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Über dieses Buch

Giacometti? Das ist doch der mit den baumlangen Elendsgestalten, dem die Kunstwelt weltweit zu Füssen liegt? Bloss nicht der Student Luis K., der seine liebe Mühe damit hat. Der Sohn einer alleinstehenden Mutter, die diesen Alberto G. anhimmelt, macht sich seinen eigenen Reim auf dieses Werk und seine ungezählten Publikationen. Er gerät dabei auf eine abenteuerliche Fährte, die ihn bis nach Paris lotst; schliesslich mischt er mit einer kühnen These über G. die einheimische Kunstwelt gehörig auf.

Auch die andern Heldinnen dieses Buches sind mit einem unkonventionellen Lebensentwurf zugange, für den sie kein soziales Wagnis scheuen. Helen G., Nationalrätin der Grünen, durchmisst die halbe Stadt, um die verhassten Militärschuhe ihres Mannes loszuwerden. Laura M., die gewitzte Anwältin, die nach einer gescheiterten Passion den Rollator zum Lebenspartner ernennt, macht mit einer Entführung aus einem Alters und Pflegeheim Furore. Und der plötzliche Abgang der beliebten Dozentin Claire H. setzt eine Hausgemeinschaft in Aufruhr.

Rasant und packend erzählt Isolde Schaad von den modernen Gangarten in der grossen Kleinstadt und würzt sie mit Betrachtungen aus der Fussgängerpassage.


Foto Ayşe Yavaş

Isolde Schaad, geboren 1944 in Schaffhausen, lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Zürich. Zahlreiche Studien­aufenthalte in Ostafrika, ­Nahost, Indien. Gastautorin einer amerikanischen Uni­ver­sität. Ihr Werk wurde mehrfach ausge­zeichnet. Im Limmat Verlag sind neun Bücher von ihr erschienen, zuletzt die Romane «Keiner wars» und «Robinson und Julia», der Essayband «Vom Einen. Literatur und Geschlecht. Elf Porträts aus der Gefahrenzone» sowie der Erzählband «Am Äquator. Die Ausweitung der Gürtel­linie in unerforschte Gebiete».

Isolde Schaad

Giacometti hinkt

Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte

Erzählungen

Limmat Verlag

Zürich

Wohin gehen wir?

Nicht immer nach Hause.

Frei nach Novalis

Losgeworden. Los geworden

Da stehen sie, Wiedergänger eines Jahrhunderts, dessen Hauptwort Vernichtung war. Was tun sie hier? Militärschuhe vor dem Küchenblock aus Chromstahl, auf Jadeschiefer, dem coolen Bodenbelag in der neulich erwor­benen Eigentumswohnung, die sie mit Uwe teilt, eine Faust aufs Auge ist das. Der Aktivdienst, aus dem solche Schuhe stammen, hat auf Jadeschiefer nichts zu suchen, nobler Schiefer verträgt keinen Schandfleck. Sie hat Uwe den heiklen Bodenbelag abringen müssen, das ist harte Arbeit gewesen.

Der blosse Anblick kommt im Befehlston daher. Sie hört den Tritt mit. Immerhin keine Springerstiefel, das nicht. Helen nimmt einen der zwei hartgegerbten Klumpen in die Hand, spuckt darauf, bevor sie den Lappen ergreift und leicht reibt, dann lässt sie den Fremdkörper wieder sinken. Schuhe wie Bollwerke, Angriff und Verteidigung. Schuhe, die in den Krieg aufbrechen, wollen keine Pflege, sie haben anderes vor, und deshalb muss man sie so rasch als möglich entsorgen.

Dass der Aktivdienst, diese Stammtischfloskel selbstgerechter alter Männer, endgültig vergangen sei – Helen legt den Kopf in Schräglage –, leider ist das eine Wunschvorstellung einer künftigen IKRK-Delegierten, von der Uwe noch nichts weiss.

Wenn sie Anatomie büffelt, deren Grundbegriffe für das Aufnahmeverfahren notwendig sind, schliesst sie die Tür zu ihrem Zimmer.

Aber die alten Männer, die damals junge Männer waren, konnten doch nichts dafür, dass sie einrücken mussten, raunt das Alter Ego, doch Helen wischt den Störenfried mit einer Handbewegung fort. Die Generation der Vor­vorväter hat diese Schuhe an die Füsse ihrer Armeen diktiert, und die Väter mussten sie dann auf die Zielgerade setzen, eine Strategie als Vermächtnis des konventionellen Krieges nach Clausewitz. Davon will doch heute niemand mehr etwas wissen, nicht mal der bauernschlaue oberste Soldat im Bundesrat.

Mach dir nichts vor, Helen, raunt das Alter Ego. Wer re­­gelmässig die «Tagesschau» konsultiert, weiss, dass dieser Krieg bloss verlagert wurde. Auf den Trikont. Dorthin, wo die Söhne der ehemaligen Untertanen der Kolonialmächte diese wüste Epoche Europas an den Füssen mitschleppen. Alle paar Jahre treten sie erneut in Aktion, etwa auf einer Hochebene Afghanistans, in einer Steppe des Iraks und jetzt in Aleppo, Homs und Mossul und weiteren Brandherden des Nahen Ostens.

Was fand Uwe bloss an diesen Schuhen. Man konnte mit ihnen lediglich marschieren, nichts anderes als marschieren, weder bummeln noch flanieren, schon gar nicht spazieren. Im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts war dieses kriegerische Relikt nach Europa zurückgekehrt, in den Balkankrieg. Es war ein Schock gewesen, als der grüne Joschka, ausgerechnet der ehemalige Friedensaktivist, als deutscher Aussenminister mit den Wölfen heulte, die zum Bombardement bliesen. Mit den Franzosen, den Engländern und den Amerikanern. Mit flotten Grüssen aus Sarajewo.

Mit dem Krieg spielt man nicht, hatte Mutter gesagt, als die Zinnsoldaten aus der Kaserne stolzierten, das Lieblingsspiel ihres kleinen Bruders, wenn er bei den Grosseltern zu Besuch war, zu Hause war das verpönt. Mutter war eine Reformpädagogin, daher gab’s daheim ausschliesslich reformpädagogisch korrektes Spielzeug, Baukasten, Puzzles, Memory und Kügelibahn aus Holz. Als sei Holz das Gute an sich.

Feige, du bist feige, wenn du nicht fragst, wo warst du, Adam. In etwa so hatte sie Heinrich Böll als Teenager gelesen; freilich war Uwe noch lange nicht geboren, als sein Vater einrücken musste. In die Wehrmacht? Oder war’s gar die berüchtigte Waffen-SS?

Helen schreckt aus einem düsteren Tagtraum. Bloss weil Uwe, ihr Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist, Militärschuhe vom Estrich geholt hat? Er wollte in ihnen nämlich die Greina überqueren. Die Wanderung war für den kommenden Sonntag vorgesehen. Sie hat ihn nie nach der Herkunft dieser Schuhe gefragt, und jetzt fiel ihr wie Patronen von den Augen, dass sie nichts von Uwes Vorgeschichte wusste, gar nichts.

Noch immer starrt Helen auf dieses Stück Wehrhaftigkeit, mit der sie auf keinen Fall unterwegs sein will. Sie packt die Schuhe, öffnet eine Türe und schleudert die im Grunde redliche Hässlichkeit in den Stauraum, ein be­freiender Akt.

Helen dann im Wohnraum am langen Glastisch, barfuss auf Jadeschiefer, das tut gut, wenn man ratlos ist. Mit den Fusssohlen die Unruhe wegscheuern, das hilft. Sie stützt die Ellbogen auf und verschränkt die Hände über der Stirn. Bisher war das kein Thema gewesen, nicht der geringste Konfliktstoff zwischen ihnen. Dass Uwe Deutscher war.

Er würde sie auslachen, du ins IKRK? Dafür bist du doch viel zu alt, mein Schatz. Und sie würde trotzig erwidern, dann wird sich zeigen, ob diese vielgepriesene Jugendlichkeit, die mir dauernd attestiert wird, etwas taugt. Sie ging in ihr Zimmer, nahm das Fotoalbum aus dem Regal. War wieder das kleine Mädchen, das diese Schuhe im Korridor des Elternhauses stehen sah und entsetzt rief: Paps, musst du in den Krieg? Uwes Schuhe sahen ge­nau so aus wie jenes Paar, das die Mutter am Vortag einfettete, wenn der Vater einrücken musste. Nein nein, Paps muss bloss zur Inspektion. Beschwichtigte sie, um das Kind zu beruhigen, das nachts aus dem Schlaf aufschreckte und schrie, weil es die Kriegsbilder aus dem Nachbarland hatte sehen wollen. In einer Mappe, die ein ausländischer Besuch hinterlassen hatte, es waren scharf konturierte Schwarz-Weiss-Fotos. Während die Siebenjährige die deutsche Katastrophe betrachtete, lief im Radio Ravels «Bolero». Seither konnte Helen diese Musik nicht mehr hören, ohne dass Ruinenstädte auftauchten, finstere Bauten hinter Stacheldraht, Wachtürme und stehende Waggons, vor welchen Häftlinge herumfuhrwerkten, wozu, war ihr schleierhaft. Im Nachhinein staunte sie über ihre Mutter, die Reformpädagogin, die keine Zinnsoldaten als Spielzeug duldete, wohl aber den An­blick dessen, was man kleinlaut als Zivilisationsbruch bezeichnet hat: die Vernichtungsmaschinerie des Naziregimes. Helen dachte mit Wärme an sie, die seit langem tot war. Sie war eine mu­tige Frau gewesen, vollkommen unsentimental in der Er­ziehung, hatte ihre Kinder früh konfrontiert mit den Greueltaten, zu welchen Menschen fähig sind. Du kannst mich immer fragen, wenn du et­was auf dem Herzen hast, Helen hat diesen Satz noch im Ohr. Aber die Erstklässlerin fragte nicht. Es gab zu diesen Bildern, hinter welchem sie das Schlimmste witterte, keine Fragen, ausgenommen die eine, unbeantwortbare: Warum?

Der Krieg hat ein Medusenhaupt, und jedem angeblichen Friedensvertrag wachsen ein paar neue Kriege aus dem abgehauenen Stumpf. In Den Haag, am Internationalen Strafgerichtshof, behaupteten die Kriegsverbrecher vom Balkan, jene wenigen, die man endlich hatte fassen und zur Verantwortung ziehen können, sie wüssten von nichts, das seien Hirngespinste des ehemaligen Feindes, ausserdem hätte man sich doch längst versöhnt.

Die Wahrheit stirbt zuerst, eine Binsenweisheit im Krieg oder in der Politik, seiner Vorläuferin. Das weiss sie jetzt bis ins Knochenmark, wenn sie in der Session sitzt, vor sich das heroische, dabei grandios unschuldige Pano­rama, genannt die Wiege der Eidgenossenschaft. Es ist ein harmloses Landschaftsgemälde vom Urnersee, das von einem Maler namens Charles Giron stammt. Eingelassen in eine heimelige Täfelung aus Holz, und Holz das Gute an sich.

Seit bald einem Jahr ist sie Nationalrätin, eigentlich aus Versehen, sie fühlte sich zur Annahme des Mandates gedrängt. Politik war schmerzhafter, als sie geahnt hatte. Das Haupthandwerk der Parteien bestand im Uminterpretieren einer Tatsache in ihr Gegenteil, das war die übliche Methode, wenn die Sachgeschäfte aufs Tapet kamen, die vorher theoretisch untermauert worden waren. Sachzwang war auch so ein Wischiwaschiwort, das jede Lüge rechtfertigen musste unter der Himmelskuppel der vereinigten Nationalversammlung. Was man unter sich ab­gesprochen hatte, vorher, in den unzähligen Kommissions­sitzungen, war im Sessionssaal auf einmal nichts mehr wert. Wurde nicht verfochten, ja, es war, als hätte man gar nie davon gesprochen. Sie war empört, damit hatte sie dann doch nicht gerechnet, und nach vier Jahren würde sie genug gehabt haben von diesen Füllhörnern der Heuchelei. So reifte der Entschluss, mit eigenen Augen zu sehen, was vor Ort ablief.

 

Als Uwe nach Hause kam, war die erste Frage, Helen, wo sind meine Bergschuhe?

Sie liess sich Zeit für die Antwort, sie sollte kein Stimmungskiller sein. Aber die Ungeduld in ihr preschte vor.

Uwe, sie sind scheusslich! Ich kaufe dir bequeme Wanderschuhe, die etwas taugen. Dafür nehme ich mir einen freien Tag.

Ach woher, diese Schuhe sind praktisch und solide, sozusagen untilgbar.

Eben, das ist es ja.

Er schüttelte den Kopf, er war irritiert.

Du sprichst in Rätseln.

Weisst du, sagte sie hastig, der Krieg, sie erinnern mich an den Krieg.

Ach du liebes bisschen, rief Uwe erleichtert, ihr Schweizer wisst doch gar nicht, was Krieg ist. Und auch ich kann nicht behaupten, es zu wissen, dafür bin ich nicht alt genug.

Das war vor einem Monat gewesen, Ende August. Uwe hatte sich nicht umstimmen lassen und war in seinen Militärschuhen über die Greina geprescht. Lass mich vorangehen, so verschonst du mich wenigstens vom Anblick deines Militärlooks. Ach Helen, er schüttelte erneut den Kopf, ihre Umstandskrämerei mit seinen Schuhen versteht er nicht. Die Wanderung war fast wortlos verlaufen: Wenn man die Greina in zwei Tagen bewältigen will, ist sie zu anstrengend für einen Disput. In der berühmten Bergeinöde walten die Kräfte der Natur; sie sind vordergründig, und man muss sich konzentrieren, wenn man nicht stolpern will oder sich das Knie verrenken. Sie hatten ihre besten Jahre hinter sich.

Der Zweite Weltkrieg ist niemals zu Ende, sagte sie jetzt und rührte gedankenverloren in ihrer leeren Kaffeetasse. Der Mann blickte sie prüfend an, so, als müsste er ihr Ge­sicht skizzieren.

Der Zweite Weltkrieg macht Station auf der ganzen Welt.

Wie meinst du das?

Sagen wir mal so: Die Ukrainer wollen ihre Rechte, die Tschetschenen desgleichen, die Armenier und die Kurden sowieso. Überall müssen die Kleinen sich die Hände schmutzig machen und einen Hinterhofkrieg gegen eine Grossmacht führen. Und das sind nur die alten Fehden auf unserm ausgebufften Kontinent, von den akuten Brandherden im Nahen Osten und Übersee nicht zu re­den.

Das sind doch alles Interessenskonflikte aufgrund der ungleichen Ressourcen, das kann man doch nicht mit dem Zweiten Weltkrieg kurzschliessen.

Doch, doch, kann man. Es sind nämlich immer die glei­chen Schuhe, die ausrücken, um die blühenden Zivili­sationen in Sumpf und Schutt zu stampfen. Wenn diese Schuhe nicht wären, könnte es besser bestellt sein auf dieser Welt.

Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her.

Wenn die Krieger von heute Sandalen trügen wie damals in der Antike, in Antiochia oder auf den Feldzügen des Perseus, dann wäre mir wohler. In Sandalen wäre der Krieg vermutlich menschlicher.

Du phantasierst, sagte der Mann hinter der Zeitung, der moderne Krieg hat andere Methoden, er geht nicht mehr zu Fuss.

Oh doch, das ist ja das Monströse, er geht in denselben Schuhen, wenn er Minderheiten bekämpfen und um ihr Recht und ihr Land bringen will. In Tat und Wahrheit will er sie beseitigen, krass gesagt ausrotten, das ist das grosse Tabu im Parlament. Das wird spürbar, wenn’s wieder mal um die Waffenausfuhr geht. Die Minderheiten sind leider oft die Initialzündung, wenn ein Weltkrieg beginnt. Das heisst, wenn er in einer anderen Weltgegend aufflammt, denn er hat ja gar nie aufgehört. Palästina brauch ich wohl nicht speziell zu erwähnen.

Helen, willst du wirklich darüber reden, jetzt?

Sie seufzte und schwieg.

Komm schon, du vergisst den Arabischen Frühling, es gab, trotz aller Rückschläge, Fortschritte vor Ort.

Der Arabische Frühling war eine Revolte und kein Krieg.

Uwe näselte und erhob sich. Frau Professor, soll ich uns noch einen Kaffee machen, ist dir das recht?

Sie nickte. Und versank in Gedanken. Einst waren wir glühende Israelfans und dachten, so ein Kibbuz sei das bes­sere Pfadfinderlager. Das sagte sie laut, und er lachte, das wollte ich auch. Die gesamte Nachkriegsgeneration wollte nach Israel, um sich gross und gut zu fühlen. Uwe setzte sich, stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und schaute ihr geradewegs in die Augen.

Ist was los?

Sie schüttelte den Kopf. Sie hat verdrängt, dass Uwe vier Jahre jünger ist als sie, also vier Jahre unbeschwerter von einer sagenhaften Kindheit. Uwe war gut drauf, wie die Heutigen sagen. Uns Studenten machte die Haganah, eine der beiden zionistischen Untergrundorganisationen, grossen Eindruck. Es ist, als sei das Heldentum dort drüben wiederauferstanden, wenn du dir die Siedler in den besetzten Gebieten anhörst.

Sie nahm einen tiefen Schnauf. Yes dear, die Nationalkonservativen sind gross in Fahrt. Sie benehmen sich wie die von der Weltregierung gesandten Vollstrecker des Bibelworts. Wie jener Ari Ben Kanaan aus dem Schmöker «Exodus». Ein Rassist, dieser Leon Uris, vor allem in seinen Afrikabüchern, bloss haben wir das damals nicht gemerkt.

Nun kam das Thema also auf den Tisch, in einem schändlich lockeren Ton, der sie verdross, immerhin würde sie so Mumm bekommen, das heisse Eisen zu packen. Sie nach Syrien, das würde etwas absetzen, obschon ihr Ge­fährte ein friedlicher Mensch war.

Uwe war guter Dinge, weil seinem Gesuch stattgegeben worden und die Beiträge für sein Forschungsprojekt an der ETH erhöht würden. Geht klar, hatte er ges­tern lakonisch gesagt, als sie sich danach erkundigte. Er pfiff einen Song aus den Anfängen ihrer Geschichte, nahm sie in die Arme und setzte zum Tanz an. So etwas war lange nicht mehr vorgefallen, schon gar nicht im dürren Alltag der ehemaligen Mietwohnung. Offenbar fühlte sich Uwe freier in Beton und Glas mit fashionabler Aussicht. Die fürstlich bemessene Terrasse hatten sie allerdings noch nicht eingeweiht.

Später goss sie sich statt Kaffee ein Glas Orangensaft ein, Vitaminspender, um den Disput zu eröffnen, der eintreten würde, wenn sie losplatzte: Uwe, ich werde nach Syrien gehen. Aber dann schwieg sie doch: erst denken, dann sprechen. Vorher musste sie den Argumentationskatalog bereithalten, ihn repetieren. Sie wolle etwas mitbekommen, wissen, was hinter den Mauern der offiziellen Verlautbarung abgehe. Selber sehen, was an Assads un­glaublichem Zermürbungsterror dran sei, von dem man ausschliesslich Bilder des Grauens aufgetischt bekomme. Sie halte es für ihre Pflicht als Politikerin, die Orte des Schreckens zu besichtigen.

Und dann würde sie im Rat ein Projekt zum Wiederaufbau von Palmyra starten. Ihr Palmyra in Scherben, der alte Reisetraum verpufft.

Uwe raschelte mit der Zeitung, dieses Rascheln war heilig am Samstagmorgen. Es ging weniger um den Inhalt der Lektüre als um das Ritual. Und sie? Nervös klopfte sie mit dem Löffel an das Wasserglas.

Jetzt muss es raus.

Dieses Kriegen hört nie auf, solange es mit diesen entsetzlichen Schuhen einrückt. Sie räusperte sich, dann wis­perte sie. Uwe machte keine Miene, von der Zeitung aufzu­blicken.

Wo doch die Deutschen, ausgerechnet die Deutschen, ihre Stimme erstarb. Nun sandte der Mann gegenüber einen erbarmungslosen Blick über den Blattrand.

Die Deutschen sind vorbildlich in Sachen Vergangenheitsbewältigung, wenn ich mir so eine gewagte These er­lauben darf, meinte er freundlich und liess die Zeitung sinken.

Ja, dachte sie. Das stimmt. Weil die sieben Gerechten, die überall auftauchen, wo es etwas aufzuarbeiten gibt, dafür sorgen, dass keine Schandtat der Vergangenheit unangeprangert bleibt, während die Verbrechen der Ge­genwart kein Thema für sie sind.

Sie hütete sich, den Satz, der ihr auf den Lippen lag, auszusprechen.

Das mag sein, sagte sie matt, doch die Gegenwartsbewältigung ist wohl ein anderes Kapitel.

Eine Schweizerin sollte den Mund nicht zu voll nehmen, was den Zweiten Weltkrieg angeht.

Die Feststellung kam ohne Aggression über den Frühstückstisch. Uwe war ein aufmerksamer, ein wohlwollender Partner, obschon er den vollen Müllsack auf dem Treppenabsatz meistens vergass. Doch nun empfand sie eine nie gekannte Entfremdung zwischen ihnen.

Ihr seid doch die Profiteure der Nazis gewesen.

Klar, sagte sie und schwieg.

Sie sah vor sich die lederne Sturheit an den Füssen blutjunger Grenadiere oder Infanteristen oder wie sagt man, dieser deutsche Militäreinsatz in Afghanistan hatte noch Flaum ums Kinn und muss doch das Erbe der Väter ausfechten. Mit dieser zähen deutschen Waffentreue an den Füssen durch Sümpfe waten, endlose Steppen durchmessen, in der Steinwüste marschieren, und hinter jedem Stein ein schiessender Taliban.

Dabei trug der Feind dieselbe Monstrosität von Schuhen, lag vielleicht darin das Problem?

Sie sollen verschwinden. Ich will sie nie mehr sehen. Das murmelte sie deutlich vor sich hin, und nun lächelte das Gegenüber: Du hast vergessen, dass die Alternativler und die Punks doch gerade solche Schuhe mögen. Auch die Dienstverweigerer tragen sie. Unzerstörbares Handwerk, Militärschuhe sind für die Ewigkeit gemacht.

Eben, das ist der Punkt. Deswegen hört das Töten nicht auf.

Gutes Kind, du bist naiv.

Meinetwegen.

Sie würde Uwes Militärschuhe ins Brockenhaus bringen. Ungefragt. Vor der nächsten Wanderung wird sie ihm samtene Waldläufer präsentieren. Die sind zwar weniger robust, aber ansehnlicher als sogenannte Qualitätswanderschuhe mit ihrem Anspruch auf Leistung. Qualitätswanderschuhe sehen nach Müssen aus, nach dem ewigen Muss zur Ertüchtigung. Gab es denn keine stilbewussten Schuhmacher oder wenigstens Pazifisten unter den Sportschuh-Designern?

Die Athletisierung der Füsse schreitet voran, trau, schau, wem. Helen hält sie für eine getarnte Militari­sierung, die überall eindringt, in die Schulen, die Galerien, die Chefetagen, die Verwaltungen. Obenrum erscheint eine klassische Kostümschönheit und unten dann dieses mit buntem Patchwork aufgehübschte Vorwärts, Marsch, als sei man überall auf der Startbahn zur Direttissima.

Was das Mädchen Helen spürte, aber nicht hätte ­be­nennen können: Diese Schuhe waren Symbole einer ins Dunkel murmelnden Vergangenheit, da das Thema ­Naziherrschaft und Judenvernichtung an der deutschen ­Grenze zu Schaffhausen bis Anfang der Sechzigerjahre ein Raunen blieb. Es kam lediglich als Pro- oder Anti-Hitler­tum zur Sprache, und das Bekenntnis dafür oder dagegen mündete in einen politischen Abnützungskampf zwischen den sogenannten Roten, angeführt von Nationalrat Walter Bringolf, und den braunen Fröntlern. Wohl verschwand da und dort ein Lehrbeauftragter, ein Professor von der Bildfläche, auch ein bekannter Theatermann wurde von der Bühne entfernt, doch die Gründe kannte niemand, der nicht in den entscheidenden Gremien sass, sodass der eigentliche Skandal nach dem 8. Mai 1945 ein von hoher Warte abgekartetes Stillhalteabkommen in Presse und Öffentlichkeit war. Auch an privaten Einladungen wurden bloss dumpfe Andeutungen gemacht. Wenn der Studienfreund von Helens Vater aus Düsseldorf zu Besuch kam, beteuerten die Eltern den Nachbarn und Bekannten gegenüber, dass dieser Deutsche ein guter Deutscher sei.

Die Antwort auf das Warum hat sie bis dato nicht erhalten, diese Helen Grossniklaus, Nationalrätin der Grünen, und die Schuhe motten im Schuhgestell vor sich hin. Dann hat sie die plötzliche Eingebung, die Schuhe würden auf dem Flohmarkt in die Allgemeinheit eingehen. Also trägt sie ihre Bürde in einer Fair-Trade-Tasche auf den Max-Frisch-Platz hinter dem Bahnhof Oerlikon, wo einmal im Monat alles zu haben ist, niemand mehr haben will. Sie stellt die Schuhe diskret auf einen Gartentisch, der offenbar Hinz und Kunz zu Gebote steht. Allerlei Ge­rümpel, Blumenvasen, Nippes und Stofftiere haben darauf Platz gefunden. Keine Verkaufsperson ist in Sicht, und so pirscht Helen durch medias res und stellt dabei fest, dass sie mit ihrer Definition des Flohmarkts falschliegt. Ein Flohmarkt ist vielmehr ein Sammelsurium von Vergeblichkeit, die für nützlich gehalten wird. Sie fühlt sich wie eine Strauchdiebin, als sie den Rundgang durch die Hügellandschaft von Häkeltäschchen, Pulswärmern, Hausschuhen und Wollsocken antritt, vorbei an Arsenalen von Kerzenständern, Serviettenhaltern und Kleiderbügeln, alle mit naturgefärbten Überzügen bedacht. Sie inspiziert das Eingemachte, Eingetopfte und Selbst­geknüpfte, benimmt sich wie eine Gutachterin angesichts der Flut von emsiger Eigenkreation, die offenbar nur sie für eine Verzweiflungstat hält. Die Leute hinterm Bahnhof Oerlikon greifen zu, wägen ab, vergleichen Jacke mit Hose, Rüben mit Kraut. Man schwelgt hier im Sog der in schöpferischer Hingabe gestrickten, umhäkelten, durchgefilzten, eingenähten Quasigebrauchsgegenstände, die der Selbstvergewisserung dienen. Nun denn, inmitten all des Feingesponnenen, Feinziselierten und Feingeknüpften benehmen sich Militärschuhe ziemlich drastisch. Wirken wie ein Angriff auf den häuslichen Goodwill, so­dass Helen sich weiter umsieht, nach einem geeigneten Platz des von ihr geschmähten Corpus Delicti aus dem letzten Jahrhundert.

 

Ein Max-Frisch-Platz an diesem Ort ist Bedeutungsfledderei. Zwar belebt einmal im Monat eine betuliche Hausfraulichkeit diese Brache hinter den Geleisen, doch was für ein Hohn, den Schriftsteller zu ihrem Patron zu machen! Die Politikerin in Helen fragt sich, wessen Schnapsidee es gewesen war, eine städtebauliche Leerstelle, eine räumliche Pause ausgerechnet dem Vorzeigeautor der Stadt Zürich zu widmen. Zwar versucht man, sie mit einem ziemlich stilvollen Baukörper, parallel der Perrons geführt, einer Busstation anzugleichen, die aber niemand aufsucht. Und niemand bedient die von ihr beschirmten rostglänzenden Metallboxen, die man vergeblich für Billettautomaten hält. Helen schlendert den Rändern dieses Unorts entlang und denkt nach.

Wie wär’s, die Schuhe am Sonntag hier aufzustellen, auf Beton? Inmitten des harmlosen Nichts müssten sie auffallen und zusammen mit Frischs «Dienstbüchlein» ergäbe das immerhin einen politischen Eyecatcher.

Doch fragt sich, ob dieser dann eher als eine verfremdete Version von Kunst am Bau begriffen würde, respektvoll bestaunt statt abserviert.

Die Nationalrätin der Grünen sieht sich um: Wo der Bau fehlt, einfach Kunst, nichts als Kunst? Sie lacht sich ins Fäustchen, diese Helen, bevor sie auch diese Idee verwirft. Und mit zwei ledernen Ungetümen in der Hand zur nächsten Tramstation trottet.

Um sie anderntags beim Brunnen vor dem von Kas­tanien gesäumten Park ihres Wohnviertels zu postieren. Hier könnten sie einen Abnehmer finden. Aber nein, am nächsten Tag steht das Paar noch immer beim Brünnlein, das sorglos drauflos plätschert, als wüsste es nichts von der Not, Militärschuhe loszuwerden, und diese Not wird zur Plage, die Schuhe wiegen schwer und schwerer, sie sind ein moralisches Schwergewicht geworden.

Helen kramt wieder in den Fotoalben, da liegt alles kunterbunt in einem Karton, was hätte geordnet und einge­klebt werden sollen. Die Sicht auf die rege politische Vergangenheit hat ihre Vaterstadt dann bald verklärt und an Tischrunden popularisiert. Schliesslich verteidigte der Pater familias in den verabscheuten Schuhen das Vaterland. Ihr eigener war am Gegenufer des Rheins, im Hügelzug des Kohlfirst als Soldat der Fliegerabwehr postiert worden, wo er auch Pläne von der Abwehrstellung gegen die feindliche Luftflotte anzufertigen hatte. Militärschuhe dienten also grundsätzlich und ganz persönlich einem edlen Zweck, wenn man darin gegen die Hitlerbarbarei aufstand, in diesem Sinne lautete die Erzählung, wenn je die Rede darauf kam, freilich wurde sie niemals ausge­deutscht, während an den eidgenössischen Stammtischrunden die Saga vom Heldentum des tapferen Eidgenossen schon fast bilderbuchmässig kolportiert wurde, heruntergebetet. Nie bestätigt, nur gemunkelt wurde ferner über ein tragisches Ereignis, das dem Vater im Aktivdienst wi­derfahren sei. Dass er einen Flüchtling, der bei Diessenhofen über den Rhein geschwommen war, hatte an Land ziehen wollen, und dem schon fast Ertrinkenden, nach Atem Ringenden am Ufer seinen Ka­ra­biner als Rettungsstange hinhielt, doch der junge Mann sei vor seinen Au­gen erschossen worden. Le­genden, Ge­schichten, Vermutun­gen, sie waren das Erinne­rungsfutter der Nachgeborenen, die im nur langsam ausgeatmeten, stetig glimmenden Deutschenhass aufwuchsen. Denn eines war klar und konnte an den Stammtischen nicht genug betont werden: D’Schwobe: Die gesamtdeutschen Sauschwaben hatten diesen schrecklichen Krieg verschuldet, aus welchem das Tagebuch der Anne Frank als ein sprechendes Dokument aufgetaucht und in der Schule weitergereicht worden war, unter der Bank, denn man wusste, dass kein Lehrer darauf eingehen würde und die Antwort ein verschwommenes Das-versteht-ihr-noch-nicht sein würde, sollte jemand den Finger aufstrecken.

Für Anne hatte Helen beinahe schwesterliche Gefühle empfunden, und sie machte sich Gedanken darüber, was denn dieses Bergen-Belsen bedeutete, ein Ortsname, der ihrer wiederholten Lektüre des Tagebuchs ein abruptes Ende setzte. Das Fotoalbum mit dem Trümmerhaufen und den Häftlingen, die Kohle schaufelten, war wohl etwas ganz anderes, das nichts zu schaffen hatte mit dem lebendigen Alltag der Familie Frank im Versteck des holländischen Hinterhauses.

Oder doch? Die Mutter hätte sie gewiss fragen können, doch seltsamerweise hatte sich Helens Unerschrockenheit inzwischen aus dem Staub gemacht. Verzogen, verabschie­det, auf einmal war es peinlich, eine Sache anzugehen, von der man Ungeheures witterte. Sie war inzwischen zwölf geworden und genierte sich für die Damenbinden, die sie auf Geheiss der Mutter tragen sollte, weil das Blut den Oberschenkeln entlang rann, anlässlich der ersten Mens. Gleichzeitig fühlte sie etwas wie Stolz, dass sie nun eine Frau war, das hatte Mutter jedenfalls beteuert. Mit der Pubertät war die Scham eingekehrt, und wie man weiss, Scham macht verschwiegen. Vielleicht auch duckmäuserisch oder gar verlogen. Dachte sie jetzt.

Das Brockenhaus nahm die Schuhe nicht. Damit könnten wir Säle füllen, wissen Sie. Also wieder eingepackt, ins Velokörbchen und erneut ins Schuhgestell. Sie hatte Uwe nicht nach der Herkunft gefragt. Sie scheute eine Auseinandersetzung über die Verantwortung deutscher Nachgeborener. Sie war nicht befugt, über ein Thema zu reden, gar zu urteilen, das in keinster Weise auf dem Stück Folk­lore beruhte, die der Aktivdienst für helvetische Kriegskinder gewesen war. Schweizer Militärschuhe stammten aus einer Vergangenheit, die sich nur schleppend daran machte, in Geschichtsschreibung umgewandelt zu werden. Eine heftige Aufgabe, die Rolle dieser fragwürdigen Friedensinsel im Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten! Die mutigen unter den Journalisten und Historikern wurden mundtot gemacht, man verweigerte ihnen den Zugang zu den Dokumenten im Bundesarchiv, sie wurden der Kollaboration mit dem Bolschewismus verdächtigt, als Stalinisten verschrien, das war zur Zeit des Kalten Kriegs das übelste Vorurteil, das einer engagierten Nachwelt, die es genauer wissen wollte, entgegengebracht wurde. Der Bergier-Bericht, von der Linken und der Gewerkschaftsbe­wegung begrüsst, bald an höherer Warte schubladisiert, das heisst kaltgestellt. Die Analyse und Beurteilung der Verantwortung der Schweizer Behörden, die sich der Ju­denvernichtung mitschuldig gemacht hatten, wurde auf die lange Bank geschoben, Experten, die das Thema un­verblümt anpackten, als Nestbeschmutzer denunziert. Jean-François Bergier, Zeithistoriker von Rang, Professor mit ausserordentlichen Meriten, der zum Leiter des Forschungsteams berufen worden war, starb wenige Jahre nach der Veröffentlichung des umfassenden und infolgedessen wenig schmeichelhaften Befundes, wohl auch aus Gram, dass die immense Arbeit ohne jede politische Konsequenz bleiben würde.