Oooh, Dicker, mein Dicker ...

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Jamo Mantam

OOOH, DICKER, MEIN DICKER …

Geschichten vom Blödhammel aus Brummelbach

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

IN MEMORIAM

Inge R.

Wolfgang R.

Roswitha R.

Werner R.

Ihr hättet euch ruhig noch etwas Zeit lassen können.

Elli T.

Erich T.

Ihr seid keinesfalls vergessen.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

In Memoriam

Prolog

Alles auf Start

Das erste Mal

Fahrradtouren

Das geht doch noch

Der Herr der Fliegen

Frau Daniels Salami

Ein paar Bierchen

Gebrochene Knochen – und eine Bewerbung

Das Auto

Ein gepflegtes Gespräch

Grillzeit

Das Internet

Ein Brief an die Staatsanwaltschaft

Klopapier

Gelbe Säcke

Klopfzeichen

Mittagspause

Nüsse schlachten und Löffelkram

Leib und Seele

Schusselmania

Epilog

PROLOG

Mein liebes, kleines Dickerchen!

Danke, danke, danke für all deine Liebe und alle deine Schrullen und Eigenheiten, Danke für deinen Dickschädel und deine verqueren Verrücktheiten, Danke für deinen gelebten Irrsinn und liebevoll gepflegten Wahnsinn, mit dem du, mich an der Hand, durchs Leben taumelst.

Danke für all dies, was dieses schöne Büchlein erst möglich gemacht hat.

Und glaube mir eines: den Rest schaffen wir auch noch.

In herzlicher Zuneigung (wenn auch bisweilen von blankem Grausen geschüttelt)

Deine Kleenä!

ALLES AUF START

So. Also. Da wäre ich nun. Stehe am Start und soll anfangen. Kauere hier in meinen Startlöchern und fühle mich bemüßigt, drauflos zu preschen. In Richtung dieses Es-Ist. Doch je mehr ich über dieses Es-Ist, also über die Gegenwart, genauer spekuliere, umso ärger beschleicht mich der Verdacht, dass dies vielleicht die verkehrte Richtung ist, die ich einzuschlagen gedenke. So rum geht das nämlich nicht. So herum komme ich in Erklärungsnot. Denn wenn ich dieses gegenwärtige Es-Ist direkt aufgreife und hier beginne, dann wird der geneigte Leser spätestens nach fünf Seiten dieser expliziten Lektüre davon überzeugt sein, es mit dem krausen Werke einer waschechten Psychopathin zu tun zu haben. Was ich aber nicht bin. Genauer gesagt, noch nicht. Der Prozess meiner Wandelung in Richtung Geschlossene Anstalt ist noch im Wachsen begriffen. Im Reifen sozusagen. Er hat begonnen, dieser Prozess, und ich schätze mal, es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis ich es zu drei Mal täglich Essen umsonst geschafft habe. Aber bevor ich unweigerlich dort lande, wohin ich derzeit stark tendiere, habe ich noch etwas zu erledigen. Das muss ich noch machen, ehe mein letztes Restchen geistiger Gesundheit unwiderruflich auf der Strecke bleibt. Und dazu stehe ich jetzt hier. Auf Start.

Denn jemand hat mir mal während meines endlosen Jammerns und Wehklagens einen Stift in die Hand gedrückt und einen Block vor mir auf den Tisch geschmissen und gesagt: „Schreib’s auf! Schreib das alles mal auf und sieh zu, dass du deine Psychosen in den Griff kriegst! Schreibe der Traumabewältigung wegen! Schreibe, um dein Herz zu erleichtern! Schreibe, um all dies Elend durch die Tinte hindurch gereinigt zu Papier zu bringen! Schreibe einfach! Schreibe, schreibe – aber HÖR ENDLICH AUF ZU HEULEN!“

Tja, und somit stehe ich also auf Start, bereit, mich auf die Suche zu machen durch dieses Tal meiner ganz speziellen Tränen, und erneut steht da die ganz vage Ahnung, die falsche Richtung einzuschlagen, wenn ich nun einfach losrenne. Nein, ich kann das so nicht machen. Sonst kann ich gleich losziehen, klingeln gehen und fragen, ob die noch eine Jacke zum hinten zubinden für mich übrig hätten. Nein. Um plausible Erklärungen abliefern zu können, die mich nicht als allzu behämmert dastehen lassen, muss ich mich umdrehen. Ich muss in die verkehrte Richtung durchstarten. Wenn alle anderen geradeaus in ihre glorreiche Zukunft preschen, muss ich nach hinten rennen, zurück sprinten; ich muss quasi falsch herum davonlaufen. Um meinen eigenen vernünftigen Anfang zu finden, muss ich mich umdrehen und irgendwo da hinten, in der Vergangenheit mein Ziel finden. Wo ich anfangen kann.

Also schauen wir mal zurück, drehen ums am Besten gleich ganz herum und lassen uns in unserem Tun nicht beirren, so komisch das alles jetzt auch auf den ersten Blick aussehen mag. Aber das hat System. Wir werden gleich sehen, warum. Sicher, alle anderen an unserer Startlinie schauen momentan irritiert zu uns über die Schultern zurück, fragen sich, was das verrückte Luder denn damit bezweckt, die Startposition in entgegen gesetzter Richtung eingenommen zu haben. Doch das wird sich gleich ändern. Denn ein Blick über unsere eigene Schulter offeriert uns einen Startschussgeber, der bereits seine Pistole mahnend gen Himmel gehoben hat und sein akustisches Zählwerk zum Einsatz bringt – „Threeee!“ –, und nun schauen alle unsere Mitstreiter so oder so wieder geradeaus in die geplante Laufrichtung. Wir verschwinden wieder aus deren befremdetem Fokus, werden nunmehr freigegeben für unsere eigene, verquere Laufrichtung. Dann erklärt uns das akustische Zählwerk ein vorbereitendes „Twooo!“, und alle Mitläufer begeben sich in die angespannte, leicht gebückte Sprintstellung, die Knie geduckt, linker Ellbogen nach hinten, rechter Ellbogen nach vorn, der Blick fest geradeaus, wo in weiter Ferne irgendwo das Ziel liegen mag; ein Ziel, welches mich nicht tangiert, da ich ja als Einzige in dieser illustren Runde anders herum muss! Dann mahnt das Zählwerk ein klar definiertes „One!“, welches alle Mitläufer animiert, tief einzuatmen und die Luft anzuhalten, bis das befreiende Päng erschallen mag. Nur ich atme weder ein noch aus, noch halte ich die Luft an, denn meine Nase fängt an zu laufen. Wahrscheinlich ein hoch motiviertes Stellvertretersyndrom für meine Beine, die noch nicht laufen dürfen, weil es ja noch nicht Päng gemacht hat. Somit schniefe ich vor mich hin, schaue wieder über die Schulter zurück, wische mir die Nase, frage mich, wann es denn wohl endlich losgehen mag, und dann kracht endlich das erlösende Päng! Dann sehe ich nur noch wirbelnde Arme und Beine, rhythmisch aufblitzende Schuhsohlen, hektisch zuckende Ellbogen; all das entfernt sich rasch und rascher und wird verhüllt von einem emporsteigenden, gazeartigen Vorhang aus Staub, und da laufen sie hin! Laufen drauf zu, einem glücklichen, viel versprechenden Zielgebiet entgegen, das noch weit, weit vor ihnen liegt und ihnen alle Kraft und Bereitschaft abringen wird, ehe es sich überhaupt in Sichtweite zeigt. Was auch immer es für den Sieger bereit hält …

Ich hingegen, - nun, ich drehe mich wieder in Richtung Verkehrt-Herum um, wische noch einmal meine triefende Nase mit dem Handrücken, richte meinen Blick zurück in eine längst verblasste Vergangenheit und humple tapfer drauf los! Mit weichen Knochen und müden Gliedern, aber dennoch guten Mutes und festen Willens. Denn ich habe einen Auftrag zu erfüllen, der da lautet: Schreib! Den kann ich nur erfüllen, indem ich in die Vergangenheit zurück reise, anstatt in die Zukunft, wie alle anderen auch. In die Vergangenheit muss ich zurückstapfen! Nicht ins Jura oder früheste Pleistozän, sondern in meine eigene Vergangenheit, meine ganz eigene! Langsam und stetig, eifrig darauf bedacht, nicht zu straucheln über die letzten Jahre meiner persönlichen Vergangenheit!

 

Ein Jahr lege ich zurück, und weiter, immer weiter, dann das zweite Jahr, und jedes weitere vergangene Jahr, das sich vor mir auftut, ist angefüllt von ungezählten chaotischen Begebenheiten und bizarren Erfahrungen! Drei Jahre, auch nicht besser; dann vier Jahre, die wir nun geschafft haben, das rückblickende Kaleidoskop dreht und dreht sich, die bunten Scherbenbilder fügen sich und trennen sich und fügen sich und stieben wieder auseinander; und neues Vergangenes kommt mir wieder in den Sinn, die Erinnerung an Peinlichkeiten und Gemeinheiten überschwemmt mich, und ich hinke zäh weiter zurück auf der Suche nach meinem ganz persönlichen Start, nach der einen Stelle, die den Punkt markiert, an dem alles angefangen hat! Das fünfte Jahr, wir sind fast vorbei, dieses fünfte Jahr, als ich mir erstmals einzureden versuchte, dass das alles so schlimm ja nun doch nicht sei, während ich mir vor sechs Jahren darüber klar wurde, dass es schlimmer eigentlich nicht mehr kommen könne. Indes ich vor sieben Jahren mit mir selbst im Streit über meine Empfindungen von Schlimm und Nicht-So-Schlimm lag, mit mir haderte und mich fragte, was denn da wohl über mich hereingebrochen war! Aber um all das erklären zu können, muss ich noch weiter zurück, immer weiter, während die Vergangenheit an mir vorbeizieht wie bleischwerer Dunst, eine einzige Katastrophe, die ich bis heute nicht ganz zu verstehen und deuten mag. Aber ich darf nicht stehen bleiben, um darüber zu philosophieren, dazu ist später noch Zeit! Denn nun vermag ich ihn auf meinem Stolperweg auszumachen, einen ganz schwachen, grauen Klecks am sachte leuchtenden Firmament der Konturlosigkeiten! Ein formloses Stück Grau oder Dunkel vor den verwaschenen Schlieren einer von mir oft verleugneten Vergangenheit! Eine Vergangenheit, die ich nur zu gern vergessen würde, aus meinem Gedächtnis, ja, meinem ganzen Dasein einfach löschen, tilgen! Aber das geht nicht, denn diese verhasste, so heiß geliebte Vergangenheit ist Teil von mir, sie gehört zu mir, ist ein Stück meiner selbst, und sie hat mich begleitet bis hier in die Gegenwart, in welcher ich mich ramponiert und demoralisiert bewege, und sie wird weiter bei mir sein in eine ungewisse Zukunft hinein, der ich mit kaltem Grauen entgegen starre und sie dennoch mit weit geöffneten Armen willkommen heiße!

Aber um dies alles zu erklären, muss ich erst diesen schwachen, grauen Klecks in der Vergangenheit erreichen, der nun seinerseits näher rückt, wenn auch langsam und quälend, aber allmählich an Konturen hinzu gewinnt. Ganz langsam – mein Gehumpel wird etwas rascher – wird sich das Erkennen dieser Schemen in das eigentliche Erkennen des Objektes hinein wandeln; ja, tatsächlich! So nach und nach erweitert die Erkenntnis mein Bewusstsein, und hinter dem heillosen Gewusel von Erinnerungen, die als die letzten sieben Jahre an mir vorbeiziehen wie eine lückenlose Abfolge blanken Wahnsinns, tut sich langsam dieser dunkle, größer werdende Schemen vor mir auf! Ein kastenförmiges Gebilde, noch im Nebel sich lichtender Erinnerungen, ein Kasten wie ein Wagen etwa! Ein Wagen auf Rädern vielleicht! Näher! Ich muss noch näher heran, und die nebulösen Fetzen verdrängten Wissens heben sich langsam, geben mehr Blick auf das wagenartige Ding frei, noch immer nur irgend ein Kasten auf Rädern. Doch die eine, uns zugewandte Seitenfront zeigt sich geöffnet von ganz links bis ganz rechts, und in der Mitte dieser Öffnung, da bewegt sich etwas; dieses Etwas arbeitet, werkelt inmitten dieses Kastens, und wenn man näher herankommt, dann kann man diesen Kasten erkennen als keinen Wagen im Sinne von einem Wagen, sondern es ist ein ganz besonderer Wagen! Ein Wagen mit einer ganz speziellen Eigenschaft, einer ganz besonderen Bestimmung! Ein Wagen, der einen leisen, köstlichen Duft verströmt und einen wie ein erpresserisches Versprechen heranlockt! Ein Duft, der Verbotenes verheißt, Gelüste für einen ganz bestimmten Sinn, Gelüste für den Gaumen, Reizmerkmal an die Zähne, Sinnesfreude an die Zunge; Kalorien, ja, Kalorien, fetttriefend, gehaltvoll und absolut verboten! Ja, da ist er wieder! Da steht er wieder in vollem Glanz, herausgeschält aus dem wabernden Dunst verdrängter Erinnerungen! Da ist er wieder, duftend, lockend, bereit, mir das Geld aus der Tasche zu ziehen und in abgewandelter Form wieder auf die Hüften zu packen! Da ist er, seit acht Jahren rigoros aus meinem Gedächtnis gestrichen und nun, beim einsamen Einhumpeln in meine ganz persönliche Zielgerade, präsent wie einst im Sommer 2005! Da ist er wieder! Mein – …

BRATWURSTSTAND!!!

Mein Wurststand …

An dem alles begann, nunmehr vor über acht Jahren, als das Böse über mich hereinbrach in Form einer eigenartigen Kreatur. Ein – ein Ding, das mir in wochenlanger, mühseliger Kleinarbeit auflauerte, mich so lange umzingelte, ausspähte, begutachtete und schlussendlich für gut genug befand, um einen folgenschweren Zugriff zu unternehmen, in dessen gnadenloser Umklammerung ich mich bis zum heutigen Tage vergeblich winde und zapple und aus der ich mich schätzungsweise bis zu meiner Einäscherung nicht mehr werde wieder herauswursteln können …

Dies alles fand seinen Anfang an meinem Wurststand. Diesem harmlosen Wurststand, dem ich bis vor acht Jahren mein dienstägliches, mittagspausendes Wohlbefinden anvertraute und durch den mein bis dahin wohl behütetes, ruhiges und vollkommen in mir ruhendes Dasein ins blanke Chaos gestürzt wurde. Von diesem eigenartigen Etwas, das mich entdeckte, einkassierte, und das ich nun an der Backe kleben habe, solange ich noch eines Atemzuges fähig bin. Ich kriege es nämlich nicht mehr los, dieses komische Subjekt. Ich kann mich dessen hartnäckiger Präsenz nicht mehr erwehren. Ich kann es abzuschütteln versuchen, wegschleudern, ich kann daran kratzen und darauf herumtrampeln, - es ist dennoch stets da. Ist immer bei mir und nicht mehr wegzuleugnen aus meinem Leben. Es ist da, klebt an mir wie eine hässliche, riesengroße und widerwärtige Warze, die alle Welt sehen kann! Und – was noch viel entsetzlicher ist und meinem ansonsten absolut makellosen Leumund nicht unbedingt günstig – auch hören! Denn sobald dieses Etwas den Mund aufzumachen gedenkt, und dies zu allem Unglück auch noch während meiner Anwesenheit, so wird aller Welt einmal mehr die Fundamentalität eines Zitates aus der legendären Bergpredigt klar gelegt, in welcher unser Lieber Herr Jesus unter anderem feststellte: Selig sind die, die arm im Geiste. Ja. Diese Tatsache muss man in dem Moment anerkennen, sobald die warzenartige Kreatur, die wie eine Klette an mir hängt, das Wort ans Volk richtet.

Selig sind die, die arm im Geiste …

Oh ja …

Aber Sie merken schon, ich greife vor. Oh, du lieber Himmel, ich glaube, ich verzettle mich hier schon ganz zu Anfang, und dabei wollte ich das alles doch in aller Gemütsruhe angehen. In Ruhe und Vernunft. Doch Gemütsruhe gibt es bei mir schon lange nicht mehr, ehrlich. Meine bis dahin hoch gerühmte innere Ruhe habe ich in jenen folgenschweren Wochen am Wurststand zurückgelassen, und meine Vernunft ist von ganz alleine auf der Strecke geblieben. Wie also soll ich ein solches Projekt, das ich nun in Angriff zu nehmen gedenke, stilistisch handfest und in der Abfolge logisch aufgebaut angehen, nachdem all diese charakterlich notwendigen Attribute, die zum Entstehen einer Geschichte nötig sind, bei mir nicht mehr vorliegen? Grundlegende Stärken, deren Existenz aufs Drastischste hinweggefegt wurden mit einer einzigen, einwörtigen und alles entscheidenden Frage, die da lautete: „Schmeckt’s?“

Wie soll ich über jemanden eine gängige, stilsichere Einleitung hervorbringen, dessen hervorstechenste Eigenschaft darin besteht, dass er total plemplem ist? Dieses Ding. Das zu allem Unglück auch noch mir gehört …

Also gut. Versuchen wir es noch einmal. All meiner drohenden Hysterie zum Trotze, fangen wir nochmal an diesem Wurststand an.

Ja, es stimmt schon. Da war eines schönen Tages so ein seltsames Männlein um mich herum, das mir zunächst überhaupt nicht auffiel. Ein Männchen auf einem Fahrrad. Welches mich immer am Dienstag in meiner Mittagspause in seinen Fokus nahm. Ein Männlein auf einem Rad. Welches mir, zunächst noch aus respektvoller Entfernung, dabei zusah, wie ich mir jeden Dienstag an einer Bratwurstbude, nur unweit von meinem Arbeitgeber installiert, ein Thüringer Rostbratwürstchen mit Semmel und Senf einverleibte. Dies war eines meiner wenigen Rituale, die ich damals hegte und pflegte, und hätte ich nur einen blassen Schimmer von dem bekommen, was dieses Ritual mir für den Rest meines Lebens einbrocken sollte, ich hätte vermutlich – nein, ganz ohne Zweifel! – sehr schnell von Rostbratwürstchen als auch Ritual wieder meilenweit Abstand genommen. Wäre meiner Wege in andere Richtungen gezogen. In irgendwelche sicheren Gefilde, in welchen es keine Männchen auf Fahrrädern gab. Doch ich sah das Unglück nicht kommen, das da seinerseits meine Wenigkeit entdeckt und fortan beschlossen hatte, ab nun zu meinem mich behütenden Schatten zu werden. Zuerst nur dienstags. Dann, ab dem 13. November 2005, für immer …

Wie kommt so etwas? Was wird das für eine Geschichte?

Nun, fangen wir bei mir an. So wird es einfacher. Mein Name tut nichts zur Sache, wie es in diversen Action-Filmen und Kriminalromanen so schön heißt, denn schon allein die Peinlichkeit, diesen radelnden Affen auf dem Pelz zu haben, rät mir, nicht allzu viel von mir preis zu geben. Es reicht schon vollkommen aus, mich in meinem unmittelbaren Umfeld in seiner werten Gegenwart der Lächerlich anheim zu stellen. Also belassen wir es einfach mal bei einem Incognito, nennen wir mich einfach die Kleine. Das langt. Ich bin also die Kleine, das Monster an meiner grünen Seite ist der Dicke. Ganz einfach. Die Kleine und der Dicke. Wie es zu diesen abstrusen Kosenamen kam, werde ich später noch erklären. Jedenfalls sei ab hier ersichtlich, dass es sich bei den weiteren Ausführungen um Männlein und Weiblein handelt.

So. Was noch? Inzwischen zähle ich satte 53 Lenze, die ersten 45 davon verlief mein Leben in relativ geordneten und geregelten Bahnen. Dann, Ende 2005, geschah etwas ganz Grauenhaftes, an dem ich vermutlich noch bis ins hohe Alter zu knabbern habe, sofern ich ein solches überhaupt erreiche. Die Tendenzen in diese Richtung stehen schlecht, - aber so weit sind wir noch nicht. Ich bin kinderlos, nicht verheiratet, aber zu meinem grenzenlosen Unglück liiert, und ich lebe im so genannten Schwäbischen, bin nahe der rauen Alb zur Welt gekommen und aufgewachsen. Hier lebe und arbeite und wohne ich. Meinen Wohnort nennen wir einfach mal Piepshausen. Piepshausen liegt etwa sieben Kilometer von unserer Großen Kreisstadt entfernt, und in dieser Großen Kreisstadt – etwa 50 000 Einwohner – gehe ich zur Arbeit. Neben unserer Großen Kreisstadt, die ich namentlich ungenannt lassen möchte, findet sich gleich angrenzend eine Kleine Kreisstadt, die wir ebenfalls mal links liegen lassen wollen. Und um dieses ganze Spektakel drum herum tummeln sich lauter kleine, mehr oder weniger verschlafene Gemeinden, vom Schwaben gemeinhin als „Käffle“ tituliert. Stuttgart liegt ungefähr 50 Kilometer in die eine Richtung entfernt, Ulm etwa 50 Kilometer in die andere. So gesehen ist die Große Kreisstadt, also MEINE Große Kreisstadt, ein zentraler Punkt. Was aber nicht unbedingt bedeutet, dass meine Große Kreisstadt als ein spektakulärer Standort zu werten ist. Ländlichkeit herrscht hier. Biederes Schwabentum, behäbig; hier nimmt sich die Zeit noch richtig Zeit, um zu vergehen. Alles in allem eine ruhige Beschaulichkeit, in der ich da groß geworden bin. Tja, und einer dieser schwäbischen Biedermänner – in meinem Fall also Biederfrau – bin ich. Aber im Gegensatz zu unserer selbst beweihräuchernden Eigenwerbung – Wir können alles außer Hochdeutsch – KANN ich selbiges. Denn ich bin von hochdeutsch sprechenden Eltern erzogen worden, und daher werde ich mich dieser Ausdrucksform im weiteren Werdegang dieses Projektes auch befleißigen. Ich werde in diesem Buch NICHT schwäbisch sprechen, denn derlei dialektischer Absurdität werden wir uns noch anderweitig gegenübersehen.

Ich lebe also in Piepshausen und arbeite in der Großen Kreisstadt. Dort gibt es ein Geldinstitut, dem ich als Angestellte seit über 35 Jahren meine Treue halte. Ich bin das, was man eine propere Bürodame nennt. Nicht in der Kundenbetreuung tätig, sondern im Verwaltungsbereich, was eine Bank ja schließlich auch braucht, und ich verdiene recht ordentlich. Aber das nur am Rande. Das bedeutet also, ich mache mich morgens in der Frühe hübsch, zupfe mich adrett zurecht, verbringe in dieser adretten Aufmachung meinen Arbeitstag an meinem Schreibtisch, um ebenso hübsch und adrett nach Feierabend den Betrieb wieder zu verlassen und in Ruhe nach Hause zurück zu kehren. So sollte es jedenfalls sein. So war es zumindest noch bis zum November 2005. Und so ist das ja auch noch. Am Montag, Dienstag und Donnerstag. An diesen Tagen kehre ich hübsch und adrett nach Hause zurück, so wie ich mein Heim am Morgen verlassen habe. Mittwochs sieht das etwas anders aus. Mittwoch abends verlasse ich zwar hübsch und adrett meinen Arbeitsplatz, doch bis ich dann zu Hause bin, ist von hübsch und adrett nicht mehr viel übrig! Meine mittwöchige Heimkehr gestaltet sich Woche für Woche als Fiasko, nach welchem ich noch im Flur meiner Piepshauser Wohnung auf die Knie sinke, ins Wohnzimmer rutsche, wo ich vor acht Jahren in einer besonderen Ecke einen kleinen Schrein errichtet habe, und vor diesem lauthals drei Gegrüßet-Seiest-Du-Maria und fünf Rosenkränze als innigen Dank für eine glückliche Heimkehr herunterleiere. Und eine Kerze anzünde.

 

Warum? Nun, weil ich seit November 2005 am Mittwoch immer vom Büro abgeholt werde! Von diesem Männchen. Aber nicht mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto! Ganz stilecht! Ich sollte eigentlich richtig stolz ob dieser Fürsorge sein! Aber ist schon mal jemand mit DEM am Steuer im Auto mitgefahren?

Das kommt noch. Kommt alles noch, wir werden schon sehen …

Nun stellt sich die Frage, wie die propere Bürodame ihre hübsche, adrette Heimkehr des Freitags gestaltet. Nun, gar nicht. Denn am Freitag hat sie gefälligst gleich nach Feierabend ihre Aufwartung in einem anderen „Käffle“ namens Brummelbach zu machen. Weil dort das Männlein, das dort wohnt, seine Kleenäää schon sehnsüchtig erwartet! Das wird dann ein jedes Mal eine nervenaufreibende Aufwartung, die bis zum Sonntag Nachmittag andauert. Ja, diese Aufwartung übers Wochenende gestaltet sich so Kräfte zehrend, dass am Sonntag Abend die propere Bürodame um 17 Uhr weder hübsch noch adrett ihre Heimkehr nach Piepshausen absolviert, sondern wie ein an Leib und Seele ramponiertes Etwas, aschfahl und mit dem Blick eines gehetzten Tieres, die eigene Wohnung wieder betritt, die Tür hinter sich zuknallt, zweimal abschließt und erneut kniewärts Richtung Wohnzimmer und Schrein kriecht, um dort eine Viertelstunde lauthals und inbrünstig dem Lieben Gott für ein halbwegs glimpflich verlaufenes Wochenende zu danken. Zumal sie am Sonntag sich nicht nur mit diesem radelnden Männlein hat herumschlagen, sondern auch noch selber hat Rad fahren müssen …

Am Montag in der Frühe habe ich mich dann so weit wieder erholt, um eine neue Runde propere Bürodame aufs Parkett zu legen.

Resümee: der Mittwoch ist versaut, der Freitag ist versaut, Samstag ebenfalls, Sonntag arbeite ich mich wieder aus der durchlebten Katastrophe heraus, - der Rest gehört mir. Darauf bestehe ich! Die schönsten Tage der Woche sind für mich der Montag, der Dienstag und der Donnerstag. Alles andere ist der blanke Horror. Seit dem 13. November 2005. Denn seit diesem Tag gehört sie mir, diese wandelnde Katastrophe. Mir ganz allein. Und ich werde sie nicht wieder los.

Diese allgegenwärtige Katastrophe hat einen Namen. Sie heißt Dicker. Mein Dicker, ja ja …

Nun, eigentlich heißt er anders. Nennen wir ihn einfach Glaubert. Jürgen Glaubert. Aber zu Anfang unserer Zwangssymbiose konnte ich mich mit diesem Namen nicht anfreunden, zumal einer meiner Verflossenen ebenfalls Jürgen geheißen hatte, und dann hatte ich noch mal einen Jürgen irgendwann später, und bei der Nummer Drei kam ich irgendwie ins Schleudern. Somit schaffte ich diese Irritation kurzerhand aus der Welt, indem ich mich zu einem kurzen, prägnanten „Dicker“ entschloss, und darauf hört er. Meistens. Er nennt mich „Kleine“. In seinem ihm ganz eigenen Jargon „Kleenäää“. Nur um des besseren Verständnis willen: Er trumpft bei einer Körpergröße von 1.84 Meter mit einem Gesamtgewicht von knappen 80 Kilogramm auf. Er ist also keineswegs dick. Und ich messe 1.70 Meter. Bin also nicht kleinwüchsig. Theoretisch hätten wir uns auch Dick und Doof nennen können, aber wir haben es bei „Dicker“ und „Kleenäää“ bewenden lassen. Wir jedenfalls wissen, wer gemeint ist.

So. Ich denke mal, das Wesentliche haben wir jetzt. Wie also kam es nun, dass ich mir diese Katastrophe auf zwei Beinen – oder auf einem Fahrrad – überhaupt auf die Pelle gezogen habe und sie nun nicht mehr wieder los kriege? Fangen wir noch einmal beim Wurststand an.

Zu Anfang bemerkte ich ihn gar nicht, wenn ich am Dienstag in meiner Mittagspause zum Bratwurststand pilgerte, um an meinem Hüftgold zu arbeiten. Immer nur am Dienstag machte ich das, einmal die Woche, und ich dachte mir nichts, als er mir das erste Mal überhaupt auffiel. Als er mich sozusagen entdeckte. Auf seinen ewigen Touren durch die Stadt. Später hat er mir mal erzählt, ich hätte ihm einfach gefallen, und mein dienstägliches Ritual habe er erst durch Zufall erkannt. Jeden Dienstag ab dem Sommer 2005, nachdem er meinen pünktlichen Rhythmus kapiert hatte. Da wartete er schon auf mich. In respektvoller Entfernung zunächst, schaute er meinem unspektakulären Treiben am Wurststand zu, umradelte mich behutsam in weiten, vorsichtigen Kreisen, beobachtete, schätzte ab. Und mit jeder Woche, die folgte, wagte er sich mitsamt seinem treuen Drahtesel ein wenig näher heran. Wie gesagt, ich bemerkte zunächst nichts, war zu sehr mit mir selbst und meinem vollkommen ruhigen Dasein eins und wurde in meinem Tran erst später seiner überhaupt gewahr, wie er da jeden Dienstag Mittag gegen 12.30 Uhr auf seinem Radel um mich herum mäanderte. Dienstag um Dienstag immer ein paar Meter näher. Bis er sich dann eines Tages, als er sich bis auf fünf Meter an mich herangearbeitet hatte, genug Mut zusammengekratzt hatte, um mich, die ich Wurstsemmel kauend in die Gegend hinein träumte, mit jenem einzigen Wort ansprach, das ab sofort mein ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte.

„Schmeckt’s?“

Ich hätte sofort weglaufen sollen …

Statt dessen hob ich meinen verschlafenen Blick zum ungebetenen Frager, blinzelte träge und schaute erstmals in meinem Leben in dieses eigenartige, durchaus ansprechende Koboldsgesicht, nicht schön, nicht hässlich, leicht schiefe Nase, unrasiert. Hellblaue Augen, breiter Mund, der sich sogleich in dieses typische, so bezeichnende Clownsgrinsen verzog, dem ich zwar nicht verfiel, das mich aber irgendwie in seinen Bann zog. Und da ich ja ein höflicher Mensch bin, nickte ich, nachdem ich meinen Bissen geschluckt hatte. Ja, es munde mir. Diese Würstchen hier seinen nicht schlecht! Er schenkte mir wieder dieses Clownslächeln, weilte bei mir, wobei er ruhige Achten auf seinem Rad um mich herum zog. Als ich mein Mahl beendet hatte, verabschiedete ich mich mit den Worten: „Na, ich muss dann mal wieder“, brach auf und verschwendete keinen Gedanken mehr an diese seltsame Kreatur.

Ich hätte weglaufen sollen.

Am nächsten Dienstag war er dann wieder da. Und am übernächsten. Ab sofort jeden Dienstag. Und immer dieses Lächeln, immer dieses Fahrrad, immer dieses „Schmeckt’s?“

Eigenartig …

Irgendwann, nach dem fünften oder sechsten „Schmeckt’s?“, beschlich mich in meiner verschlafenen Trance dann doch der vage Verdacht, einem indirekten Belagerungszustand ausgesetzt zu sein, und nachdem mich dies Männlein auf seinem Fahrrad zum x.sten Male um den Wohlgeschmack meines Nahrungsgutes befragt hatte, trug ich meinerseits den Vorschlag vor, er möge sich doch selbst ein solches Thüringer Rostbratwürstchen erwerben, um sich ein Bild von meinen kulinarischen Vorlieben machen zu können. Woraufhin er abwinkte und dann nach einem weiteren halben Dutzend um mich herum gezogener Achten zu meinem hellen Entsetzen beantragte, einmal von meiner eigenen Wurstsemmel abbeißen zu dürfen … Selbstverständlich nur, um sich einfach von dieser von mir heiß frequentierten Wurst überzeugen zu können!

Dieses mein Entsetzen übermannte mich nicht nur angesichts jener überaus kühn vorgetragenen Bitte, einen mir eigentlich wildfremden Mann von meiner Stulle beißen zu lassen! Sondern vielmehr angesichts seiner Aussprache! Einer Aussprache, die es mir, einem reinrassigen, stolzen Schwabenmädel, eiskalt den Rücken herunterrieseln ließ! Denn dieser Slang, der sich mir bot, war bis vor dem legendären November 1989 in unseren so genannten westlichen Gefilden nur sehr, sehr vereinzelt vernehmbar gewesen, und wenn, dann wurde dieser Akzent belächelt und nachgeäfft. Gut, heutzutage hört man ihn überall, diesen eigentümlichen Dialekt; mittlerweile ist ja alles verseucht von ihnen. Doch dass ausgerechnet mir, die ich mir meine Gefährten an meiner Seite stets aus dem selben Stall ausgesucht hatte, nun ein Vertreter dieser wahrhaft seltsamen Spezies gegenüberstand und verlangte, von meiner Wurst abbeißen zu dürfen, das schockierte mich bis in die Knochen! Handelte es sich doch da um einen echten kleinen Sachsenbuben, der mich umkreiste! Ein Sachse reinsten Geblüts, dessen Art der Artikulation einem glattweg die Schuhe auszog und dieses Silben schluckende, Umlaute zerquetschende, näselnde Geknötel einem den Schweiß auf die Stirn trieb!