Der Islam

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James V. Schall SJ

DER ISLAM

Friedensreligion oder

Gefahr für die Welt?


Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Bibelzitate stammen aus der revidierten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholisches Bibelwerk, Stuttgart.

Die Zitate aus päpstlichen Dokumenten stammen von der Homepage des Vatikans (vatican.va) © Libreria Editrice Vaticana.

Der Verfasser dankt den Betreibern der Webseiten Aleteia, Catholic Thing, Catholic World Report, Crisis, Ignatius Insight, MercatorNet, Homiletic and Pastoral Review, Fellowship of Catholic Scholars, Catholic Dossier und Vital Speeches of the Day für die Genehmigung, bis dato unveröffentlichtes Material abzudrucken.

Originaltitel: On Islam

A Chronicle Record, 2002–2018

© Ignatius Press, San Francisco 2018

Cover: Fotograf © Guenter Guni, iStockPhoto.com

Coverentwurf: John Herreid

DER ISLAM

Friedensreligion oder Gefahr für die Welt?

James V. Schall SJ

© Media Maria Verlag, Illertissen 2019

Übersetzung: Dr. Gabriele Stein

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-9479317-3-6

www.media-maria.de

Inhalt

Einleitung

Die sieben Trappistenmönche: die Welt ohne Reue

1.Hilaire Belloc über die »augenscheinlich unbekehrbare« Religion

2.Über den Islam

3.Märtyrer und Selbstmordattentäter

4.Der elfte September: fünf Jahre später

5.Politik und Physik: Stanley Jaki über die Wissenschaft im Islam

6.Die Ambivalenz des Islams

7.Eine dschihadistische Eroberung?

8.Die Brüchigkeit des Islams

9.Noch einmal Regensburg

10.Zum »Dialog« mit dem Islam

11.»Versuchen Sie zu verstehen«: Mossul

12.Der Islamische Staat

13.Lektionen aus Paris vom 7. Januar 2015

14.Christen, die enthauptet wurden

15.Dialoge ohne Lösungen

16.Über die »Ursachen des Terrorismus«

17.Ein »kriegerischer Akt«: Paris

18.Die Schießereien von San Bernardino: ein anderer Blickwinkel

19.Gedanken zum Roman Unterwerfung

20.Realismus und Islam

21.Orlando aus heutiger Sicht

22.Noch einmal: die Lehre von den zwei Wahrheiten

23.Manchester, London und die Ziele des Islams

24.Die Anschläge in Barcelona waren Teil eines sich ausbreitenden weltweiten Krieges

25.Über die Zukunft des IS

26.Was ist eigentlich der Koran?

Schluss

Nachwort

Bibliografie

Einleitung

Während des Philosophiestudiums hatte ich mich flüchtig mit den muslimischen Philosophen beschäftigt. Die Namen al-Fārābī, Averroës und Avicenna kamen in den Schriften des Aquinaten häufig vor. Genau genommen setzt sich die ganze Summa contra Gentiles mit der muslimischen Sicht auf Aristoteles, Plato, die Bibel und andere grundlegende Schriften auseinander. In gewisser Hinsicht wirkt es wie eine Ironie der Geschichte, dass der Voluntarismus, der für das muslimische Denken so maßgeblich werden sollte, beinahe identisch ist mit der Willensphilosophie, die dem öffentlichen Leben der westlichen Welt in großen Teilen zugrunde liegt. Der Voluntarismus vertritt die philosophisch-theologische Auffassung, dass es in den Dingen oder in der menschlichen Natur keine rationale Ordnung gibt. Hinter der gesamten Wirklichkeit steht ein Wille, der immer auch anders sein könnte. Er ist an keinerlei Wahrheit gebunden. Von jeder Position kann mit demselben Recht immer auch das Gegenteil gelten. Wenn alles, was existiert, nicht auf der Vernunft, sondern auf einem göttlichen oder menschlichen Willen basiert, dann kann das Böse gut und das Gute böse sein. Benedikt XVI. hat am 12. September 2006 in seiner Regensburger Vorlesung auf den Voluntarismus sowohl im Islam als auch im Säkularismus Bezug genommen.

Doch dass man sich in Europa ernsthaft mit der militärischen Kampfkraft der Muslime befasst hätte, schien mir Jahrzehnte zurückzuliegen. Christopher Dawson, Bernard Lewis und Arnold Toynbee allerdings – um nur einige zu nennen – waren sich über die Tragweite dieser Frage im Klaren.

Allem Anschein nach hatten sich die Wissenschaft, Philosophie, Theologie, Ökonomie und Literatur der neueren Zeit vor allem mit Fragen beschäftigt, die innerhalb der westlichen Zivilisation selbst aufkamen. Europa hatte in die übrige Welt einschließlich Chinas, Indiens, Afrikas sowie Nord- und Südamerikas expandiert. Die Schiffe der europäischen Mächte waren um das südliche Afrika herumgesegelt, das heißt, sie hatten die muslimische Welt, die die Landrouten in den Osten beherrschte, ganz einfach umgangen. Rund 200 Jahre lang waren die islamischen Gebiete von den Briten, Franzosen, Niederländern, Italienern, Portugiesen oder Russen kontrolliert gewesen. Die Deutschen hatten Interesse am Nahen Osten und an Teilen Afrikas bekundet und dort ihren Einfluss ausgeübt. Die Muslime galten größtenteils als rückständig, fanatisch und einer umfassenden Reform und Erziehung im westlichen oder gar christlichen Sinne bedürftig. Der intellektuelle Diskurs war weitgehend von den Fragestellungen der deutschen, englischen und französischen Philosophie beherrscht. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war überwiegend von Marx geprägt.

Vor diesem Hintergrund geht meine Aufmerksamkeit für den Islam als Weltmacht, mit der man rechnen muss, auf meine erste Lektüre von Hilaire Bellocs 1937 erschienenem Buch The Crusades zurück. Das Ende habe ich nie vergessen. Dort hieß es, dass der Islam, sollte er jemals wieder so mächtig werden wie einst, auch dasselbe tun würde wie damals: im Namen Allahs expandieren.

In den ersten zwei Jahrhunderten nach Mohammed eroberten muslimische Armeen Nordafrika, Spanien, den Nahen Osten und Teile Südeuropas und gelangten ostwärts bis nach Indien. Was mich – für manche vielleicht unverständlich – an Bellocs Ausführungen am meisten beeindruckte, war seine Erkenntnis, dass eine tot geglaubte Idee oder religiöse Bewegung jahrhundertelang schlafen und dann zurückkehren kann, um ihre ursprüngliche Mission zu erfüllen. In den Jahrzehnten zwischen Bellocs Buch und den Ereignissen im Vorfeld der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon (2001) war die Welt mit Kräften wie dem Nationalismus, dem Marxismus, der Demokratie und dem Sozialismus beschäftigt, die auch in den islamischen Gebieten nicht ohne Wirkung blieben.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nahmen mehrere Kommentatoren Bezug auf das, was Belloc in seinem Buch The Great Heresies geschrieben hatte: dass die christliche Zivilisation weniger als 100 Jahre vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg um ein Haar von einer muslimischen Armee überrannt und vernichtet worden wäre. »Wien […] wurde beinahe erobert und nur von der christlichen Armee unter dem Befehl des Königs von Polen gerettet – an einem Datum, das eigentlich zu den berühmtesten in der Geschichte zählen sollte: dem 11. September 1683.«1 Und – für diejenigen, die solche Geschichten mögen – noch einmal gut 100 Jahre früher konnte die Insel Malta einen massiven türkischen Flottenangriff unter dem Kommando von Sultan Süleyman des Prächtigen abwehren. Die berühmten Malteserritter unter Jean Parisot de La Valette hielten stand, töteten den algerischen Admiral Dragut und sahen zu, wie die geschlagene Flotte davonsegelte. Das war am 11. September 1565.

 

Die Anschläge vom 11. September 2001 auf amerikanischem Boden waren schockierend, doch was mich persönlich auf die Vorgänge in der islamischen Welt aufmerksam werden ließ, war etwas, das sich einige Jahre zuvor in einem entlegenen, von französischen Trappistenmönchen bewohnten Bergkloster in Algerien zugetragen hatte. Später ist daraus ein ergreifender französischer Film entstanden (Von Menschen und Göttern, 2010). Auf die schiere Brutalität, mit der diese Männer ermordet worden waren, war ich nicht vorbereitet gewesen. Mittlerweile haben wir uns durch die öffentlichen Enthauptungen von Christen in muslimisch kontrollierten Ländern beinahe daran gewöhnt. Dass sich jeder beliebige Mensch all diese Geschehnisse in ihrer ganzen Grausamkeit bewusst machen kann, wenn er einfach nur hinsieht, ist einer der Gründe, die mich bewogen haben, im Folgenden diese Chronik meiner eigenen Reaktionen und Analysen zu einer Reihe von Ereignissen vorzulegen, die sich zwischen 2002 und 2018 zugetragen haben. Eine Kollegin, mit der ich vor mehreren Jahren in Georgetown zusammengearbeitet habe, war mit dem polnisch-französischen Schriftsteller Laurent Murawiec verheiratet, der die blutige Geschichte des Islams sehr genau verfolgt hat. Ich bin keineswegs der Ansicht, dass die Geschichte des Islams ausschließlich blutig ist. Es ist nur so, dass das Blutvergießen ein Teil seiner Geschichte ist – ein Teil, der gerade jetzt, in unserer Zeit, weitergeschrieben wird und an Bedeutung gewinnt.2

Ich beende diese Einleitung mit einem Artikel, den ich verfasst habe, nachdem ich zum ersten Mal von der Ermordung der guten und unschuldigen Mönche gehört hatte. Die Erinnerung daran soll in die nachfolgende Chronik zu verschiedenen Ereignissen und Fragen einführen, die mit dem erwachenden Selbstbewusstsein des Islams und seiner Erschließung neuer spiritueller und dschihadistischer Energiequellen nach und nach überall auf der Welt akut geworden sind. Das vorliegende Buch ist eine Art Ideengeschichte, die zeigt, wie ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass der Islam ein bedeutender Faktor im aktuellen Weltgeschehen ist. Es ist kein »islamfeindliches« Buch. Ehrlich gesagt muss man den Islam als politischer Beobachter geradezu dafür bewundern, wie es ihm gelungen ist, seine expansive Dynamik in unsere Zeit hinüberzuretten. Und man beginnt zu begreifen, weshalb die westliche Welt die volle Bedeutung dieser Dynamik nicht ermisst.

Im Grunde denke ich, dass der Islam genau das ist, was er zu sein behauptet: eine Religion, die nach wie vor die Mission hat, alle Menschen der Herrschaft Allahs zu unterwerfen. Mein eigentliches Problem mit dieser Mission – die im Koran selbst ihre Wurzeln hat – betrifft nicht den bemerkenswerten Erfolg und die Ausbreitung des Islams. Mein Problem betrifft seine Wahrhaftigkeit. Der praktisch einzige Ort, an dem man heutzutage über solche Dinge sprechen kann, ist ein Buch. Eine öffentliche Diskussion findet nur selten statt, und mit den akademischen Diskussionen sieht es kaum besser aus. Ich behaupte nicht, ein beschlagener Islamwissenschaftler zu sein. Aber ich glaube, dass wir das, was ein Einzelner oder eine Gruppe im Laufe der Zeit tut, mit gesundem Menschenverstand betrachten und beurteilen können. Am Ende bilden wir uns eine Meinung, die am ehesten geeignet ist, das, was wir beinahe täglich sehen und beobachten, zu erklären.

Aus einer Reihe von Gründen – angefangen beim Niedergang des Christentums in der westlichen Welt, der sich in Europa und Amerika insbesondere in den rückläufigen Geburtenzahlen äußert, bis hin zum Erfolg der Muslime, die überall in Europa und Amerika Enklaven errichten, die von ihnen kontrolliert werden – sieht der Islam einer glänzenden Zukunft entgegen. Wenn die islamische Expansion ins Stocken gerät oder sich verlangsamt, dann nur vorübergehend. Die Stadt Tours im 8. und Wien im 16. Jahrhundert konnten der muslimischen Invasion in Europa Einhalt gebieten, aber nur zeitweise. New York und Paris sind heute ebenfalls Schauplätze dieser Schlacht, doch auch sie sind nicht die letzten Orte, an denen wir solche Dinge erleben werden.

Sprechen wir also – in einem ersten Versuch, die aktuelle Lage zu verstehen – über dieses Blutbad in Algerien. Damals hat es mich wachgerüttelt und mir ist klar geworden, womit die Welt es zu tun hat. 1996 schien das, was den französischen Mönchen in ihrem Kloster in den Atlasbergen widerfahren war, noch ein isoliertes Geschehen zu sein. Heute ist es in ganz unterschiedlichen Gegenden der Welt alltäglich geworden.

Wenn ich mir diesen »Zwischenfall« – falls ein so neutrales Wort hier überhaupt angebracht ist – ins Gedächtnis rufe, dann kommt mir in den Sinn, was Robert Royal in seinem Buch The Catholic Martyrs of the Twentieth Century3 geschrieben hat. Viele dieser Menschen, so Royal, werden im Verborgenen getötet. Niemand nimmt es zur Kenntnis. Sie sind gestorben und haben mit ihrem Tod Zeugnis abgelegt. Ich denke an das 15. Kapitel bei Johannes, wo es heißt: »Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt. […] Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.« Dieses Gehasstwerden für das, was man ist, scheint mir genau auf uns zuzutreffen, und zwar nicht nur gegenüber der muslimischen, sondern auch gegenüber unserer eigenen Welt mit ihrer inzwischen weitgehend »verhassten« christlichen Vergangenheit. Das vorliegende Buch ist also eine Chronik, eine Bilanz der Ereignisse und meiner Bemühungen, sie im Licht der Philosophie, im Licht des Islams selbst und im Licht der – christlichen wie muslimischen – Offenbarung zu verstehen.

1Hilaire Belloc, The Great Heresies, Ignatius Press, San Francisco 2017, 92–93.

2William Kilpatrick, »Good Islam vs. Bad Islam«, Crisis Magazine, 4. Mai 2016, http://www.crisismagazine.com/2016/good-islam-vs-bad-islam.

3Robert Royal, The Catholic Martyrs of the Twentieth Century, Crossroad Publishing Co., New York 2000.

Die sieben Trappistenmönche: die Welt ohne Reue4

Eines Abends – ich verbrachte gerade einige Einkehrtage in einem alten Jesuitennoviziat – las ich in der englischen Ausgabe der Zeitung L’Osservatore Romano vom 12. Juni 1996 einen unvergesslichen Brief. Darin schrieb Dom Bernardo Olivera, der Generalabt der Zisterzienser der strengen Observanz, auch Trappisten genannt, über die brutale und völlig willkürliche Ermordung von sieben Trappistenmönchen im algerischen Atlasgebirge durch die muslimische Gruppierung Groupe Islamique Armé (GIA).

Dom Bernardo erinnerte daran, dass sich die Gründung von Cîteaux 1998 zum hundertsten Mal jährte. Er erwähnte die vielen Mönche seines Ordens, die in diesem Jahrhundert getötet worden waren: die sieben in Algerien ermordeten Mönche und die anderen katholischen Brüder und Ordensschwestern, die man dort und an anderen Orten aus demselben Grund massakriert hatte. Er erwähnte, was Johannes Paul II. in Tertio millennio adveniente über das Zeugnis des Martyriums in der Kirche schrieb. »Dieses Zeugnis darf nicht in Vergessenheit geraten«, betonte Dom Bernardo.

Der Artikel erzählt die unmittelbare Vorgeschichte dieser sieben Mönche, die ohne Zweifel sehr gute und demütige Menschen waren. Sie wussten, dass sie in einer gefährlichen Region lebten. Der apostolische Delegat, der Erzbischof und ein Beamter der muslimischen Behörden vor Ort hatten ihnen für den Fall, dass sie in eine sicherere Unterkunft umziehen würden, ihren Schutz angeboten.

Doch bei den Trappisten gibt es das Gelübde der Ortsgebundenheit. Mehrere Jahre lang hatten sie alle Optionen in Erwägung gezogen, sich aber jedes Mal zum Bleiben entschieden.

Am 29. Dezember 1993 schrieb einer der Trappisten, Pater Christophe, einen Brief an den Anführer des GIA-Kaders, der dem Kloster an Heiligabend einen bedrohlichen Besuch abgestattet hatte:

»Bruder, erlaube mir, Dich so anzusprechen, von Mensch zu Mensch, von einem Glaubenden zum anderen. […] Im gegenwärtigen Konflikt […] scheint es uns unmöglich, Partei zu ergreifen. Die Tatsache, dass wir Ausländer sind, verbietet uns dies. Unser Stand als Mönche bindet uns an die Wahl, die Gott für uns getroffen hat und die in einem einfachen Leben, körperlicher Arbeit, Gastfreundschaft und darin besteht, mit allen, insbesondere den Armen, zu teilen. […] Diese Gründe für unsere Lebensweise sind für jeden von uns eine freie Entscheidung. Sie binden uns bis zum Tod. Ich glaube nicht, dass es Gottes Wille ist, dass dieser Tod durch Euch über uns kommt.«

Im Frühjahr dieses Jahres, im März 1996, nahm der GIA, der inzwischen einen neuen Anführer hatte, die Mönche gefangen. Die Anklage: Evangelisierung. Dagegen gab es keine Berufung. Der Emir erklärte: »Mönche, die bei der Arbeiterklasse leben, dürfen von Rechts wegen getötet werden.« Mit ihrer Gefangennahme änderte sich die rechtliche Situation der sieben Mönche: Es war nun legitim, sie wie nicht muslimische Kriegsgefangene zu behandeln, das heißt, sie zu ermorden, sie zu versklaven oder sie gegen muslimische Gefangene auszutauschen.

Die Franzosen hatten einen Gefangenen, den der Emir gegen die Mönche austauschen wollte. Er schickte Warnungen an das französische Auswärtige Amt, dass die Mönche hingerichtet werden würden, wenn der Austausch nicht zustande käme. Der Emir brachte die Angelegenheit auf eine einfache Formel: »Es ist Ihre Entscheidung. Wenn Sie ihn freilassen, werden wir sie auch freilassen; wenn Sie sich weigern, werden wir ihnen die Kehlen durchschneiden. Gepriesen sei Gott.«

Am Ende entschied der französische Präsident, dass man sich mit solchen Terroristen nicht auf einen Handel einlassen könne. Mit dem Ergebnis, dass die Mönche um den 21. Mai 1996 herum auf die erwähnte, grausame Weise umgebracht wurden.

Dom Bernardos Brief, dem ich diese Darstellung der Ereignisse entnommen habe, überlässt kaum etwas der Fantasie und doch schwingt beinahe etwas Mystisches darin mit. Unwillkürlich kommt uns der unerwartete Abschnitt über das Martyrium in der Enzyklika Veritatis splendor von Johannes Paul II. in den Sinn. Gläubige, friedfertige Menschen werden um einer juristischen Spitzfindigkeit willen und zur »Ehre Gottes«, wie die Mörder behaupteten, getötet.

Die Geschichte liest sich wie eine klassische Tragödie oder eher noch wie der Tod des heiligen Thomas Morus, der, glaube ich, gemeinsam mit ein paar Mönchen und einem Bischof ermordet wurde.

Der älteste der ermordeten Mönche war Bruder Luc, der während der Einkehrtage des Ordens im Januar 1994 achtzig Jahre alt geworden war. Dom Bernardo erinnerte sich in seinem Brief an eine Nonne in Angola, die als Lesung für die Messe anlässlich ihrer ersten Profess die Stelle über die Feindesliebe ausgesucht hatte. Dieses Empfangen und Vergeben schien ihm der Schlüssel zum Leben dieser Männer zu sein.

Beim Abendessen zum Abschluss der Einkehrtage hatte Bruder Luc eine Kassette abgespielt, die er für seine Beerdigung aufbewahrte. Es ist kaum zu glauben, aber das Lied, das er abspielte, war Edith Piafs Je ne regrette rien.

Für mich ist die Vorstellung, dass ein alter Trappistenmönch von einem Mitglied des GIA ermordet wird, mehr als erschütternd. Der herzlose Gläubige gehorcht seinem Gesetz und schneidet einem freundlichen alten Mann die Kehle durch, der an seinem achtzigsten Geburtstag im Refektorium das Lied von Edith Piaf hatte singen hören, das auf seiner Beerdigung gespielt werden sollte.

Ich habe diese CD mit Edith Piafs Je ne regrette rien. Immer wenn ich sie höre, bete ich für die sieben Trappistenmönche – und für die Muslime, die sie getötet haben.

4James V. Schall, »Goodbye without Regret«, Crisis, 1. November 1996, 58, http://www.crisismagazine.com/1996/sense-and-nonsense-goodbye-without-regret.

 

1. Hilaire Belloc über die »augenscheinlich unbekehrbare« Religion5
I

Eine der schwierigsten Übungen in politischer Klugheit besteht meiner Meinung nach darin, das Regime eines Ortes, den man besucht, an dem man lebt oder an dem man einen ernst zu nehmenden Gegner antrifft, philosophisch akkurat zu beschreiben. Denn um ein Regime korrekt darzustellen, benötigen wir ein Urteilskriterium, anhand dessen wir entscheiden können, ob ein beliebiges Regime gut oder schlecht ist. Ohne einen solchen Maßstab – mit anderen Worten: ohne eine universale Philosophie – beschränken wir uns darauf, substanzlose Namen zu vergeben. Diese Möglichkeit, Regime so zu beschreiben, wie sie sind, setzt zweierlei voraus: erstens eine universale politische Philosophie, deren Grundlagen zwar durchaus auf gegenwärtige Regime bezogen, aber von ihnen unabhängig sind; und zweitens ausreichend staatsbürgerliche Freiheit, um solche Prinzipien zu artikulieren, ohne Gefängnis oder Tod befürchten zu müssen.

Ein solcher Versuch, das Wesen eines Regimes zu ergründen, kann – das haben uns die Philosophen, angefangen bei Sokrates, gelehrt – ein gefährliches Unterfangen sein. Normwidrig agierende Fürsten und Machthaber oder wie immer wir sie nennen wollen, sind nicht erpicht darauf zu erfahren, was sie wirklich sind. Und Bürger sind nicht erpicht darauf, die Dinge beim Namen zu nennen, weil sie oft selbst mit den Prinzipien des Regimes übereinstimmen – eine Wahrheit, die Plato uns schon vor langer Zeit gelehrt hat, als er über den Zusammenhang zwischen unseren Seelen und unseren Regierungsformen sprach. Fürsten und Volk hören es lieber, wenn man ihnen sagt, dass sie ohnehin schon die höchsten moralischen Normen repräsentieren, Gottes Willen tun oder die »beste aller möglichen Regierungen« haben – unabhängig davon, was diese nach klassischen philosophischen Maßstäben tatsächlich verkörpern. Doppelt schwierig wird dieses Unterfangen, ein gegebenes politisches System zu identifizieren, wenn das Regime sich zudem direkt oder indirekt als das Ergebnis oder Werkzeug von Normen definiert, die in einer Offenbarung oder Religion wurzeln. In diesem Fall haben wir es nicht länger mit einem Regime im Sinne einer rein politischen Größe, sondern mit einer Regierungsform zu tun, die transzendente Ursprünge oder Legitimationen für sich in Anspruch nimmt. Damit stellt sich unweigerlich die Frage nach der Wahrheit der jeweiligen Offenbarung. Wie Leo Strauss gezeigt hat, zogen es muslimische Philosophen im Mittelalter vor, ihre Philosophie im Privaten zu betreiben, weil ihnen bewusst war, welche Probleme es nach sich ziehen konnte, wenn sie öffentlich über die theoretischen Grundlagen des Regimes spekulierten, in dem sie selbst lebten. Nach außen hin tat der Philosoph, was in puncto Frömmigkeit und religiöser Praxis von ihm erwartet wurde. Doch auch wenn er in der Öffentlichkeit so tat, als wäre er religiös, gab er der privaten Philosophie als einer Erklärung für die Wahrheit der Dinge den Vorzug vor der Religion. Diese Entscheidung für den privaten Raum war für einen Philosophen im Islam tatsächlich der einzig gangbare Weg, weiterhin – wenn auch mit Vorsicht – Philosophie zu betreiben und dennoch am Leben zu bleiben.

Strauss zufolge bedeutete diese Hinwendung zur Philosophie, dass der Philosoph eine Theorie ausarbeiten musste, in der die angebliche Offenbarung, die die öffentliche Ordnung beherrschte, sich ihrerseits der Philosophie unterzuordnen hatte. Die Philosophie urteilte über die Offenbarung, das heißt, der Philosoph hatte den Zweck und den Inhalt der Offenbarung nach rein rationalen Maßstäben zu erklären. Die Fundamente, auf denen die Glaubwürdigkeit der Religion erklärtermaßen beruhte – mit anderen Worten: die politische Theologie der Religion –, waren intellektuell unhaltbar, weil sie von der Philosophie nicht gänzlich verstanden werden konnten. Die Vorstellung etwa, dass der Text des Korans Mohammed direkt und ohne Mittler auf Arabisch mitgeteilt wurde, ist – auch ohne dass man den Inhalt des Buchs auf widersprüchliche oder falsche Lehren überprüft – nach rationalen Begriffen schlichtweg unglaublich.

Diese Aufgabe, sich – auch wenn man selbst nicht daran glaubte – mit einem muslimischen öffentlichen Leben abzufinden, bewältigten die Philosophen, indem sie die im Koran geschilderte Lebensweise als einen »Mythos« behandelten, der eigens und kunstreich entworfen worden war, damit die Herrschenden die uneinsichtigen Massen auf Kurs halten konnten. Dieses Mythosverständnis ist sehr alt und reicht mindestens bis in die Zeit Epikurs zurück. Schon Aristoteles hatte gesagt, dass ein Tyrann, wenn er an der Macht bleiben will, die örtlichen frommen Gebräuche respektieren solle; er solle die Massen beschäftigen, erschöpfen und unterhalten, aber nicht dulden, dass irgendetwas im Privaten gesprochen werde. Eine ähnliche Position wurde im spätmittelalterlichen Europa von einer Denkrichtung vertreten, die man unter dem Namen »Lateinischer Averroismus« kennt. Ihr zufolge gab es zwei »Wahrheiten«: eine Wahrheit der Offenbarung und eine Wahrheit der Vernunft. Beide durften einander widersprechen – was immer dies letztlich für die Einheit der menschlichen Seele bedeuten mochte. Wir müssen sie nicht miteinander »versöhnen«. Im Rahmen dieser Theorie konnte, wenn alle sie mittrugen, der Philosoph philosophieren und der Gläubige glauben, ohne dass einer von ihnen sich wegen der offensichtlichen Widersprüche zu sorgen brauchte.

Der Mythos der Religion war also politisch nützlich, aber weder wahr noch mit der Philosophie kompatibel. Der Philosoph führte ein geheimes oder zurückgezogenes Leben wie es, seinen eigenen Worten in der Apologie zufolge, auch Sokrates geführt hat, um nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt getötet zu werden. Es gilt als sicher, dass kein Philosoph, der sich öffentlich äußert und vor einem mythisch-religiösen Gemeinwesen angeklagt wird, überleben kann. So sind die Spielregeln. Und deshalb war es ausgeschlossen, dass mehr als nur ein paar Philosophen den Mythos, der die jeweilige Offenbarung erklärte, als falsch durchschauten und um die Schwierigkeit wussten, die Wahrheit darüber zu erkennen, ob wir dem, was wir – mit oder ohne die Vorstellung vom Sündenfall – über die Opazität (Trübung, das Gegenteil von Transparenz, Anm. d. V.) der menschlichen Natur wissen, mehr oder weniger entsprechen.6 An der Oberfläche würde alles ruhig bleiben. Die Religion war in der Tat ein nützliches Mittel, den unvermeidlichen Aufruhr der Massen, denen es an Selbsterkenntnis oder Selbstbeherrschung mangelte, in Schranken zu halten. Die Philosophie und die Wahrheit sind nicht für jedermann gedacht. Bezeichnenderweise musste der heilige Thomas zuallererst mit der Vorstellung aufräumen, dass Offenbarung und Philosophie einander widersprächen, ehe sich die Auffassung durchsetzen konnte, dass die Wahrheit der Offenbarung und die Wahrheit der Vernunft ein und derselben übereinstimmenden Wahrheits- und Wirklichkeitswelt zuzurechnen sind. Und damit war es auch nötig geworden, in der Frage nach der Wahrhaftigkeit der jeweiligen Offenbarungen Stellung zu beziehen.