Unsere Heilige Ehre

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #6
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Unsere Heilige Ehre
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UNSERE HEILIGE EHRE
(EIN LUKE STONE THRILLER—BUCH 6)
J A C K   M A R S
Aus dem Englischen von Simon Dehne
Jack Mars

Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller Serie, welche sieben Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Er ist außerdem der Autor der neuen WERDEGANG VON LUKE STONE Vorgeschichten Serie und der AGENT NULL Spionage-Thriller Serie.

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Copyright © 2020 von Jack Mars. Alle Rechte vorbehalten. Mit Ausnahme der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen verschenkt werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihr eigenes Exemplar. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist ein Werk der Belletristik. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jackenbild Copyright GlebSStock, verwendet unter Lizenz von Shutterstock.com.

BÜCHER VON JACK MARS
LUKE STONE THRILLER SERIE

KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch #1)

AMTSEID (Buch #2)

LAGEZENTRUM (Buch #3)

UMGEBEN VON FEINDEN (Buch #4)

DER KANDIDAT (Buch #5)

UNSERE HEILIGE EHRE (Buch #6)

DER WERDEGANG VON LUKE STONE

PRIMÄRZIEL (Buch #1)

DER HÖCHSTE BEFEHL (Buch #2)

EINE AGENT NULL SPIONAGE-THRILLER SERIE

AGENT NULL (Buch #1)

ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)

JAGD AUF NULL (Buch #3)

EINE FALLE FÜR NULL (Buch #4)

AKTE NULL (Buch #5)

RÜCKRUF NULL (Buch #6)

ATTENTÄTER NULL (Buch #7)

KÖDER NULL (Buch #8)

EINE AGENT NULL KURZGESCHICHTE

„Und zur Stütze dieser Erklärung verpfänden wir alle untereinander in festem Vertrauen auf den Schutz der Göttlichen Vorsehung unser Leben, unser Gut und unsere heilige Ehre.“

Thomas Jefferson
Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten

KAPITEL EINS

9. Dezember

11:45 Uhr libanesischer Zeit (16:45 Uhr Eastern Standard Time)

Südlibanon

„Gelobt sei Gott“, sagte der junge Mann. „Gelobt sei Er. Gelobt sei Er.“

Seine Hände zitterten, während sie die Zigarette an seinen Mund führten, um einen tiefen Zug zu nehmen. Er hatte seit zwölf Stunden nichts gegessen. Seit den letzten vier Stunden war die Welt um ihn herum pechschwarz. Er war ein gekonnter LKW-Fahrer, der schon die schwierigsten Routen gemeistert hatte. Dieses Mal hatte er die syrische Grenze überquert und war anschließend in der hügeligen libanesischen Landschaft unterwegs, auf engen, sich ständig windenden Straßen, ohne auch nur eine Minute seine Lichter anzuschalten.

Die Fahrt war gefährlich. Der Himmel war voller Drohnen, Hubschrauber, Spionageflugzeuge und Bomber – Russen, Amerikaner und Israelis. Jeder Einzelne von ihnen könnte sich für seinen LKW interessieren. Jeder Einzelne von ihnen könnte sich dazu entscheiden, den LKW zu zerstören. Und keiner von ihnen würde auch nur die geringsten Schwierigkeiten dabei haben. Den ganzen Weg über hatte er damit gerechnet, dass ihn jeden Moment und ohne Vorwarnung eine Rakete abschießen und ihn von einer Sekunde auf die nächste in ein brennendes Skelett, das in einem rauchenden Metallkäfig sitzt, verwandeln würde.

Jetzt hatte er den LKW gerade einen langen, engen Pfad hinaufmanövriert und ihn unter einer riesigen Markise zum Stehen gebracht. Die Markise, die von hölzernen Pfählen gestützt wurde, sah von oben aus wie ein Buschdickicht – in der Tat war das Dach mit einigen echten Büschen bedeckt worden.

Er stellte den Motor aus, der mit Geräuschen antwortete, die nach einem riesigen Ungetüm klangen, das protestierend gleichzeitig rülpste und furzte. Er öffnete die Fahrertür und kletterte hinaus. Noch bevor er einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, tauchten schwer bewaffnete Männer aus den Bäumen auf, die sie umgaben.

„As salaam alaikum“, begrüßte der junge LKW-Fahrer sie, während sie sich näherten.

„Wa alaikum salaam“, antwortete ihr Anführer. Er war groß und kräftig und hatte einen dicken schwarzen Bart und dunkle Augen. Sein Gesicht war verhärtet – Mitgefühl suchte man in ihm vergeblich. Er deutete auf den LKW. „Ist er das?“

Der junge Mann zog erneut an seiner Zigarette. Nein, sagte er fast. Ich habe noch einen anderen LKW mitgebracht. Der hier ist nur zum Spaß dabei.

„Ja“, antwortete er stattdessen.

„Du bist spät dran“, sagte der Anführer.

Der junge Mann zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hättest du lieber selbst fahren sollen.“

Der Anführer begutachtete den LKW. Er sah aus wie eine typische Sattelzugmaschine – etwas, was vielleicht Holz, Möbel oder Nahrung transportierte. Doch das war nur Tarnung. Der Militärtrupp begann sofort mit der Arbeit. Zwei Männer stiegen die Leiter am hinteren Ende hinauf, weitere zwei knieten sich nieder. Jeder von ihnen hatte einen Akkuschrauber in der Hand.

Sie bewegten sich schnell und entfernten die Schrauben, die die Sattelzugmaschine zusammenhielten. Nach nur wenigen Augenblicken zogen sie ein riesiges Stück Aluminiumblech von der Seite des LKW. Einen Moment später folgte ein kleineres Stück von der Hinterseite. Anschließend widmeten sie sich der anderen Seite, wo der Fahrer sie nicht mehr beobachten konnte.

Er drehte sich um und blickte über die nächtliche Hügellandschaft und die Bäume hinweg. Durch die Dunkelheit konnte er die Lichter eines Dorfes sehen, das nur wenige Kilometer entfernt war. Ein wunderschönes Land. Er schätzte sich glücklich, hier zu sein. Seine Arbeit war erledigt. Er war kein Soldat. Er war nur ein LKW-Fahrer. Sie hatten ihn gut dafür bezahlt, über die Grenze zu fahren und dieses Fahrzeug abzuholen.

Er war nicht von hier – seine Heimat war weiter im Norden. Er wusste nicht, was diese Männer für seine Rückkehr arrangiert hatten und ihm war es auch egal. Jetzt, da er diese Todesmaschine endlich los war, würde er sogar zu Fuß nach Hause wandern, wenn er müsste.

Scheinwerfer näherten sich auf dem engen Pfad, eine ganze Reihe von ihnen. Wenige Sekunden später tauchten drei schwarze Mercedes Geländewagen auf. Die Türen öffneten sich nahezu gleichzeitig und bewaffnete Männer strömten nur so aus den Autos. Sie trugen allesamt schwere Gewehre oder Maschinenpistolen. Die Hintertür des mittleren Wagens öffnete sich als letzte.

Ein korpulenter Mann mit graumeliertem Bart und einer Brille stieg heraus. Er hatte einen knorrigen hölzernen Gehstock und humpelte stark – Verletzungen aufgrund eines Autobombenattentats, das ihn vor zwei Jahren hätte töten sollen.

Der junge Fahrer erkannte den Mann sofort – er war ohne Zweifel der berühmteste Mann im gesamten Libanon und darüber hinaus in aller Welt bekannt. Sein Name war Abba Qassem und er war der absolute Führer der Hisbollah. Seine Autorität – egal, ob es um Militäroperationen, soziale Programme, Beziehungen zu ausländischen Regierungen, die Judikative, Leben oder Tod, ging – war unbestritten.

Dass er hier war, machte den Fahrer nervös. Das Gefühl überkam ihn plötzlich, ein Unwohlsein in der Magengegend, wie eine Lebensmittelvergiftung. Einen Prominenten zu treffen war natürlich immer nervenaufreibend. Aber da war noch mehr. Dass Qassem hier war, bedeutete, dass dieser LKW – oder was auch immer er wirklich sein mochte – wichtig war. Viel wichtiger, als er jemals gedacht hatte.

Qassem humpelte zum LKW-Fahrer herüber. Seine Bodyguards umgaben ihn, während er den Mann umarmte.

„Mein Bruder“, sagte er. „Du bist der Fahrer?“

„Ja.“

„Allah wird dich reich belohnen.“

„Danke, Sayyid“, antwortete er und benutzte dabei den Ehrentitel, der suggerierte, dass Qassem ein direkter Nachkomme von Mohammed selbst war. Er war alles andere als ein frommer Muslim, aber Menschen wie Qassem schienen diese Dinge für wichtig zu halten.

Sie drehten sich gemeinsam um. Die Männer hatten inzwischen die Blechabdeckung des LKW komplett entfernt und das echte Fahrzeug war zum Vorschein gekommen. Der Vorderteil sah größtenteils unverändert aus – die Fahrerkabine einer Sattelzugmaschine, tiefgrün lackiert. Die Ladefläche hatte sich jetzt allerdings in eine flache, zweizylindrische Raketenstartrampe verwandelt. In jedem der beiden Startzylinder befand sich eine große, metallisch silberne Rakete.

Die beiden Teile des LKWs waren getrennt voneinander und wurden von einem Hydrauliksystem sowie zwei Stahlketten auf jeder Seite zusammengehalten. Das erklärte, warum das Fahrzeug so schwierig zu lenken gewesen war – der hintere Teil war gar nicht so fest am Vorderteil befestigt, wie dem Fahrer normalerweise lieb gewesen wäre.

 

„Transporter und Raketenplattform in einem“, sagte Qassem und verdeutlichte dem Fahrer, was er ihnen gerade geliefert hatte. „Und nur eine von vielen, die der Allmächtige uns beschert hat.“

„Ach so?“, fragte der Fahrer.

Qassem nickte. „Oh, ja.“

„Und die Raketen?“

Qassem lächelte. Er sah glückselig und besonnen aus, wie ein Heiliger. „Äußerst modern. Langstrecke. So präzise wie die besten Raketen der Welt. Stärker als jede, die wir bisher hatten. So Allah will, werden wir unsere Feinde mit diesen Waffen in die Knie zwingen.“

„Israel?“, fragte der Fahrer. Er erstickte fast an diesem Wort. In diesem Moment überkam ihn das Bedürfnis, jetzt sofort den Weg zurück nach Norden einzuschlagen.

Qassem legte eine Hand auf seine Schulter. „Allah ist groß, mein Bruder. Allah ist groß. Schon bald wird alle Welt wissen, wie groß Er wirklich ist.“

Er ging langsam davon und humpelte zur Raketenstartrampe. Der Fahrer beobachtete ihn. Er nahm einen letzten Zug seiner Zigarette, die inzwischen nicht mehr als ein Stummel war. Jetzt fühlte er sich ein wenig besser, ruhiger. Seine Arbeit war getan. Sollten diese Verrückten doch einen weiteren Krieg anzetteln – mit aller Wahrscheinlichkeit würde ihn das im Norden nicht weiter betreffen.

Qassem drehte sich zu ihm um und sah ihn an. „Bruder“, sagte er.

„Ja?“

„Diese Raketen sind ein Geheimnis. Niemand darf von ihnen erfahren.“

Der Fahrer nickte. „Natürlich.“

„Du hast sicher Freunde, eine Familie?“

Er lächelte. „Ja. Eine Frau und drei Kinder. Sie sind noch jung. Meine Mutter ist noch am Leben. Man kennt mich in meinem Dorf und der Umgebung. Seit ich klein bin spiele ich Geige und ich werde ständig nach Vorführungen gefragt.“

Er hielt kurz inne. „Ich habe ein erfülltes Leben.“

Der Sayyid nickte langsam, als wäre er traurig.

„Allah wird dich belohnen.“

Diese Worte gefielen dem Fahrer gar nicht. Es war bereits das zweite Mal, dass Qassem eine Belohnung erwähnt hatte. „Ja. Vielen Dank.“

Die zwei Männer, die Qassem am nächsten standen, nahmen ihre Gewehre von der Schulter. Nur eine Sekunde später hatten sie sie auf den Fahrer gerichtet.

Er konnte sich kaum bewegen. Das alles erschien ihm falsch. Es geschah so schnell. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Er konnte seine Beine nicht spüren. Oder seine Arme. Selbst seine Lippen waren taub. Er überlegte einen Moment, ob er etwas falsch gemacht hatte. Nichts. Er hatte nichts getan. Alles, was er getan hatte, war diesen LKW hierherzubringen.

Der LKW… war ein Geheimnis.

„Wartet“, sagte er. „Wartet! Ich werde es niemandem sagen.“

Qassem schüttelte seinen Kopf. „Der Allwissende hat deine gute Arbeit gesehen. Er wird dir noch heute Abend die Tore zum Paradies öffnen. Das verspreche ich dir. Ich bete für dich.“

Viel zu spät drehte sich der Fahrer um, um wegzurennen.

Einen Augenblick später hörte er das laute Donnern, als die Gewehre ihr Feuer eröffneten.

Und er erkannte, noch während er zu Boden fiel, dass sein ganzes Leben umsonst gewesen war.

KAPITEL ZWEI

11. Dezember

09:01 Uhr Eastern Standard Time

Das Oval Office

Das Weiße Haus, Washington, D.C.

Susan Hopkins konnte ihren Augen fast nicht trauen.

Sie stand auf dem Teppich im Sitzbereich des Oval Office – die gemütlichen Stühle mit ihren hohen Lehnen waren für die Festlichkeiten heute Morgen entfernt worden. Dreißig Menschen befanden sich mit ihr im Raum. Kurt Kimball und Kat Lopez waren neben ihr, zusammen mit Haley Lawrence, ihrem Verteidigungsminister.

Die gesamte Belegschaft der Residenz des Weißen Hauses war ebenfalls anwesend. Sie hatte darauf bestanden, dass der Koch, seine Küchenhilfen, sowie das Hauspersonal sich unter die anderen eingeladenen Gäste mischen konnten – die Direktoren der National Science Foundation, der NASA und des National Park Service, um nur einige aufzuzählen. Eine Handvoll Nachrichtensprecher waren ebenfalls hier, zusammen mit zwei oder drei ausgewählten Kameraleuten. Außerdem gab es zahlreiche Secret Service Agenten, die die Wände säumten und in der Menge verteilt waren.

Auf einem großen Fernsehbildschirm, der an einer der Wände angebracht war, legte Stephen Lief, ein Mann, den Susan nie persönlich sehen würde, bis ihre Amtszeit vorbei war, gerade den Amtseid als Vizepräsident ab. Stephen war mittleren Alters, hatte eine runde Brille, die ihm ein eulenhaftes Aussehen verlieh und graue, dünne Haare, die bereits vor langer Zeit damit begonnen hatten, sich von seinem Gesicht zurückzuziehen. Sein Körper sah fast aus wie eine Birne, doch der Dreitausend-Dollar-Anzug von Armani mit blauen Nadelstreifen versteckte diese Tatsache ziemlich gut.

Susan kannte Stephen schon seit Langem. Im letzten Wahlkampf wäre er ihr Konkurrent gewesen, wenn Jeff Monroe nicht dazwischengekommen wäre. Früher, als sie noch im Senat tätig war, war er ihr Gegenstück der anderen Partei gewesen. Er war moderat konservativ, größtenteils unauffällig – stur, aber nicht verrückt. Und er war ein echter Gentleman.

Aber er gehörte auch der falschen Partei an und sie hatte harte Kritik aus der liberalen Ecke dafür einstecken müssen. Er stammte aus einer alten, fast schon aristokratischen Familie – seine Vorfahren waren mit der Mayflower nach Amerika gekommen und damit war er nahezu ein Adliger. Früher hatte es geschienen, als hätte er es als sein Geburtsrecht angenommen, Präsident zu werden. Nicht gerade Susans Typ – hochnäsige Aristokraten neigten dazu, den Zugang zum Volk zu verlieren, dem man eigentlich dienen sollte.

Luke Stone war ihr scheinbar ganz schön unter die Haut gegangen, dass sie Stephen Lief überhaupt in Betracht gezogen hatte. Er war Stones Idee gewesen. Zuerst hatte er ihn fast im Scherz vorgeschlagen, während sie in ihrem großen Präsidentenbett gelegen hatten. Sie hatte laut überlegt, wen sie als Vizepräsident auswählen sollte, als er gesagt hatte:

„Warum nicht Stephen Lief?“

Sie hatte fast laut aufgelacht. „Stone! Stephen Lief? Komm schon.“

„Nein, ich meine es ernst“, hatte er gesagt.

Er lag auf der Seite. Sein nackter Körper war dünn, aber steinhart, wie gemeißelt und übersäht mit Narben. Ein dicker Verband hatte seine noch frische Schusswunde bedeckt. Aber seine zahlreichen Wunden störten sie nicht – im Gegenteil. Sie machten ihn nur begehrenswerter, gefährlicher. Seine dunkelblauen Augen beobachteten sie und ein spitzbübisches Lächeln umspielte seine Lippen. Nicht zum ersten Mal dachte sie bei seinem Anblick an den Marlboro-Mann.

„Du bist wunderschön, Stone. Wie eine antike griechische Statue, die, äh, einen Verband trägt. Aber vielleicht überlässt du das Denken lieber mir. Du kannst dich einfach zurücklehnen, dich weiter räkeln und hübsch dabei aussehen.“

„Ich habe mit ihm gesprochen, als ich auf seiner Farm in Florida war“, hatte Stone geantwortet. „Ich habe ihn gefragt, was er von Jefferson Monroe und dem Wahlbetrug wusste. Er ist ziemlich schnell mit der Sprache rausgerückt. Und er kann gut mit Pferden umgehen. Sanfter Typ. Das muss man ihm doch zugutehalten.“

„Ich werde dran denken“, hatte Susan gesagt, „wenn ich das nächste Mal einen Stallburschen brauche.“

Stone hatte seinen Kopf geschüttelt, ohne sein Lächeln zu verlieren. „Das Land ist gespalten, Susan. Was in letzter Zeit hier passiert ist, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Dir geht es vielleicht noch gut, aber der Kongress hat die schlechtesten Umfragewerte der amerikanischen Geschichte. Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, sind die Werte für unsere Politiker, die Taliban und die Church of Satan nahezu gleich. Selbst Anwälte, die Steuerbehörde und die italienische Mafia sind beliebter.“

„Und das erzählst du mir, weil …“

„Weil das amerikanische Volk im Moment möchte, dass rechts und links, Liberale und Konservative, sich ein wenig annähern und Dinge erledigen, die dem Land helfen. Straßen und Brücken müssen repariert werden, unser Bahnsystem gehört schon längst in ein Museum, öffentliche Schulen fallen quasi auseinander und wir haben seit fast dreißig Jahren keinen größeren Flughafen mehr gebaut. Unser Gesundheitssystem ist weltweit auf Platz Zweiunddreißig, Susan. Das ist verdammt niedrig. Kannst du einunddreißig Industrienationen aufzählen, die uns voraus sind? Denn ich kann dir eins sagen, ich bin in schon überall auf der Welt unterwegs gewesen, und ich könnte höchstens einundzwanzig oder zweiundzwanzig zusammenbekommen. Der Rest sind alles Entwicklungsländer und selbst die sind in der Hinsicht besser dran als wir.“

Sie hatte geseufzt. „Wenn uns nur ein paar Konservative zustimmen würden, würde ich vielleicht mein Infrastrukturpaket durchbekommen …“

Er hatte ihr auf die Stirn geklopft. „Jetzt benutzt du langsam dein Köpfchen. Lief war achtzehn Jahre lang im Senat. Er weiß, wie man diese Spielchen spielt.“

„Ich dachte, du interessierst dich nicht für Politik“, hatte sie sich gewundert.

„Tue ich auch nicht.“

Sie hatte ihren Kopf geschüttelt. „Das macht mir ja so Sorgen.“

Er war näher an sie herangerückt. „Keine Angst. Ich zeige dir, was mich eher interessiert.“

„Ach ja?“

„Ein wenig Sport zum Beispiel“, hatte er gesagt. „Mit jemandem wie dir.“

Zurück im Hier und Jetzt schüttelte sie die Erinnerungen ab. Sie lächelte immer noch. Auf dem Fernsehbildschirm sprach Stephen Lief inzwischen die Worte seines Amtseids. Er stand in ihrem alten Arbeitszimmer im Marineobservatorium. Sie erinnerte sich gut an das Haus und dieses Zimmer. Das wunderschöne Gebäude aus den 1850ern mit seinen Türmchen und Giebeln stand auf dem Gelände des Marineobservatoriums in Washington, D.C. Seit Jahrzehnten war es die offizielle Residenz des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten.

Sie hatte den Ausblick aus dem großen Fenster früher ausgiebig genossen, das jetzt auf dem Bildschirm zu sehen war. Aus ihm hatte man eine perfekte Aussicht über die wunderschönen grünen Hügel des Campus des Marineobservatoriums. Nachmittags fiel die Sonne durch das Fenster und sorgte für ein farbenfrohes Spiel aus Licht und Schatten. Fünf Jahre lang hatte sie als Vizepräsidentin in diesem Haus verbracht. Sie hatte es dort geliebt und würde sofort dahin zurückziehen, wenn man es ihr anbieten würde.

Damals war sie nachmittags und abends oft auf dem Gelände des Observatoriums zusammen mit ihren Geheimdienstagenten joggen gegangen. Diese Zeit war voller Optimismus, mitreißender Reden und Treffen mit tausenden von hoffnungsvollen Bürgern gewesen. Heute schienen ihr diese Jahre wie eine Ewigkeit entfernt.

Susan seufzte. Ihre Gedanken wanderten ziellos umher. Sie erinnerte sich an das Attentat am Mount Weather, diese Gräueltat, die sie aus ihrem glücklichen Leben als Vizepräsidentin gerissen und sie in das Chaos der letzten Jahre gestürzt hatte.

Sie schüttelte ihren Kopf. Nein, danke. Sie wollte jetzt nicht an diesen Tag denken.

Auf dem Fernsehbildschirm waren inzwischen zwei Männer und eine Frau zu sehen, die auf einer erhöhten Plattform standen. Fotografen schwirrten um sie herum wie Stechmücken und machten ein Foto nach dem anderen.

Einer der Männer auf der Plattform war klein und glatzköpfig. Er trug eine lange Robe. Das war Clarence Warren, Oberster Richter der Vereinigten Staaten. Die Frau war Judy Lief. Sie trug einen hellblauen Anzug. Sie grinste über beide Ohren und hielt eine offene Bibel in der Hand. Ihr Ehemann, Stephen, legte seine linke Hand auf die Bibel. Seine rechte Hand war hoch erhoben. Lief wirkte oft mürrisch, aber selbst er lächelte jetzt ein wenig.

„Ich, Stephen Douglas Lief“, sagte er, „schwöre feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften gegen sämtliche Feinde, ob im In- oder Ausland, schützen und verteidigen werde.“

„Ich schwöre ihr ewige Treue …“, sprach Richter Warren vor.

„Ich schwöre ihr ewige Treue und Gehorsam“, sagte Lief, „und schwöre, dass ich diese Verpflichtung aus freien Stücken annehme und dass ich die Pflichten des Amtes, in das ich hiermit eintrete, nach bestem Gewissen und Glauben ausüben werde.“

„So wahr mir Gott helfe“, sagte Richter Warren.

„So wahr mir Gott helfe“, wiederholte Lief.

Ein Bild tauchte vor Susans innerem Auge auf – ein Geist der noch allzu nahen Vergangenheit. Marybeth Horning, die Person, die als letzte diesen Eid abgelegt hatte. Im Senat war sie Susans Mentorin gewesen, und selbst danach als Vizepräsidentin hatte sie zu ihr aufgesehen. Klein, dünn und mit ihrer großen Brille hatte sie gewirkt wie eine Kirchenmaus, doch sie hatte brüllen können wie eine Löwin.

 

Und dann war sie erschossen worden, umgebracht wegen … was? Wegen ihrer liberalen Einstellung, könnte man sagen, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Die Menschen, die sie hatten umbringen lassen, hatten sich nicht für politische Differenzen interessiert – alles, um das sie sich geschert hatten, war Macht.

Susan hoffte, dass das Land diese schreckliche Zeit jetzt hinter sich gelassen hatte. Sie sah Stephen auf dem Fernsehbildschirm dabei zu, wie er seine Familie und andere Gratulanten in die Arme schloss.

Vertraute sie diesem Mann? Sie wusste es nicht.

Würde er versuchen, sie umbringen zu lassen?

Nein. Vermutete sie. Er war zu rechtschaffen für so etwas. Während ihrer Zeit im Senat hatte sie nie gedacht, dass er versteckte Spielchen spielte. Das war zumindest etwas, dachte sie – einen Vizepräsidenten an ihrer Seite zu haben, der sie nicht umbringen wollte.

Sie stellte sich vor, wie sie von Reportern der New York Times oder der Washington Post interviewt wurde: „Was schätzen Sie besonders an Stephen Lief als Ihren neuen Vizepräsidenten?“

„Nun ja, er wird mich nicht umbringen. Ich schätze, das ist ein ziemlich guter Anfang.“

Kat Lopez war auf einmal neben ihr.

„Ähm, Susan? Sie sollten vermutlich das Wort ergreifen und Vizepräsident Lief gratulieren.“

Susan wachte aus ihren Tagträumereien auf. „Natürlich. Gute Idee. Er kann den Zuspruch wahrscheinlich gebrauchen.“