

»Nun, mein werter Criminal-Commissarius, wir nehmen die zivilen preußischen Behörden ernst.« Von Schnöden klang wie ein Diplomat, der einem Gegner die Bedingungen eines Waffenstillstands diktierte. »Sie können in den Räumen unserer Einrichtung Ihre Ermittlungen in einem angemessenen Umfang durchführen. Und sollten Sie begründete Verdachtsmomente gegen einen Offizier vorbringen, dann stehen Ihnen selbstverständlich Örtlichkeiten für ein Verhör zur Verfügung.«

Der Polizist murmelte Worte, die Kirchner nicht verstand. Aber Werpel klang nicht glücklich. Es schien, als habe der Herr Criminal-Commissarius sich mit seiner Niederlage abgefunden.

Draußen näherten sich Schritte. Militärstiefel hallten auf dem Gang wie Hämmer. Es mussten mindestens zwei Personen sein.

»Vielen Dank, Herr Rittmeister, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« Generalmajor von Schnöden sprach weiter in einem hochamtlichen Tonfall. »Und schön, dass Sie auch gleich kommen konnten, Major von Gontard. Die Herren kennen sich?«

Von Gontard! Nun glaubte Kirchner tatsächlich an seine Rettung. Der Major gehörte nicht nur zu den beliebtesten Lehrern der Artillerie- und Ingenieurschule, es kursierten auch Legenden über Gontards Erfolge als privater Ermittler in Criminalfällen.

Kirchner hörte, wie die Männer sich begrüßten, Gontard mit einem freundlichen »Ich grüße Sie, Herr Criminal-Commissarius«, Werpel hingegen mit einem grimmigen »Ganz meinerseits, Herr Major«.

Mit einem Satz sprang Kirchner zurück. Gerade rechtzeitig, bevor die Tür aufging.

»Der Pistolenschütze!«, erklärte Werpel und wies mit einer dramatischen Geste auf den Uniformierten, der hinter der offenen Bohlentür stand. Die Gesichtszüge vermochte Gontard im Dämmerlicht des Stalls nicht zu erkennen.

»Einer Ihrer … Herren Studenten!«, sagte Werpel schneidend.

Unwillkürlich trat von Gontard einige Schritte näher.

»Kirchner!«, sagte er erstaunt. Alle Jahre wieder bereitete es einige Mühe, sich die Gesichter und Namen der Neuzugänge einzuprägen. Der Lieutenant Kirchner hatte ihm das durch sein lebhaftes Interesse an der Physik und durch mancherlei intelligente Fragen einigermaßen erleichtert. Und nun schien ausgerechnet dieser Musterschüler in den Tod von Streyths verwickelt!

»Ich bin keineswegs der Schütze, Herr Major!«, beeilte der sich allerdings zu erklären. »Ich habe lediglich die Waffe neben dem Toten aufgefunden.«

»Aber es ist geschossen worden?«

»Das nehme ich doch an. Möglicherweise hat ja der Herr Oberst-Lieutenant selber die Waffe …« Kirchner verstummte mitten im Satz.

Gontard maß ihn mit einem scharfen Blick. »Wo ist diese Waffe?«, wandte er sich an den Criminal-Commissarius.

Der entgegnete, indem er stolz auf die sichtbare Wölbung seiner Uniformjacke schlug, mit einem schiefen Lächeln: »Selbstredend beschlagnahmt, das Corpus Delicti!«

»Darf ich es sehen? Das heißt, nachdem ich vielleicht bei etwas besserem Licht einen Blick auf den Leichnam habe werfen können …«

Der Criminal-Commissarius rang mit sich, sah jedoch keine Möglichkeit, Gontards Verlangen schlichtweg abzulehnen. »Wir müssen ohnehin über den Hof«, sagte er streng und gab den Bahrenträgern ein Zeichen, ihre Last aufzunehmen.

Auf Gontards Wink hin schloss sich Kirchner ihnen an. Im Hof empfing sie die pralle Nachmittagssonne. Gontard hieß die beiden Träger die schäbige Bahre absetzen und schlug die grobe Decke zurück. Von Schnöden hatte nicht übertrieben. Es war wahrhaftig kein erinnernswerter Anblick, den der zerschmetterte Schädel von Streyths bot. Auch dem restlichen Körper hatten die Pferdehufe sichtbar zugesetzt. Schaudernd bedeckte Gontard den Leichnam wieder. »Sie werden den Corpus des Herrn Oberst-Lieutenant bitte gleich ins Anatomische Theater hinter der Garnisonkirche bringen!«, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Achselzuckend hoben die Träger ihre Last an. Werpel wollte ihnen folgen, doch Gontard hielt ihn zurück. »Die Pistole«, erinnerte er den Criminal-Commissarius ebenso freundlich wie nachdrücklich.