Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein
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Jakob Matthiessen

Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein

Historischer Roman


Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SiegeofAntioch.jpeg

ISBN 978-3-8392-6992-3

Widmung

Zum Gedenken an die Opfer

christlicher Judenfeindschaft,

gewidmet all denjenigen, die sich für die Stärkung

des jüdischen Lebens in Europa einsetzen.

Präambel

Tausendfünfundneunzig Jahre nach der Geburt des Herrn erging der Ruf des Papstes Urban II. an die Christenheit, das Gelobte Land müsse den Heiden entrissen werden. Nie verwelkender Ruhm und unendliche Freuden im Himmelreich erwarteten jeden, der diesem Ruf Folge leiste. Gott will es!

Mächtige und Habenichtse, Suchende und Skrupellose, Abenteurer und Vogelfreie machten sich auf zur heiligen Stadt Jerusalem. Pilgerströme formten sich zu Heeren. Getrieben von Armut, Heilsverlangen, Gier und Ruhmessucht zogen sie durchs Frankenreich.

Aber warum in der Ferne kämpfen, wenn hier unter ihnen ein Volk von Ungläubigen seine schändlichen Bräuche ganz ungehemmt betreiben darf?, fragten sich die bewaffneten Horden. Und auch auf gute Beute hofften sie in den Bischofsstädten Speyer, Worms und Mainz, in denen sich das Volk der Gottesmörder – wie es von ihnen genannt wurde – niedergelassen hatte. Denn nicht wenige der Juden waren tüchtig und erfolgreich, und einige von ihnen hatten es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht.

*

Zitat

Warum verdunkelte sich nicht auch da der Himmel, warum zogen die Sterne ihren Lichtglanz nicht ein, und Sonne und Mond, warum verfinsterten sie sich nicht an ihrem Gewölbe, als an einem Tage, am dritten des Siwan, tausendeinhundert heilige Personen ermordet und hingeschlachtet wurden, so viel Kleine und Säuglinge, die noch nicht gefrevelt und gesündigt hatten, so viele arme unschuldige Seelen! – Willst Du hierbei an Dich halten, Ewiger? Denn für Dich ließen die Personen ohne Zahl sich umbringen.

Salomo bar Simson, ein Chronist der Verfolgungen

Karte


Dramatis Personae

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

*

Aus der jüdischen Gemeinde von Mainz:

Chaim, Rabbi und Glasmacher, Mitglied des Judenrates

Jehudith, Chaims Frau

David, Jehudiths und Chaims ältester Sohn

Hannah und Benjamin, Jehudiths und Chaims kleinere Kinder

Mosche*, Chaims älterer Kollege, ebenfalls Mitglied des Judenrates

Kalonymos ben Meschullam*, Vorsteher des Judenrates

Schmuel Hendlein, Kaufmann, Mitglied des Judenrates

Salomo, geschätzter Arzt und Mitglied des Judenrates

Zacharias, Trödel- und Kleinhändler

Rachel*, seine Frau

Aaron, Isaak, Orli und Bela, Rachels und Zacharias’ Kinder

Sarah, Jehudiths Schwester

Doron, Sarahs Bräutigam

Dov, Jehudiths Vater

Elischewa, Rachels Freundin

Erez, Jonah und Ethan, Jehudiths Brüder

*

In der Bischofspfalz:

Raimund, Domdekan

Bischof Ruthard*, Erzbischof von Mainz, gleichzeitig Stadtherr von Mainz und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches

Manfried, Dompropst, Stellvertreter des Bischofs

Bruder Anselm, zuständig für die Verpflegung und Unterbringung der bischöflichen Gäste

Hauptmann Hadewin, Befehlshaber der Wache der Bischofspfalz

Irmgard, verantwortlich für die Näherinnen in der Pfalz

*

Im Heer der Kreuzfahrer:

Rotkutte, Priester

Peter, Bauernjunge aus der Nähe von Gerstendorf

Emicho von Flonheim*, Führer des Kreuzfahrerheers vor Mainz

Christain, Peters neuer Freund

Jutta, Hübschlerin

Roland, Fähnrich im Heer der Leininger

Veit, Hauptmann im Heer der Leininger

Wolf, Soldat im Dienste Emichos

*

In und um Mainz:

Ida, Bäckerstochter, Davids gute Freundin

Brose, Scharfrichter von Mainz

Gottfried, Idas Vater, Bäckermeister

Utz, einfacher Bauer

Veronika, Idas Mutter, Gottfrieds Frau

Hermann von Erkenbald, Vogt der Stadt Mainz

Wendel, Schuster

Meister Wernhart, Zimmermann

Bernhard, Peters jüngerer Bruder

Mathilde, Peters jüngere Schwester

Prolog
Dienstag, der 27. Mai Anno Domini 1096 / 3. Siwan 4856

Mainz – Bischofspfalz, in der Johanniskirche

Der Lappen in seinem Mund schmeckte fischig. Mit Mühe konnte er dem Würgereiz widerstehen, den der Knebel in ihm auslöste. Der Strick schnitt sich tief in seine Handgelenke, die man ihm hinter dem Rücken zusammengebunden hatte. Seine Finger waren inzwischen taub.

Rabbi Chaim stand in einer langen Reihe vor dem Altarkreuz. Diejenigen, die es noch in die Bischofspfalz geschafft und am heutigen Tag nicht den Tod gefunden hatten, warteten auf das nun Unvermeidliche.

Chaim wandte sich um. Dies war also der Rest seiner einst so blühenden Gemeinde. Die meisten der Seinen senkten die Köpfe voller Scham, vereinzelt gewahrte Chaim Blicke des Vorwurfs. Rachel, ihr blitzte der Zorn aus den Augen. Sie war bereit gewesen zum Kiddusch ha-Schem, dem höchsten Opfer zur Heiligung Seines Namens.

Chaim war es nur recht, dass auch ihr der Mund verschlossen war. Er wollte Rachels Beschimpfungen jetzt nicht hören, dafür war später Zeit genug. Aber viele in seiner Gemeinde empfanden Erleichterung. Das hatte er gespürt, selbst wenn die Wenigsten dies zugeben würden. Darauf ließe sich aufbauen. Darauf setzte Chaim all seine Hoffnung.

Er rieb seine gebundenen Hände gegeneinander, damit er sie wieder spüren konnte. Sie blieben jedoch taub. Chaim drehte seinen Kopf nach rechts. Jehudith hockte mit ein paar der Ihren gefesselt an der Wand unter dem Kreuz mit dem Gehängten. Ihr sonst so schönes, lockiges Haar war strähnig und zerzaust. Aber in ihrem Blick fühlte er auch jetzt die Wärme, die ihm in den letzten Tagen Kraft gegeben hatte.

Ach, Jehudith, meine geliebte Rose von Scharon. Du hast den schweren Gang schon hinter dir.

Chaim schloss die Augen. Nun war es an ihm.

Zwei Wachen zerrten ihn nach vorn. Die Beine drohten, ihm zu versagen, aber die beiden Hünen, die ihn fest unter den Armen packten, gaben Chaim Halt. Er spürte eine weite, schwammige Leere. Wie aus großer Ferne vernahm er die sanfte Stimme seines Freundes Raimund. »Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater?«

Chaim wollte den Kopf schütteln, mit dem bisschen Kraft, das noch in ihm war. Doch zwei Hände pressten sich gegen seine Ohren und Wangen. Dann wollte er sein Haupt eben gar nicht bewegen. Schließlich musste er sich dem Druck fügen, der seinen Kopf einmal nach oben und nach unten führte.

Warum auch nicht? Er glaubte an den allmächtigen Vater. Alle Juden glaubten daran.

»Glaubst du an Christus, Gottes Sohn?« Raimunds Frage erscholl in der Weite des Raumes in ungewohnter Fülle. Doch war da dieses schwache Zittern, das sich immer dann in die Rede seines Freundes einschlich, wenn dieser seinen Worten selbst nicht trauen mochte.

Was habt ihr Christen aus dem Nazarener gemacht? Einen Gott! Einen Gott, der gekreuzigt wurde!

Selbst über solch heikle Themen hatte er mit Raimund sprechen können. Zwischen den Reben auf den Hügeln am Ufer des Rheins waren sie umhergegangen. Und in den Stunden des hitzigen Disputs verriet jenes leise Zittern die Zweifel seines Freundes, der sonst seine Worte so geschickt zu setzen wusste.

Chaim machte sich ganz steif. Aber die zwei Pranken, die sich wie die zwei Backen eines Schraubstocks in seine Schläfen pressten, waren stärker als das, was von seinem Willen nach all den Strapazen übrig geblieben war. Sie zwangen ihn erneut zu einem Nicken.

»Glaubst du an den Heiligen Geist?«

Der Ewige ist eins, nicht drei! Moses und die Propheten sagen es immer wieder. Der Ewige ist nicht teilbar, er ist eins!

Aber Chaims Aufbäumen war nicht mehr als der Flügelschlag eines Spatzen, schon ließ er seinen Kopf bereitwillig führen.

 

Mit einem Ruck wurde er nach unten gebeugt. Er öffnete die Augen.

Sein Spiegelbild starrte ihn aus dem Wasser des runden Beckens an. All die Zweifel hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

Würde er je vor dem Gericht des Herrn bestehen können? Er selbst war es ja gewesen, der dies alles von Raimund verlangt hatte. Nicht nur für sich selbst. Und nicht nur für Jehudith und seinen Sohn David. Für den ganzen Rest der Gemeinde hatte er gesprochen.

War es Weisheit? War es Torheit? Oder war es nur die schäbige Angst um sein kleines bisschen Leben? Würde er all dies seinem Schöpfer erklären können?

Chaim, du Dummkopf. Der Ewige braucht keine Erklärungen, der Ewige weiß.

Tropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Der Schweiß kroch in sein rechtes Auge, rann quälend langsam den Nasenflügel hinunter und tropfte in das Becken. Das Angesicht, auf das er schaute, verschwamm in der Unruhe der Wasserfläche.

Raimunds Stimme besiegelte den Frevel. »So taufe ich dich im Namen des Vaters.«

Die Hände pressten seinen Kopf in das Becken. Chaim hielt den Atem an. Das Wasser war angenehm warm. Und noch während er sich über seine Erleichterung darüber wunderte, wurde er wieder nach oben gerissen.

Er wollte einen tiefen Atemzug nehmen.

»Im Namen des Sohnes.«

Sein Haupt wurde nochmals in den Bottich getaucht. Chaim verschluckte sich am Wasser, das an dem Knebel vorbeirann.

Endlich erlaubten ihm die fremden Hände, nach Luft zu schnappen. »Und im Namen des Heiligen Geistes«, hörte er Raimund wie durch eine Blase verkünden.

Da war sein Kopf ein weiteres Mal unter Wasser, und Chaim prustete hilflos in das Becken.

Die Hände rissen ihn hoch, diesmal so, dass er aufgerichtet dastand. Röchelnd schaute Chaim in das Gesicht seines Freundes.

Raimund blickte zur Seite, als wolle er Trauer und Scham verbergen.

Die Hände lösten sich von Chaims tropfnassen Wangen, dann schleifte man ihn weg.

Er hatte es so erwartet, doch war da ein Rest Furcht in ihm gewesen. Aber weder hatte das Wasser seine Haut verbrannt noch hatte ein Blitz vom Himmel sein Herz zerfetzt.

Und es roch genau so, wie Wasser riechen sollte: nach nichts.

Zitat

Einst die Herren,

werden sie jetzt in fremden Landen gedrückt durch Knechtschaft

und durch das Joch, das man ihnen aufgelegt.

Selichah – Kalonymos ben Jehuda

Teil I: Schatten aus dem Süden
Freitag, der 23. Mai Anno Domini 1096 / 28. Ijjar 4856

Mainz – auf dem Synagogenplatz

»Gebt gut acht auf den Ring«, sagte Chaim beim Abschied. Der Rabbi hatte den goldenen Trauring, der schon seit Generationen im Besitz der Gemeinde war, zur Familie des Bräutigams gebracht. Dabei hatten sie die letzten Einzelheiten der Hochzeit besprochen. Und Chaim hatte sich überreden lassen, am Mitzwah-Tanz teilzunehmen, dem letzten Teil der Zeremonie, bevor Braut und Bräutigam endlich eine Weile allein in einem Zimmer verweilen durften.

Er trat aus der Tür und blickte auf den kleinen Platz. Die Sonne stand hoch am Mittagshimmel, die Häuser aus dunklem Holz und Lehm, die ihre Synagoge umschlossen, warfen wohltuende Schatten. Eng zusammengerückt standen sie da, als würden sie das große Steinhaus in ihrer Mitte beschützen wollen. Drei große bogenförmige Öffnungen fanden sich unterhalb des Giebels, das darüberliegende runde Rosenfenster mit dem rötlich schimmernden Glas kam aus Chaims Werkstatt. Erst vor einigen Jahren war ihnen der Bau ihres Bethauses gestattet worden. Jedoch nur unter der Bedingung, dass es nicht direkt an der Straße läge, sondern versteckt in einem Innenhof.

Haus der Beschnittenen wurde ihre Synagoge seitdem von den wohlwollenden Christen genannt. Brutstätte des Teufels war eine andere Bezeichnung, die auch jeder in der Stadt verstand.

Chaim hatte sich gerade dem hohen Eingang ihres Gotteshauses mit den drei breiten Treppenstufen zugewandt, da kam ein Junge aus dem Torbogen zur Lorscher Gasse gerannt. Ein etwas jüngeres Kind folgte dem Buben mit ein paar Schritten Abstand.

»Isaak, ich krieg dich!«, schrie der Jüngere.

»Versuch es doch, Aaron, du Zwerg«, rief Isaak zurück. »Lahmer Zwerg, lahmer Zwerg. Versuch’s doch, versuch’s doch!«

Während des Laufens hatte sich Isaak zu seinem Bruder umgedreht. Es schien, als wolle er den Abstand zu Aaron genau abstimmen. Einerseits sollte sein kleiner Bruder die Verfolgung nicht mutlos aufgeben, andererseits wollte Isaak genug Distanz bewahren, um dessen Knüffen nicht ausgesetzt zu sein. So bemerkte Isaak den Pferdewagen nicht, der mit Speisen und Getränken für die Hochzeit beladen war. Der Kutscher war abgestiegen und bemühte sich, das Gefährt unter den Kran zum Abladen zu bugsieren, sodass die vielen Säcke, Fässer und Kisten endlich im Keller eingelagert werden konnten.

Zunächst drückte er das breite Hinterteil des Pferdes nach vorn, rannte dann fluchend zum Kopf des Tieres und drängte es wieder nach hinten. Das arme Geschöpf wieherte und versuchte, aus den widersprüchlichen Anweisungen des Mannes schlau zu werden. So war der Blick des Wagenführers auf das Pferd und den Kran gerichtet und nicht auf den rennenden Isaak.

Der Rabbi sah das Unglück herannahen. Im allerletzten Augenblick zog er Isaak von dem großen Wagen weg.

Chaim schnaufte. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Junge wäre von dem eisenbeschlagenen Rad zermalmt worden.

Langsam beruhigte sich der Herzschlag des Rabbis. Er nahm den Buben auf seinen Arm und ging auf Aaron zu, der vor Schreck auf den Boden geplumpst war. Dabei sprach Chaim streng auf Isaak ein: »Du musst nach vorne schauen, wenn du läufst. Guck, der Wagen dort wäre fast über dich …«

»Isaak, Aaron, rennt doch nicht weg! Ich habe Orli und Bela bei mir, ich kann nicht so schnell«, unterbrach ihn eine kräftige Frauenstimme. Da kam auch schon die Mutter der beiden durch den Torbogen herbeigeeilt. Ihren Säugling Bela trug sie eingebunden in einem Tuch vor der Brust. Die einjährige Orli thronte aufrecht, ebenfalls in ein Tuch gewickelt, auf dem Rücken der Mutter.

»Schalom, Rachel. Hier sind deine beiden Lausbuben«, grüßte Chaim.

»Schalom, Rabbi Chaim, gut, dass ich dich treffe«, brachte Rachel hervor, vom Laufen atmete sie noch schwer. »Hast du einen Moment Zeit?«

Die kleine, kräftige Frau kratzte sich verlegen mit der linken Hand den Nacken. Gleichzeitig zupfte sie mit der rechten ihr abgewetztes Leinenkleid zurecht, an dem ein Riss an der linken Schulter zwar sichtbar, jedoch sorgfältig zugenäht war.

Chaim lächelte freundlich. Er konnte Rachel gut leiden, auch wenn er ab und an über ihre mit manchem Aberglauben gespickte Gottverbundenheit schmunzeln musste. Die Länge des Bartes ihres Mannes Zacharias, dessen Haut doch so empfindlich sei, war Gegenstand langer Erörterungen gewesen. War die Anweisung aus dem zehnten Kapitel des Levitikons, den Bart nicht zu stutzen, nun ein Gebot oder ein Verbot? Und falls es ein Verbot war, wie schwer würde das Kratzen in Zacharias’ Gesicht gegenüber Gottes Willen wiegen? Rachel hatte auf einer Klärung des Sachverhaltes von höchster Stelle bestanden. So hatte diese Frage schließlich selbst den Rat beschäftigt.

Chaim unterdrückte ein Seufzen bei der Erinnerung an all die haarspalterischen Diskussionen. Insbesondere Rabbi Mosche liebte es, sich in solchen Details zu ergehen. Mit welcher Geduld sein älterer Kollege Rachel damals zugehört und alle Aspekte des Bartwuchses und Kratzens ihres Mannes beleuchtet hatte. Da war kein Zweifel: Diese stolze Frau führte ihr bescheidenes Heim nach allen Regeln der jüdischen Sitte. Nun stand sie vor ihm, ihre Haare quollen unter dem halb gelösten Kopftuch hervor, und dicke Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.

Eine Unterhaltung mit Rachel könnte lange dauern, dazu hatte Chaim jetzt wirklich weder Lust noch Zeit. Der Domdekan Raimund würde bald in die Synagoge kommen, und Chaim wollte unbedingt den Psalm studieren, den sie gerade bearbeiteten, schließlich war Raimund immer bestens vorbereitet. So antwortete er: »Nein, Rachel, jetzt ist es gerade nicht so gut. Ich muss dringend in die Synagoge.«

»Bitte, Rabbi Chaim, du musst mich anhören. Gestern Nacht ist Zacharias nicht nach Hause gekommen«, insistierte Rachel, während die kleine Orli fröhlich mit ihren Fingerchen am Bindeband des Kopftuchs ihrer Mutter spielte.

»So? Wo wollte Zacharias denn hin?«

»Er ist mit seinem Handwagen frühmorgens Richtung Guntzinheim losgezogen. Am Nachmittag wollte er aber schon zurück sein.« Rachel musste Orlis Hände festhalten, die nun kräftig an ihrem Haarband zogen. »Meister Wendel wollte ihm doch endlich das Geld für die sieben Felle geben, die er vor vier Wochen auf Vorschuss von Zachi erworben hatte. Der Schuster wollte aus dem Leder Schuhe machen und uns dann von dem Erlös bezahlen.«

»Vielleicht ist die Deichsel seines Wagens gebrochen und Zacharias musste unterwegs übernachten.«

»Es ist noch nie passiert, dass er über Nacht nicht heimgekehrt ist«, erwiderte Rachel empört.

Chaim erwog die Möglichkeiten, was geschehen sein könnte. Dass der Trödel- und Kleinwarenhändler nicht heimgekommen war, konnte Tausende von Gründen haben. Jedoch war gerade ein Jude außerhalb des Walls in Gefahr. Die Mauern der Stadt boten Schutz vor Tieren, Wegelagerern und Ausgestoßenen, besonders bei Nacht. Und neuerdings gingen Gerüchte um, dass aufgewühlte Christen sich zu Heeren zusammenrotten würden. Rachels Sorge hatte also einen guten Grund.

Aber was soll ich jetzt machen?, dachte Chaim in seiner Ungeduld. Isaak zappelte auf seinem Arm und der Kutscher war nach wie vor gefährlich am Manövrieren. Er wollte den Jungen daher nicht loslassen. Deshalb fragte er Rachel: »Hast du genug Geld bis morgen?«

Der kleine Aaron war mittlerweile aufgestanden und zog an der linken Hand seiner Mutter. Rachels Blicke wechselten zwischen dem Jungen und Chaim hin und her. Gleichzeitig versuchte sie, mit ihrer Rechten Orli zu beruhigen. »Fünf Silberschillinge hat uns Meister Wendel versprochen. Mittlerweile können wir uns nicht mal mehr Brot kaufen. Zachi war so froh, dass wir nun endlich das viele Geld erhalten würden, das uns der Schuster schuldet.«

Chaim brannte es unter den Füßen, aber er musste der armen Frau helfen. Wenn er Rachel jetzt Geld gäbe, würde er dies jedoch nur unter größten Mühen aus der Armenkasse der Gemeinde zurückbekommen. Dazu brauchte es seit Neuestem die Zustimmung des Rates. Eine reine Formsache in diesem Fall, aber die Zustimmung musste vor der Auszahlung gegeben werden. Chaim fühlte einen Groll gegen diese völlig unnötige Vorschrift in sich aufkommen, dem er nun jedoch keinen Raum geben wollte. Ach, was soll’s, dachte er. Sobald es mit Zacharias’ kleinem Geschäft wieder aufwärtsginge, würde Rachel ihm das Geld unaufgefordert zurückzahlen. Sie würde ihn daran erinnern, wenn er das Ganze längst schon wieder vergessen hätte.

Er wandte sich an den Jungen auf seinem Arm. »Isaak, du musst jetzt brav deiner Mutter folgen, versprichst du das dem Rabbi Chaim?«

Der Junge, der inzwischen an Chaims Schläfenlocken Gefallen gefunden hatte und daraus kleine Zöpfe drehte, nickte gehorsam.

Chaim ließ Isaak hinunter, holte einen Lederbeutel aus seinem Wams hervor, nahm zwei Münzen heraus und legte sie auf seine flache Hand. »Rachel, ich muss jetzt wirklich gehen. Bitte nimm die zwei Pfennige und kauf Brot und auch etwas Wurst für dich und deine Kleinen. Wahrscheinlich gibt es für alles eine ganz einfache Erklärung.«

Rachel schaute Chaim zweifelnd an, sodass der hinzufügte: »Dein Mann kommt sicher bald wohlbehalten zurück. Du darfst das Böse nicht an die Wand malen, sonst kommt es von selbst.«

Bei dem Wort Böse schreckte Rachel unvermittelt zurück. Derweil zogen sowohl Isaak als auch Aaron an Rachels Arm. Sie schaute auf die zwei Münzen in Chaims Hand. Nun fing auch noch die kleine Bela zu schreien an.

Zögernd nahm Rachel das Geld an sich. »Danke, Rabbi Chaim. Ich gebe dir alles zurück, sobald Zacharias wieder zu Hause ist und wir das Geld von Schuster Wendel erhalten haben.«

»Ist schon gut, Rachel. Das hat keine Eile.«

»Kannst du dem Parnas sagen, dass mein Mann nicht nach Hause gekommen ist?«

»Es tut mir wirklich leid, ich muss jetzt gehen. Schalom.« Mit diesen Worten ließ er Rachel und ihre vier Kinder stehen und eilte zum Eingang der Synagoge.

 

Dort angekommen schlug Chaim das in weiches Leder eingebundene Buch der Psalmen auf und atmete den vertrauten Geruch des kostbaren Pergaments ein. Und während er sich an den wie Perlen aufgereihten Buchstaben und den feinen Bildern erfreute, die sich wie Efeu um die hebräische Schrift rankten, verflüchtigte sich jeder Gedanke an Rachel und ihren Mann.

Mainz – Bischofspfalz, im Schlafraum des Domdekans

Es war eine hohe Kunst, sich der schwarzen Soutane der Benediktiner zu entledigen. Die weiße Kordel mit den zehn Knoten hing bereits am Haken an der Tür. Mit der Gewandtheit jahrzehntelanger Übung griff Raimund mit beiden Händen über Kreuz den schweren Stoff auf Schulterhöhe, beugte sich nach vorn, zog sich zunächst das enge Rückenteil über die Schultern und dann den weiten Rest der Kutte. Dabei vermied er jegliche Berührung des Stoffes mit dem kargen Steinboden seiner Zelle.

Nun stand er da, mit nacktem Oberkörper, nur die weiße Bruoch bedeckte seine Blöße.

Er sah an sich hinunter. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Mitbrüder hatte er seinen schlanken Körper bewahrt. Die straffe Ordnung des klösterlichen Tagesablaufes war für ihn seit jeher eine wohltuende Stütze, daher musste er die Monotonie des Mönchslebens nicht durch Sinnesfreuden kompensieren. Von dem meist reichhaltigen Klosteressen nahm er nur in Maßen. Aber am Sonntagabend beim geselligen Gespräch mit seinen Brüdern genoss er es, einen Becher Wein zu trinken. Das Kloster am Jakobsberg war allseits bekannt für seine Vinifikation, die sich der roten und weißen Reben von den Hängen der zwei großen Flüsse bediente, die in seiner Stadt zusammenfanden.

Sein Weg sollte ihn heute Mittag zur Synagoge führen. Dabei war es angeraten, unverdächtige Kleidung zu tragen. Schon aus Respekt vor jüdischen Besuchern. Denn obwohl Raimund und Rabbi Chaim für ihr Treffen die Mittagszeit ausgemacht hatten, in der kaum mit Anwesenden zu rechnen war, galt es, vorsichtig zu sein. Die Synagoge stand jederzeit allen in der Gemeinde offen, Gott war schließlich immer da. Und ebenso das Bedürfnis, mit ihm in Kontakt zu treten, hatte Chaim erklärt.

Aber auch christliche Stadtbewohner könnten Anstoß nehmen an einem Mönch auf dem Weg in das Viertel, in dem vorwiegend Juden wohnten, und dies umso mehr, nachdem man ihn im letzten Jahr zum Domdekan bestimmt hatte. Daher schlüpfte Raimund in das grau-grüne Wams, das auf der Pritsche bereitlag, obwohl es nur ein kurzer Fußweg von der Bischofspfalz neben dem Sankt-Martins-Dom zur Synagoge war. Und trotz der seit Wochen andauernden Hitze entschied er sich, auch die Gugel auf dem Kopf zu tragen.

Raimund hängte die Mönchskutte an den Haken zu der Kordel, öffnete die schwere Holztür und schritt an den geschlossenen Zellentüren seiner Mitbrüder vorbei. Das Klappern seiner Sandalen gab den Takt zum Zirpen einer Meise, blühende Rhododendren im menschenleeren Innenhof verbreiteten einen bleiern-süßen Duft. Wenn es so warm war, bevorzugten die Mönche ihre kühlen Zellen zur Mittagsruhe.

Er schritt an dem Kaiserhaus vorbei, in dem der Herrscher über das Frankenreich und seine Fürsten weilten, wenn sie sich zu einem Hoftag in der Mainzer Bischofspfalz versammelten. Heute vermied es Raimund, die Pfalz durch die große Pforte zum Marktplatz zu verlassen. Daher wählte er nicht den direkten Weg über den Michaelishof mit den Ställen und Verwaltungshäusern, sondern wandte sich zum Bischofspalast zu seiner Linken, der einen direkten Zugang zum Dom bot. Er schritt durch die Pforte mit den zwei Säulen und trat in eine große Halle ein.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, ließen die schmalen Fenster hoch oben in dem Mauerwerk doch nur wenig Licht hinein. Ein Bildnis Heinrichs IV. auf der gegenüberliegenden Seite nahm zögerlich Gestalt an. Eine weite marmorne Treppe teilte sich nach links und rechts und ließ so Raum für das mannshohe Wandbild des Kaisers. Der stand dort jedoch etwas verloren zwischen all den gerahmten Gesichtern der Geistlichkeit: Seit einigen Jahren prangten Bischof Ruthards zweiundsiebzig Vorgänger an den Wänden hoch über dem Bildnis des Kaisers.

Raimund entschied sich für die rechte Treppe. Oben angekommen blickte er durch ein kleines Fenster in Richtung Michaelishof, wo er die Spitze des alten Wohnturms durch die enge Öffnung erspähen konnte. Obwohl der mächtige Turm von außen sehr robust wirkte, wusste Raimund, dass dessen Inneres in einem erbärmlichen Zustand war. Feuchte hatte sich in alle Winkel eingeschlichen, das Holz war modrig geworden und verbreitete einen muffigen Geruch. Er hatte den Turm als sicheren Lagerplatz für bedeutende Dokumente im Auge, war jedoch mit Bischof Ruthard bisher nicht bezüglich der vorher notwendigen Renovierung übereingekommen. Raimund seufzte kurz, wandte sich nach rechts und passierte den Empfangsraum des Bischofs, vor dem wie immer eine Wache stand. Der lange Gang war ausgefüllt mit goldenen und silbernen Monstranzen, die sorgsam auf Tischen aufgereiht waren. Dazwischen beäugten hölzerne Heilige die Vorbeigehenden, als wären sie vom Himmel abgestellt worden, die kostbaren Reliquien zu bewachen.

Über eine Holzbrücke ging es von dem Bischofspalast hinüber in den Dom.

All die Pracht der Pfalz konnte leicht vergessen machen, dass man sich in einer Festung befand. Neben dem gut gesicherten Tor zum Marktplatz war dieser Übergang die einzige Verbindung nach draußen. Erst letztes Jahr hatte Bischof Ruthard die weitaus prachtvollere Steinbrücke abreißen und durch diese schlichte einziehbare Holzkonstruktion ersetzen lassen. So konnte nun ein Ansturm vom Dom her vereitelt werden. Bei Gefahr verschluckte die Pfalz die Schubbrücke und die Angreifer stünden machtlos vor einem gähnenden Abgrund.

Eine kleine Tür führte in den Altarraum des Domes, durch die er mit seinen Mitbrüdern soeben erst vom Gebet zur Sext gekommen war. Das Mittagslicht zeichnete Streifen in den majestätischen Raum. Christus, ans Kreuz genagelt, blickte stumm auf die wenigen Betenden hinunter. Ein Kranz von Sonnenstrahlen umgab den Körper des Herrn, der, von der Marter seltsam unberührt, hoch über den Menschen schwebte.

Trotz all seiner Bewunderung für die hohe Baukunst empfand Raimund eine merkwürdige Beklemmung angesichts dieses Wahrzeichens erzbischöflicher Macht. Deutlich wohler war ihm in der viel bescheideneren Johanniskirche, die wenige Schritte westlich des Domes innerhalb der Pfalz lag. Dort, vor dem unscheinbaren Bild des Sämanns, der Gottes Botschaft vertrauensvoll über das weite Feld verstreute, betete er am liebsten.

War es, weil auch seine Eltern Bauern waren? Wie so oft tauchten Erinnerungen an seine Mutter ganz unverhofft in seinem Bewusstsein auf. In ihrem erdfarbenen Kleid sah er sie beim Melken der Kühe auf einem Schemel. Sie hielt ihm die noch warme Milch in einem grob geschnitzten Holzbecher an den Mund, aus dem er gierig trank. Der vertraute mütterliche Geruch und der süßliche Geschmack der frischen Milch, die seine Kehle hinunterlief, waren die sinnlichsten Momente eines Kindesglücks, welches einmal da gewesen sein musste. Das war, bevor er als Sechsjähriger in das Kloster auf dem Jakobsberg jenseits der Stadtmauer gebracht worden war. Seitdem hatte er seine Mutter nicht mehr gesehen.

Vermutlich lebte sie nicht mehr, die Bauern hier wurden nicht alt.

Am Ausgang des Doms zog er die Gugel tief ins Gesicht. Schnell schritt er an dem mächtigen Tor zur Bischofspfalz vorbei, hinein in die Straße zum Flachsmarkt, die in Mainz nur die »Lange Gasse« genannt wurde. Aus den zweistöckigen Häusern links und rechts drangen Stimmen, Kinderschreien und -lachen, deftiges Fluchen und das ein oder andere Tischgebet. Nur vor einigen der vielen Läden waren Waren ausgestellt. Er kam zügig voran auf dem sonst so geschäftigen, jedoch in der heißen Mittagszeit fast menschenleeren Weg.

Vor dem Flachsmarkt bog Raimund nach links ab in die Lorscher Gasse und ging auf einen weiten Torbogen zu. Der Durchgang zum Synagogenplatz führte durch eines der wenigen Steingebäude in Mainz, in denen keine Gottesdienste gefeiert wurden, sondern die ausschließlich als Wohnstätten dienten. Auf der rechten Seite des Durchgangs stand Frau Hendlein zwischen den Auslagen ihres Geschäftes. Die Gattin des wohl tüchtigsten Kaufmanns von ganz Mainz grüßte Raimund, indem sie die Hände auf die Brust legte und sich verbeugte. Sie trug ein Kleid aus einem der leuchtenden orientalischen Stoffe, die bei den Städterinnen heiß begehrt waren.

Raimund antwortete mit einem kurzen Nicken und warf einen Blick auf die Auslagen. Neben einem Tischchen mit feinen Lederhandschuhen stand eine marmorne Madonna aus Italien. Marderfelle hingen an einem Haken in der Tür, und in einer Vielzahl von Schalen waren bunte, herrlich duftende Gewürze aus fernen Ländern ausgestellt, die im Rheintal nicht gedeihen wollten. Sogar eine vergoldete Amphore stand neben einem kupfernen Kessel, der aus Afrika zu kommen schien.