KAIJU WINTER

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KAIJU WINTER
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Kaiju Winter
Jake Bible

übersetzt von Nicole Lischewski

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com

Title: KAIJU WINTER. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2014. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Originaltitel: KAIJU WINTER

Copyright Gesamtausgabe © 2016 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Nicole Lischewski

Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2016) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-190-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Kaiju Winter

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Leseempfehlungen

Über den Autor

LUZIFER Verlag

Kapitel 1

»In diesem Anzug wird man ja gekocht«, empört sich Dr. Allison Hartness, als ihr erneut ein Schweißtropfen in die Augen fällt. »Hätte Bartolli nicht Geld für gekühlte Modelle lockermachen können?«

»Hat er ja«, antwortet Dr. Robert Tomlinson, während sich die beiden Vulkanologen ein paar Meilen vom Epizentrum des Yellowstone Vulkankraters entfernt mühsam ihren Weg über die aschebedeckte Erde bahnen. »Aber die hat der alte Bastard natürlich selbst behalten. Als ob der seinen Arsch jemals hierher vor Ort bewegen würde.«

Asche rieselt auf die zwei Wissenschaftler und auf die zehn Zentimeter dicke Schicht nieder, die bereits auf der trockenen, rissigen Erde liegt. Dr. Hartness und Dr. Tomlinson sind hergekommen, um die östlichen Sensoren in Zone Zwei des Supervulkans neu zu kalibrieren. Sie machen sich gerade an die letzten Arbeiten, bevor sie wieder zu den Annehmlichkeiten in Bozeman, Montana, ein paar Meilen entfernt zurückkehren. Da wegen des bevorstehenden Ausbruchs des Yellowstones Supervulkans die gesamte Bevölkerung von Bozeman evakuiert worden ist, halten sich die Annehmlichkeiten momentan allerdings in Grenzen – und sicher ist es nebenbei bemerkt dort auch nicht. Keinem von beiden gefällt es, dass sie sich in ihrem verwaisten Hotel die Handtücher und die frische Bettwäsche selbst holen müssen; insbesondere, da sie die Handtücher und Bettbezüge erst einmal in Plastiktüten wickeln müssen, damit die Asche auf dem Weg durch den überdachten Gang zwischen dem Büro und ihren Zimmern nicht alles sofort verschmutzt.

»Ihr zwei wisst, dass ihr gerade das Funkgerät anhabt, oder?«, fragt Dr. Cheryl Probst vom United States Geological Survey in ihr Ohr.

»Ja, aber wir wissen auch, dass du als Einzige daheim in Virginia mithörst«, antwortet Dr. Hartness. »Bartolli hat schließlich noch kein einziges Mal den Funkverkehr übernommen.«

»Möchtest du das denn?«, meint Dr. Probst lachend. »Ihr macht die Studien vor Ort doch eigentlich nur deshalb, weil ihr dadurch von dem Arsch wegkommen könnt.«

»Sagt die Frau, die ohne Atemgerät schlafen gehen kann«, brummt Dr. Tomlinson. »Willst du vielleicht tauschen? Du kannst mich hier gerne ersetzen. Ich hätte nichts dagegen.«

»Repariert einfach die Messgeräte und seht zu, dass ihr wieder ins Motel zurückkommt«, sagt Dr. Probst. »Danach kannst du dir gerne ein paar Drinks genehmigen und mit dem Wissen einschlafen, dass ihr nur noch zwei Tage mit Reparaturen vor euch habt.«

»Steck dir deine rosige Sicht der Dinge doch einfach in den Arsch, Cheryl«, erwidert Dr. Hartness lachend. »Und was du dir da sonst noch alles reinstecken willst. Tu dir keinen Zwang an.«

»Da ist sie«, sagt Dr. Tomlinson nun und zeigt auf den Deckel einer schwarzen Kiste, die aus der Asche ragt. »Die Letzte. Und danach befolge ich Dr. Probst's Rat und fahre zurück, um mich ordentlich zu besaufen.«

»Von Besaufen habe ich nichts gesagt. Ein paar Drinks sollst du dir genehmigen«, antwortet Dr. Probst.

Die Wissenschaftler knien sich jetzt neben die Kiste und machen sich an die Arbeit. Jeder von ihnen untersucht das Messgerät systematisch. Auf diese Art und Weise überprüfen sie auch die Arbeit des anderen und stellen sicher, dass sie nicht schon bald wieder herkommen und die Sensoren erneut reparieren müssen.

»Das sollte es gewesen sein«, erwidert Dr. Tomlinson. »Funktioniert's?«

»Kleinen Augenblick noch«, antwortet Dr. Probst.

Die beiden Vulkanologen warten ungeduldig, während ihre Kollegin daheim in Reston, Virginia, die an den Hauptsitz des USGS übermittelten Signale und Messwerte überprüft. Dr. Tomlinson sieht währenddessen in den trüben Winterhimmel hoch und ignoriert die kleinen Ascheflocken, die anfangen, seine Gesichtsmaske aus Plastik zu bedecken. Es ist fast schon ein Ding der Unmöglichkeit, die echten Wolken von den endlosen Aschewolken zu unterscheiden, die aus diversen Stellen in der Nähe des Yellowstone Kraters emporsteigen. Der Mann schüttelt den Kopf, sieht dann nach unten und beobachtet, wie die grauen Flocken weich auf der vor ihnen versteckten Erde landen.

»Zeigt es etwas an?«, fragt Dr. Hartness nun.

»Ja, das schon«, antwortet Dr. Probst. »Aber es ergibt keinen Sinn. Ist da vielleicht irgendwo ein Auto in der Nähe?«

»Ein Auto?«, fragt Dr. Hartness verwirrt. »Was ist denn das für eine Frage?«

»Ich bekomme zwar Werte, aber die sind alle gleich und fast rhythmisch«, gibt Dr. Probst zurück. »Darum wollte ich wissen, ob eventuell ein Auto in der Nähe ist. Vielleicht irgendein Hartgesottener, der sich nicht evakuieren lassen wollte und nun dort draußen in seinem aufgemotzten Truck mit aufgedrehter Stereoanlage herumfährt.«

Mühsam dreht sich Dr. Hartness in ihrem Schutzanzug herum, dessen dickes Plastik knittert und sich biegt, zu Dr. Tomlinson um. Der Mann erwidert ihren Blick mit einem Schulterzucken, was in seinem ebenso massiven und unförmigen Anzug allerdings kaum bemerkbar ist.

»Wir haben nichts gesehen«, meint Dr. Hartness. »Das müsste schließlich eine monströse Anlage sein, wenn die Sensoren sie bemerken.«

»Spürt ihr denn irgendwas?«, fragt Dr. Probst. »Denn was auch immer es ist, es sollte ungefähr … hm … auch egal. Jetzt hat's aufgehört!«

»Heißt das, dass wir jetzt gehen können?«, fragt Dr. Tomlinson Allison.

 

»Ich sage euch gerade, dass die Sensoren eine komische Anomalie aufzeichnen, und du fragst, ob du jetzt gehen kannst?« Dr. Probst lacht spöttisch. »Netter Versuch, Bob.«

»Ich hasse dich, Cheryl«, antwortet Dr. Tomlinson. »Wir werden also alles auseinandernehmen und noch mal ganz von vorne anfangen.«

»Wie schön«, seufzt Dr. Hartness.

Dr. Tomlinson kniet sich wieder neben die Kiste und nimmt sein Werkzeug aus der Tasche. Er öffnet das Messgerät und hält dann mit einer Hand auf dem Boden inne.

»Hey – ich kann tatsächlich was fühlen«, sagt Dr. Tomlinson. »Es wird stärker. Allison, fühl auch mal. Das scheint nicht …«

Dr. Tomlinson wird plötzlich hart zu Boden gerissen und um ihn herum explodiert eine große Aschewolke. Er ist flach auf die Erde gepresst und sein Arm ist außer Sicht, während der Rest von ihm erzittert, als er zu schreien beginnt.

»Bob!«, ruft Dr. Hartness entsetzt und stürzt auf ihn zu. »Bob! Was ist denn passiert?«

»Heilige Scheiße!«, schreit Dr. Tomlinson. »Es hat meinen Arm! ES HAT MEINEN ARM!«

Dann ist der Mann plötzlich wieder frei und rollt hektisch über den Boden. Sein rechter Arm ist abgerissen!

Blut spritzt überallhin und färbt die graue Asche schwarz. Statt weiter auf ihn zuzulaufen, stolpert Dr. Hartness zurück, dreht sich um und übergibt sich geräuschvoll. Das Erbrochene erfüllt ihren Schutzanzug, woraufhin sie sich noch stärker übergeben muss, während ihr Kollege weiterhin schreiend auf dem Boden liegt.

»Allison! Bob!«, ruft Dr. Probst über den Funk. »Was ist denn? Was ist passiert?«

Dr. Hartness reißt sich daraufhin den Kopfschutz ihres Anzugs herunter und zerrt sich das ganze Ding so schnell wie möglich vom Leib. Ihre Brust ist förmlich von ihrem Erbrochenen getränkt. Vor lauter Angst, dass sie nie wieder mit dem Brechen aufhören kann, vermeidet sie es, den keinen Meter entfernten Mann anzusehen, der panisch nach Hilfe schreit. Aber leider tröstet sie das, was sie nun stattdessen sieht, kein bisschen.

»Was zum Teufel …?«, keucht sie, als die Asche sofort beginnt, in ihrer Kehle kleben zu bleiben. Die Erde vor ihr entwickelt plötzlich Risse und reißt auf, und dann schießt etwas Langes und Knallblaues hervor. Es wickelt sich um Dr. Hartness' Körper und zerrt sie in das gerade entstandene Loch und faltet sie praktisch zusammen, damit sie dort hineinpasst. Wie ein kleiner Geysir spritzt nun Blut aus dem Loch. Geysire sind in Yellowstone keine Seltenheit; welche aus menschlichem Blut allerdings schon.

»Bob!«, schreit Dr. Probst. »Sag mir, was bei euch los ist!«

Aber Dr. Tomlinson ist zu sehr mit Schreien beschäftigt, um ihr eine Antwort geben zu können. Und danach ist er zu beschäftigt damit, von demselben langen, knallblauen Ding in das Loch gezerrt zu werden. Seine Schreie verstummen plötzlich, und nur noch das Summen aus Dr. Hartness' Funkkopfhörer ist zu hören. Der leere auf dem Boden liegende Schutzanzug wird langsam von Asche bedeckt.

»Bob! Allison! Redet mit mir!«, ruft Dr. Probst aufgeregt aus dem Kopfhörer. »Hallo? Hallo? Sagt mir, dass alles in Ordnung ist! Lasst mich eure Stimmen hören! Bitte!«

***

Hank Williams' Lonesome Whistle spielt leise, als das neue Auto in Montana über den mit Asche bedeckten Highway fährt. Special Agent Tobias Linder starrt angestrengt durch die Windschutzscheibe, während winzige Ascheflocken vom Himmel schweben und sich zu der einen Zentimeter hohen Asche gesellen, die in den letzten achtundvierzig Stunden gefallen ist. Er hat mittlerweile den Überblick darüber verloren, wie viel insgesamt auf den Boden liegt. Seine Aufmerksamkeit wandert nun vom Highway 37 zu seinem Armaturenbrett und dem kleinen Gerät, das ihm ständig rote Zahlen anzeigt.

Er seufzt, als die Zahl innerhalb von Sekunden von sechsunddreißig Prozent auf achtunddreißig Prozent steigt. Nach zwei Meilen erreicht die Zahl bereits vierzig Prozent, was bedeutet, dass er sein Ziel wahrscheinlich gerade noch so erreichen wird, bevor er den Luftfilter auswechseln muss. Sonst wird der Automotor unweigerlich an Asche ersticken und zu einem nutzlosen Metallklumpen werden.

Zum siebzehnten Mal an diesem Morgen klingelt sein Handy, aber er ignoriert es. Denn er weiß genau, was für eine Nachricht ihm hinterlassen werden wird. So gerne er auch seine Pflicht erfüllen würde, die ihm vom Präsidentenamt der Vereinigten Staaten vorgeschrieben wird, hat Linder doch etwas ganz anderes vor, als bei der Evakuierung der südwestlichen USA zu helfen. Denn ein paar Meilen weiter in Champion, Montana, einer Kleinstadt am Lake Koocanusa, erwartet ihn bereits eine wichtige Aufgabe.

Zumindest hofft er das. Es hat über zehn Jahre und Hunderte von Fährten, die in Sackgassen geendet haben, gedauert, bis er diesen Ort endlich gefunden hat. Und ob der Supervulkan nun ausbricht oder nicht – Linder hat nicht vor, sich diese Chance entgehen zu lassen. Er ist früher schon einmal nahe dran gewesen, aber dann kam er doch immer knapp zu spät. Dieses Mal sagt ihm allerdings sein Bauchgefühl, das er richtig liegt. Die Person, die er jagt, ist nur noch ein paar Meilen entfernt. Und all das hat er einem einzigen überwachten Telefongespräch zu verdanken.

Die letzten Klänge von Hank Williams verstummen, aber Linder ignoriert die fehlende Musikberieselung einfach, als er um eine Kurve fährt und sich plötzlich zwei Sheriffautos gegenübersieht, die quer auf der Straße stehen. Er hält an und kurbelt sein Fenster herunter, als ein verwundert aussehender Deputy mit einer hellblauen OP-Maske über Mund und Nase zu ihm herüberkommt.

»Tut mir leid, Sir, aber der Highway ist gesperrt«, sagt der Deputy und zieht seine Maske ein Stück hinunter. »Champion wird heute evakuiert und die Straße ist deshalb nur noch in eine Richtung offen.«

»Verstehe, Deputy …?«

»Mikellson«, antwortet der Mann. Deputy Eric Mikellson, groß, breitschultrig und jung, lehnt sich vor. Sein Blick schweift durch das Auto. »Haben Sie in Champion zu tun, Special Agent …?«

Linder grinst, zieht seinen Ausweis aus der Tasche und klappt ihn auf, damit Mikellson ihn lesen kann.

»Special Agent Linder«, antwortet er. »Woher wussten Sie denn, dass ich beim FBI bin?«

»Habe ich nur geraten.« Mikellson zuckt mit den Schultern. »Sie sehen halt wie einer von der Regierung aus und Ihr Auto ebenfalls.« Er deutet mit dem Kopf auf die Luftfilteranzeige, die am Armaturenbrett klebt. »Habe gerade ein Webseminar über die Dinger angeschaut und weiß deshalb, dass die nur den Regierungsstellen geben werden, damit diese bei den Evakuierungen helfen können.« Er nickt zu den Polizeiwagen. »Uns haben Sie dabei wohl vergessen.«

»Hat die Asche Ihnen schon den Motor kaputtgemacht?«, fragt Linder.

»Noch nicht«, antwortet Mikellson. »Ist aber nur eine Frage der Zeit.«

»Das ist heute alles«, meint Linder lachend und sieht zu den Streifenwagen hinüber. »Denken Sie, dass ich vielleicht trotzdem durch kann? Ich habe in Champion zu tun.«

»Das bezweifle ich«, erwidert Mikellson lachend. »Das Einzige, was es in Champion überhaupt zu tun gibt, ist Fischen, Jagen und Campen.« Er schaut in den verfrühten Winterhimmel und die ständig fallende Asche hoch. »Und das kann man jetzt alles nicht mehr machen.«

»Ja, stimmt«, meint Linder nickend und holt unter dem Beifahrersitz einen braunen Briefumschlag hervor. Er öffnet ihn und nimmt das Foto eines kleinen Jungen heraus. »Haben Sie diesen Jungen schon mal gesehen?«

Mikellson streckt die Hand nach dem Bild aus und Linder lässt es daraufhin widerstrebend los. Der Deputy sieht sich das Foto ein paar Sekunden lang intensiv an und schüttelt dann den Kopf.

»Kann ich nicht behaupten, Special Agent«, sagt Mikellson.

»Linder«, entgegnet dieser grinsend. »Sie können ruhig Linder zu mir sagen.«

»Also, Linder, er erinnert mich spontan an niemanden«, antwortet Mikellson. »Aber wir haben hier im Sommer so viele Kinder, dass es schwer ist, sie alle auseinanderzuhalten. Den Winter über vergesse ich sie normalerweise alle und hab dann wieder Platz im Kopf für die neuen Gesichter, die zum Frühlingsende hier aufkreuzen.«

»Natürlich, das kann ich gut verstehen«, meint Linder und tippt mit dem Finger auf das Bild. »Aber das hier ist ein altes Foto, das gemacht wurde, als er sechs Jahre alt war. Der Junge müsste jetzt ungefähr siebzehn sein. Ich suche bereits seit seiner Geburt nach ihm, und ein Tipp hat mich hierhergeführt. Er ist wahrscheinlich viel größer und hat vielleicht sogar mittlerweile einen Bart. Und er lebt bei einer älteren Frau, glaube ich zumindest. Rote Haare, grüne Augen, sieht wie ein altes Fotomodell aus dem L.L. Bean-Katalog aus. Oder zumindest sah sie einmal so aus.«

Mikellson gibt Linder das Foto zurück und schüttelt den Kopf. »Sorry, Linder. Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber leider kann ich's nicht. Diesen Jungen habe ich noch nie gesehen, und um ehrlich zu sein – es gibt wirklich viele gut aussehende ältere Frauen hier. Die sind in unserer Gegend keine Seltenheit.« Mikellson lacht kurz auf und schlägt dann mit der Hand gegen die Autotür. »Tut mir leid, dass Sie Ihre Zeit damit vergeudet haben, hier raus zu fahren. Sie werden ja bestimmt bei den großen Evakuierungen im Süden gebraucht, oder?«

Linder betrachtet den Deputy eine Sekunde lang und lächelt dann breit. »Oh, ich glaube nicht, dass ich Zeit verschwendet habe«, sagt er und deutet dann auf die Streifenwagen. »Haben Sie was dagegen, wenn ich durchfahre und mal mit Ihrem Sheriff rede? Ich verspreche Ihnen auch, ihn nicht allzu lange zu belästigen.«

»Sie«, erwidert Mikellson daraufhin. »Sheriff Stieglitz ist eine Frau.«

»Tatsache?«, fragt Linder erstaunt. »War mir gar nicht bewusst, dass Montana so fortschrittlich ist.«

»Wir befinden uns in Lincoln County«, erklärt Mikellson. »Wenn man für den Job qualifiziert ist, kann man ihn auch haben. So läuft das hier. Und es ist nebenbei bemerkt das einundzwanzigste Jahrhundert.«

»Dann darf ich also zu Sheriff Stieglitz fahren? Ich werde ihr auch nicht weiter auf die Nerven fallen«, sagt Linder. »Großes Pfadfinderehrenwort.«

Mikellson starrt Linder ein paar Sekunden lang an und nickt dann. Anschließend tritt er vom Auto zurück und zieht sich die Maske über Nase und Mund.

»Machen Sie nur«, entgegnet Mikellson, dreht sich um und winkt dem anderen Deputy zu, der bei den Streifenwagen steht.

Der Mann legt den Kopf schief, zuckt mit den Schultern und steigt dann in seinen Polizeiwagen. Der Motor stottert beim Starten, fängt sich dann aber wieder, und der Deputy fährt weit genug rückwärts, um Platz für Linders Auto zu machen.

»Danke, ich weiß das wirklich zu schätzen«, sagt Linder, als er die Automatikschaltung betätigt. »Es dauert auch nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder unterwegs und Sie sind mich los. Ich weiß, dass Sie im Moment wichtigere Dinge im Kopf haben, als sich um einen blöden FBI-Agenten Gedanken zu machen, der ausgerechnet dann auftaucht, wenn Sie versuchen, Ihre Freunde und Nachbarn in Sicherheit zu bringen.«

»Uns ist zurzeit nicht gerade langweilig, das stimmt schon«, sagt Mikellson, während er Linder vorbeiwinkt. »Passen Sie auf und behalten Sie die Luftfilteranzeige im Blick, denn die Asche kommt immer dichter runter.«

»Danke, Deputy Mikellson.« Linder nickt ihm zu, rollt sein Fenster wieder hoch und fährt langsam an den beiden Streifenwagen vorbei.

Der zweite Deputy wartet noch eine Minute lang und fährt seinen Wagen dann zurück in die ursprüngliche Position, sodass beide Spuren des Highways 37 wieder gesperrt sind.

»Wer war denn das?«, fragt Deputy Shane Weaver, der seinen aufgeschwemmten Körper mühsam aus dem Wagen bugsiert und seine Gesichtsmaske zurechtrückt. »Stephie hat doch gesagt, dass wir keinen durchlassen sollen.«

»FBI«, entgegnet Mikellson. »Er sucht nach jemandem.«

»In diesem Mist?«, fragt Weaver mit ausgebreiteten Armen, während die Asche weiter fällt. »Nach wem sucht er denn?«

»Nach jemandem, der nicht gefunden werden will«, erwidert Mikellson.

***

Sheriff Stephie Stieglitz steht mit ruß- und schweißverschmierter Stirn auf dem Gehweg vor Sheena's Diner und sieht einer Familie dabei zu, wie diese in einen der Schulbusse steigt, mit denen sie die Bevölkerung von Champion evakuieren. Der Vater hilft dem kleinsten Kind gerade die Stufen hoch, während die Mutter die Hand der älteren Schwester hält und wartet, dass sie einsteigen können. Das Mädchen wirft noch einen Blick über die Schulter und verengt die Augen – ihr Lachen ist hinter der OP-Maske versteckt.

 

Stephie zieht ihre eigene Maske kurz herunter, damit das Mädchen ihr beruhigendes Lächeln sehen kann. Champion ist ein sehr kleiner Ort und Stephie kennt daher jede einzelne Person, die in den schmutzigen gelben Schulbus steigt. Das kleine Mädchen, Brita Hoverson, ist letzten Montag gerade erst sieben Jahre alt geworden. Genau an dem Tag, als Yellowstones Supervulkan anfing, Asche in die Luft zu spucken.

Nach Stephies Meinung ein ziemlich dämliches Geburtstagsgeschenk.

»Hey, Stephie«, ruft Deputy Mikellsons Stimme vom Funkgerät an ihrer Hüfte.

Stephie zieht ihre Maske wieder hoch und nimmt das Funkgerät in die Hand. »Was gibt's, Eric? Hältst du noch mit Shane die Stellung?«

»Es ist Besuch zu dir unterwegs«, antwortet Mikellson und verzichtet auf weiteren Small Talk. Das erregt sofort Stephies Aufmerksamkeit. Eric Mikellson ist nämlich für seinen Charme und seine Höflichkeit bekannt. Wenn er diese nicht spielen lässt, ist die Lage äußerst ernst.

»Was für Besuch denn?«, fragt Stephie alarmiert. »Und wieso ist der auf dem Weg zu mir, wenn niemand mehr nach Champion rein darf?«

»FBI«, antwortet Mikellson. »Er ist auf der Suche nach unseren Freunden.«

»Ach, du Scheiße! Jetzt?«, ruft Stephie, was Britas Mutter dazu bringt, sich mit überrascht geweiteten Augen zu ihr umzudrehen. Stephie zieht sofort ihre Maske herunter und haucht ein »Sorry« in ihre Richtung, dann zieht sie den Gesichtsschutz wieder hoch und geht weiter den Bürgersteig hinunter, wobei sie auf die schmierige Asche aufpasst, die jeden Zentimeter bedeckt. »Bist du dir sicher, dass er nach unseren Freunden sucht?«

»Ganz sicher«, erwidert Mikellson. »Er hat mir ein Bild von Kyle als Kind gezeigt und mir Terrie ganz genau beschrieben.«

»Scheiße«, sagt Stephie wieder. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

»Sollen Shane und ich vielleicht zurückkommen?«, fragt Mikellson. »Denkst du, dass du Verstärkung brauchst?«

»Nein, ich werde damit schon fertig«, entgegnet Stephie. »Ich möchte lieber, dass du Terrie und Kyle findest. Sie hätten inzwischen schon längst hier sein sollen, sind aber noch nicht aufgetaucht. Macht's dir was aus, kurz zum Haus rauszufahren und zu gucken, ob sie noch da sind? Wir müssen uns nämlich beeilen, denn sonst verpassen wir das Treffen mit dem staatlichen Konvoi in Coeur d'Alene. Lu hat uns schließlich einen riesigen Gefallen getan, indem sie uns dort einen Platz organisiert hat. Ich fände es furchtbar, wenn ausgerechnet ihre Mutter alles verpatzt.«

»Und was ist mit dem Agenten?«

»Wie heißt er denn?«

»Linder«, antwortet Mikellson. »Inzwischen müsste er schon fast bei dir im Ort sein.«

Linder. Mist.

Stephie dreht sich um und schaut durch den Aschenebel die Straße hinunter. Sie sieht ein schwarzes Auto um die Kurve kommen, hinter der die Berge von Montana vor lauter fallender Asche kaum noch zu erkennen sind.

»Hab ihn gesichtet«, meint Stephie. »Sieh zu, dass du Terrie und Kyle findest. Lass mich sofort wissen, wenn du sie hast. Aber ab jetzt keine Namen mehr über Funk, verstanden?«

»Alles klar«, sagt Mikellson. »Oh, und noch was, Stephie.«

»Ja, Eric?«

»Pass auf dich auf«, warnt er sie. »Das Lächeln von dem Typen schafft's nicht bis zu seinen Augen hoch. Er ist ganz offensichtlich auf Beute aus.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich kenne mich mit Special Agent Tobias Linder gut aus«, antwortet Stephie. »Ich werde schon vorsichtig sein.«

Sie klickt ihr Funkgerät wieder an ihren Gürtel und beobachtet dann, wie das Auto um die lange Reihe von Schulbussen herumfährt und ein paar Meter von ihr entfernt zum Stehen kommt. Special Agent Tobias Linder steigt aus, zieht sich eine Gesichtsmaske über und schreitet anschließend schnellen Schrittes auf Stephie zu.

»Sheriff Stieglitz?«, fragt Linder und hält seinen FBI-Ausweis hoch. »Ich bin Special Agent Tobias Linder. Haben Sie einen kurzen Augenblick Zeit für mich?«

Stephie betrachtet den Mann von oben bis unten. Er ist groß und muskulös, dunkelhaarig, mit braunen Augen. Unter der Jacke seines Anzugs, auf der sich bereits die Asche sammelt, kann sie an seiner rechten Hüfte den Umriss einer Pistole erkennen. An der Innenseite seines linken Fußgelenks zeichnet sich leicht eine zweite Pistole ab. Als sie wieder hochschaut, fängt Linder ihren Blick auf und sie weiß instinktiv, dass alles wahr ist, was sie bisher über den Mann gehört hat: Er ist auf der Jagd!

»Ein kurzer Augenblick ist so ziemlich alles, was ich gerade habe«, antwortet Stephie, als sie auf Linder zugeht. »Was führt denn das FBI hierher? Ich habe gedacht, dass alle Bundesangestellten gerade mit der angekündigten Verhängung des Kriegsrechts beschäftigt sind.«

»Ja, schon. Aber ich bin gerade dabei, noch ein paar offene Akten zu schließen, bevor das große Chaos ausbricht«, antwortet Linder und steckt seinen Ausweis wieder zurück in die Tasche. Er holt nun das Foto des Jungen heraus und hält es Stephie hin, damit sie es sich ansehen kann. »Dieser Junge ist bereits vor mehr als zehn Jahren verschwunden, und es sind gerade ein paar neue Informationen darüber aufgetaucht, dass er sich hier in der Gegend befinden könnte.«

»Wirklich?«, sagt Stephie. »Tut mir leid, Ihnen diese Illusionen nehmen zu müssen, Agent Linder …«

»Einfach nur Linder, bitte«, sagt er. Seine Maske verzieht sich, als er grinst.

»Also, Agent Linder«, sagt Stephie und lacht innerlich, als sie die Augenwinkel des Mannes schmal werden sieht. »In diesem Bezirk kenne ich wirklich jedes Gesicht, und dieses da habe ich noch nie gesehen.«

»Inzwischen ist er schon wesentlich älter«, erklärt Linder. »Eher ein junger Mann als ein Kind.«

»Seltsame Zeit, um an einem Vermisstenfall zu arbeiten«, sagt Stephie. »Mich wundert, dass das FBI Ihre Fahrt hier hoch autorisiert hat.«

Linder antwortet nicht, sondern steht einfach nur mit dem Foto in der ausgestreckten Hand da.

Stephie nimmt das Bild entgegen und sieht es sich genauer an, gibt aber darauf Acht, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hat und einen neutralen Gesichtsausdruck beibehält.

»Ein hübscher Junge«, sagt Stephie. »Ist heute bestimmt ein gut aussehender junger Mann.« Sie gibt ihm das Foto zurück. »Für seine Eltern muss es ein schwerer Schlag gewesen sein, als er verschwunden ist.«

»War es auch«, bestätigt Linder.

»Haben Sie damit viel zu tun, Agent Linder?«, fragt Stephie. »Eltern, deren Kinder verschwunden sind, schlechte Nachrichten zu überbringen? Ich habe hier meistens nur mit Wanderern und Jägern zu tun, die sich verlaufen haben und nicht gefunden werden können, was schon schwierig genug ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, in der Vermisstenabteilung des FBIs zu arbeiten.«

Wieder antwortet Linder nicht. Er sieht zu der Reihe von Schulbussen hinüber. Stephie folgt seinem Blick.

»Also, wie Sie sehen können, habe ich heute ziemlich viel zu tun. Ich muss mich an feste Uhrzeiten halten, damit wir es pünktlich nach Coeur d'Alene schaffen«, erklärt Stephie.

»Coeur d'Alene?«, fragt Linder. »Ich habe gedacht, dass alle Zivilisten dieser Gegend runter an den Golf fahren sollen?«

»Wir treffen uns mit dem Bundeskonvoi«, entgegnet Stephie. »Und dann geht's weiter nach Seattle. Wir haben Plätze auf einem der Schiffsträger in Everett reserviert.«

»Das muss Sie ja Einiges an Vitamin B gekostet haben«, antwortet Linder lachend.

»Ich habe eine Freundin an der richtigen Stelle«, antwortet Stephie. »Außer einem Anruf hat es mich nichts gekostet.«

»Ja«, sagt Linder nickend. »Das reicht manchmal aus. Ein einziger Anruf.«

Stephies Blut gefriert augenblicklich in ihren Adern, als ihr klar wird, warum Linder plötzlich in Champion aufgetaucht ist. So viele Jahre voller Vorsicht, und dann hebt sie mit der Entscheidung den Telefonhörer, sich mal eben ein Jahrzehnt voller Gefallen zurückzahlen zu lassen.

»Also hören Sie, Agent Linder«, sagt Stephie. »Ich bin ungern unfreundlich, aber ich muss mich jetzt wirklich um andere Sachen kümmern. Ich hätte Ihnen gerne mehr geholfen. Ich würde Ihnen ja anbieten, sich unserem Karavan anzuschließen, aber ich bin mir sicher, dass Sie noch zu tun haben.« Sie zeigt auf die sechs Busse. »Und wie Sie sehen, beladen wir immer noch zwei Busse, von daher werden Sie vermutlich keine Zeit damit verschwenden wollen, auf uns zu warten. Am besten sehen Sie zu, dass Sie Ihr Auto aus dem Ascheregen fahren, bevor der Motor anfängt zu streiken.«

»Ach, ich denke, ich werde noch etwas bleiben und mich mit ein paar Ihrer Bürger unterhalten«, sagt Linder. »Jetzt bin ich schließlich schon so weit gekommen, dass es mich zu Tode ärgern würde, wenn ich mich nicht weiter darum bemühen würde. Das stört Sie doch nicht, Sheriff, oder? Ich verspreche Ihnen auch, dass ich Sie nicht aufhalten oder Ihnen im Weg herumstehen werde. Und Sie sagten ja, dass Sie noch darauf warten, zwei Busse zu füllen.«

»Machen Sie nur«, antwortet Stephie, »aber versuchen Sie, nicht zu aufdringlich zu sein. Die Menschen hier sind selbst unter den besten Umständen nicht so gut auf die Bundesregierung zu sprechen. Wenn man ihnen dann noch mit dem Kriegsrecht droht, sinkt ihre Toleranzgrenze ganz rapide. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Aber sicher«, erwidert Linder nickend. »Auf jeden Fall.«