Ein reines Wesen

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Aus der Reihe: Willa Stark #4
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Ein reines Wesen
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Inhalt

Cover

Isabella Archan – Ein reines Wesen

Motto

I Komazeit

1

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II Rückenschwimmen

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III Marvin

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IV Wolkenlos

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Glossar

Danksagung

Isabella Archan

Impressum

Wir alle tragen eine Bestie in uns. Sie unterscheidet sich nur in ihrem Ausmaß, nicht in ihrer Art.

Douglas Preston

I Komazeit

1

Hinter dir! Dreh dich um! Gefahr!

Drei Warnsignale aus dem Unterbewusstsein.

Drei Abläufe folgen.

Eins: Du wirbelst herum und siehst dem Unheil ins Auge.

Das Unheil, oder besser dein Untergang, ist eine Person, die dir bekannt ist. Jemand, mit dem du erst kürzlich ein Gespräch über das Wetter geführt hast.

Das Wetter?

Der bewusste Teil deines Verstandes will sich entspannen, Entwarnung geben. Aber jede Faser deines Körpers schreit »Nein.«

Es vergehen wertvolle Sekunden. Eine winzige Zeitspanne, die über Leben und Tod entscheiden mag. Denn deine Instinkte schreien: »Renn! Lauf! Beweg dich!«

Doch über den Instinkten liegt dein Verstand, der eins und eins immer noch nicht zusammenzählen möchte.

Zwei: Hände heben sich. Du siehst angewinkelte Arme und ausgestreckte Finger, die sich krümmen und deinen Hals umschließen.

»Wa–?«

Sagst du noch. Meinst du: Was? Oder: Warum?

Die Haut der fremden Handflächen mit ihrer glatten, kühlen, fast schlüpfrigen Berührung stößt dich ab. Handschuhe, denkst du. Es müssen Handschuhe sein. Leder? Nein, nicht rau genug. Samt? Zu glitschig.

Latex.

Latexhandschuhe an deiner Kehle, deinen seitlichen Halssträngen.

Finger unter synthetisch dehnbarem Stoff, die zu pressen beginnen. Daumen, die auf deinen Kehlkopf drücken.

Du möchtest lachen, denn in deinem Leben hast du viele schlimme Momente mit Humor überspielt.

Komm, öffne die Lippen, lächle deinem Gegenüber zu, das sich wie in einem Film verwandelt zu haben scheint. Zeig ihm, dass du verstanden hast, ihm nichts übel nimmst und keiner Menschenseele von dieser irren Aktion erzählen wirst. Versprochen!

Ich habe verstanden, dass es Ihnen nicht gut geht. Gerne können wir darüber reden, wenn Sie möchten.

Das wirst du anschließend sagen. Wenn sich die Wogen geglättet haben.

Und: Außerdem sind es nur Gerüchte. Dummes Geschwätz. Aber jetzt bitte aufhören.

Diese Sätze und diese Bitte könntest du auch auf der Stelle äußern, wenn deine Stimmbänder ihren Dienst tun würden. Doch statt Worten rutschen Gurgellaute über deine Lippen. Die Comics fallen dir ein, die du als Kind so gerne gelesen hast.

Dein Mund tut dir immerhin den Gefallen und öffnet sich weit. Aber bevor etwas anderes entweichen kann, streckt sich die Zunge vor.

Der Schmerz setzt ein.

Verspätet, aber mächtig.

Kein Brennen, kein Stechen oder krampfartiges Zusammenziehen. Es ist keine Art von Schmerz, die du benennen kannst. Es tut weh.

Wie weh?

Einmal bist du über eine glühende Kohlenfläche gelaufen, spät abends an einem Lagerfeuer. Aus Spaß. Weil du etwas betrunken warst, bist du mitten in der Glut stehengeblieben. Hast die Arme nach oben gereckt und »Tschakka!« gerufen. Bis der Schmerz kam.

So weh wie damals tut es.

Jetzt, wo dir endlich ein winziger möglicher Vergleich eingefallen ist, scheint es leichter zu werden. Es ist nicht mehr weit bis zum Ende. Nicht deinem Ende, nein, sondern dem Moment, in dem sich die Klammerfinger wieder lösen und eine Entschuldigung fällig wird.

Eine mächtige Entschuldigung.

Das Sichtfeld verändert sich. Vor deinen Augen verschwimmt das unfassbar bekannte Gesicht und wird ersetzt durch einen Sternenregen. Farben mischen sich zwischen dem Aufblitzen und Explodieren der Himmelskörper. Ein Gelb, ein Orange, ein grelles Blau. So ein Feuerwerk hast du noch nie gesehen.

Deine Lungen melden sich. Sie gieren nach Sauerstoff. Du versuchst zu atmen, zu schnappen, einzusaugen. Nichts. Als wärst du unter Wasser. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt und du bist zu einem Fisch geworden. Aus dem Wasser gespült, ohne die Fähigkeit, an Land zu atmen.

Dein ganzes System steht vor dem Kollaps.

Drei: Deine Hände gehen nach oben. Um den Eisengriff zu lösen. Dein linkes Bein schlägt nach vorne aus, während dein rechtes einknickt. Du gehst in die Knie, zur gleichen Zeit trittst du. Ein verrückter Tanz. Deine Muskeln ziehen sich zusammen, zucken, ziehen, zappeln. Schmerz kannst du es nicht mehr nennen, denn es ist größer.

 

Du schrumpfst und dein Gegenüber wächst hoch in den Himmel, zwischen all den explodierten Sterne, die nun verblassen. Über dich gebeugt steht kein Mensch mehr, sondern ein eigenartig verschwommenes Wesen, das über deine weitere Existenz entscheidet.

Sollte nicht dein Leben vor dir ablaufen, die Bilder, die Erinnerungen? Sollten nicht die lieben Verstorbenen auftauchen und dich auf die andere Seite geleiten? Wo ist das Licht, das verdammte Licht?

Ein Schnappen erklingt. Es hört sich wie das Einrasten eines Verschlusses an.

Eine kleine Erinnerung lugt endlich doch noch um die Ecke.

Du, als Kind, vor einem Wunschbrunnen auf einem Rummelplatz. ›Dreimal wünschen‹, stand auf einem Schild davor. ›Und einmal spucken‹, hatte jemand mit schwarzem Filzstift darunter gekritzelt. Sehr lustig, damals wie heute.

Du gehst, du fliegst, du löst dich auf.

Am Ende ist kein Licht im dunklen Tunnel. Aber ein Funken Humor. Ein letztes Augenzwinkern, das du mit Freude umarmst.

2

Der Chaostheorie zufolge konnte der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Naturkatastrophe wie einen Tsunami auslösen.

Galt diese Annahme auch für einen Mord? Hatte ein leichtes Flattern zum Tod der Frau geführt, zu ihrem Ableben? Oder waren es ihre schmutzigen Gedanken, ihr böses Gerede und ihre eigenen gierigen Wünsche, die sie in diesen Zustand versetzt hatten?

Konnte denn der Schmetterling in seiner Pracht und Unschuld überhaupt etwas dafür, dass seine Flügel im Moment der Bewegung Unheil gebracht hatten? Ein reines und unschuldiges Wesen war er, wundervoll in seiner Transformation. Ein derartiges Geschöpf vermochte kein Unheil zu bringen.

Trotzdem lag auf dem Boden des Krankenzimmers der Unfallstation eine tote Frau.

Mit Würgemalen am Hals.

Es würde nicht lange dauern, bis Karin, die so freundliche und kompetente Nachtschwester, entdeckt werden würde.

Ihre Augen waren im Tod weit geöffnet, man hätte meinen können, sie hätte ein Wunder bestaunt. Vielleicht war der Schmetterling ein solches, und Karin hatte im letzten Brechen der Pupillen sein wahres Inneres erkannt. Wäre nicht die Zunge gewesen, die dick und unansehnlich über die Lippen der Toten quoll, wäre sie durchaus ein schöner Anblick gewesen.

Der Schmetterling beherrschte sich, sich über den Körper zu beugen und die Zunge in die Mundhöhle zurückzupressen. Trotz der Latexhandschuhe sollte es keine weitere Berührung geben. Mit einem seiner Insektenbeine, an dem noch ein Schuh hing, stupste er Karin an, schob sie ein kleines Stück am Boden entlang. Näher ans Krankenbett.

Als der Kopf der toten Frau das Rad am unteren Bettpfosten berührte, stoppte der Schmetterling.

Es war dumm zu glauben, dass irgendjemand denken könnte, einer der beiden Patienten in diesem Zimmer hätte Schwester Karin getötet. Herr Fischer, Klaus Fischer aus Hürth, war mit seinem eingegipsten Bein nicht in der Lage, sich zu bewegen. Herr Wasserburg neben ihm, war heute Nachmittag erst vom Aufwachraum hierher gebracht worden. Beide schliefen tief und fest. Herr Fischer schnarchte leise.

Der Schmetterling seufzte. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass es keine weiteren Spuren geben würde, außer den DNA-Resten, die alle hier tagtäglich hinterließen. Was, wenn doch? Wenn sich der Schmetterling irrte, käme die nächste Katastrophe in Gang.

In seinem Rücken begann es zu ziehen, das Gewicht der großen Flügel war zu spüren wie ein schwerer Rucksack. Wäre ein unbeteiligter Zuschauer anwesend, hätte er ein menschengroßes herrliches Geschöpf zu Gesicht bekommen. Perfekt in dieser Verwandlung. Was für einen Stellenwert konnte dagegen eine erwürgte Frau am Boden haben?

Je länger der Schmetterling auf die Tote vor ihm starrte, desto klarer wurde Nachtschwester Karin zur Schuldigen. In Wahrheit war ihre Freundlichkeit aufgesetzt gewesen, ihre Kompetenz hatte aus überheblichen Bemerkungen bestanden. Eine schlechte Frau, eine Frau ohne Anstand.

Draußen waren Schritte zu hören.

Der Schmetterling hielt den Atem an. Er würde sich auf den Hereinkommenden stürzen und eine weitere Tat begehen. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Einmal vollbracht, konnte es auch ein zweites Mal gelingen.

Mit wenigen Flügelschlägen war er an der Tür, legte den Kopf an den Rahmen und lauschte. Die Schritte wurden lauter, näherten sich. Nicht einer, nein zwei Menschen hielten vor dem Krankenzimmer an.

»Und, alles im Lack, Frieda?«

»Mein Dienst ist in genau achtzehn Minuten vorbei, so knapp vor Feierabend habe ich immer gute Laune.«

»Glückskind. Ich fange gerade erst an. Kann sich ziehen, die Nacht.«

»Willst du die Nachtmedikationen der Neuen durchgehen oder zuerst in die Zimmer sehen?«

Kommt nur herein, dachte der Schmetterling. Das Holz an seiner Wange fühlte sich warm an.

Dann töte ich euch beide. Ich kann es.

»Zuerst einen Kaffee, Frieda. Mein Hirn läuft ausschließlich mit Koffein. Plus Zuckerzeug.«

»Dann wird dir die milde Gabe von Herrn Fischers Töchtern gefallen. Ungefähr eine Tonne Gummibärchen haben sie uns hingestellt. Die Jumbopackung.«

»Schnapp dir welche und verstecke sie vor mir, wenn du morgen auch noch welche essen willst.«

Die Schwestern kicherten und auch der Schmetterling musste lächeln.

»Wollte der Doktor heute Abend nicht noch kommen wegen Herrn Bindner in der 19? Ist Karin schon da?«

Der letztgenannte Name ließ das Lächeln erstarren. Der Schmetterling drehte seinen Kopf und sah zu dem Körper am Boden hin. Doch statt eines Menschen lag dort ein zusammengekrümmter Wurm. Die Getötete war zu einem augenlosen, geschlechtslosen Ding geworden.

Der Raum schien sich mit einem Mal in schräger Lage zu befinden, das Insekt krallte sich am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Draußen bewegten sich die Schritte weiter.

Eine Weile geschah nichts. Dann öffnete der Schmetterling die Tür zum Krankenzimmer.

Das wunderschöne Wesen flatterte heraus.

Dass niemand in der Zeit auf dem Krankenhausflur war, fand es erleichternd, aber doch auch ein wenig schade.

3

Harro deNärtens, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Köln am Melatengürtel, saß wie jeden Abend am Krankenbett seiner Kollegin Willa Stark.

Seit siebenundzwanzig Tagen kam er zu der jungen Inspektorin aus Graz. Nachdem sie K.o. geschlagen und gestürzt war, hatte sie einen Schädelbruch mit Hirnblutung erlitten. Seither lag sie im Koma. Wann sie erwachen würde und mit welchen Konsequenzen, ließ sich derzeit noch nicht absehen.

Meine Inspektorin, dachte Harro.

Was für eine trügerische Illusion.

Er war in sie verliebt, seit Willa über Europol zum Ermittlerteam um Hauptkommissar Peter Kraus gestoßen war. Schweigend und schmachtend bis über beide Ohren und darüber hinaus, hatte er die Rolle des heimlichen Verehrers gespielt. Der Altersunterschied von achtzehn Jahren, seine Leibesfülle, die beruflichen Verknüpfungen, all das hatte ihn davon abgehalten, ihr seine Liebe zu gestehen.

Nun saß er in einem der Intensivzimmer des Evangelischen Krankenhauses in Köln-Weyertal. Er saß auf einem harten Stuhl, der seinem Rücken Abend für Abend Schmerzen bereitete, und er schwitzte.

Doch das Schwitzen und die Rückenschmerzen waren nichts gegen die Angst.

Die Angst, dass Willa nur noch einmal ihren Atem einziehen würde, um ihn dann nie mehr auszustoßen. Dass ihr Herz ein letztes Mal schlug, um in Folge seinen Dienst einzustellen.

Tagsüber, während seiner Arbeit in der Rechtsmedizin, egal wie viel Hektik ihn umgab, wie interessant die Aufgaben waren, hielt ihn diese Angst in ihrem festen Würgegriff. Nachts fand er selten die Ruhe, die er brauchte.

Lieber hätte er Willa in ihrem Dornröschenschlaf gelassen, als sich eine Welt ohne sie vorzustellen. Von draußen klopfte Regen gegen die Fensterscheiben des steril eingerichteten Raumes, passend zu der Trostlosigkeit und den Geräuschen der Geräte drinnen.

Dass er überhaupt hier sitzen durfte, spät abends, hatte er Hauptkommissar Kraus zu verdanken. Kraus hatte Verbindungen spielen lassen, in dem Fall ein klein wenig Kölner Klüngel, um seinem Kollegen und Freund etwas Gutes zu tun.

Denn Harro war weder ein naher Verwandter noch Willas Ehemann. Doch jetzt galt er als Bezugsperson. Zusätzlich hatte er die Erlaubnis von Anna Stark erhalten, Willas Mutter, die drei Tage nach den Vorfällen von Graz nach Köln gereist war. Nach einer weiteren Woche hatte sie mit traurigem Gesichtsausdruck die Rückreise angetreten. Seither telefonierten sie fast täglich, Anna wurde auf dem Laufenden gehalten. Ganz offiziell also durfte Harro seine Abendsitzungen an der Seite der jungen Ermittlerin abhalten.

Er war es auch, der anfallende Extrakosten aus eigener Tasche übernahm und sich bereits nach einer Rehabilitationsklinik umsah. Lange würde sie hier nicht mehr bleiben können.

Siebenundzwanzig Tage.

Harro hatte mit Willa gesprochen: laut, flüsternd, heulend, wütend, flehend. Er hatte ihr vorgelesen, ihr die Zeitung mit ihrem Foto auf der Titelseite mitgebracht. Er hatte einen Gedichtband gekauft und laut Poesie rezitiert, ihr über das Handy sanfte Musik vorgespielt. Alles das, weil er in einer Fachzeitschrift gelesen hatte, dass der aktive Kontakt zu Komapatienten den Faden zum Leben stärken konnte.

Am dreizehnten Tag hatte Harro sogar in einer Tasche Willas Kater Jimmy ins Intensivzimmer eingeschleust. Er hätte mit mehr als einer Standpauke rechnen müssen, wenn er erwischt worden wäre. Doch der Kater hatte sich als vorbildlicher Komplize entpuppt und ein einziges leises Miauen von sich gegeben, als Harro den Reißverschluss der Tasche aufgezogen und Willas Hand über den Kopf des Tieres geführt hatte.

Doch nicht einmal davon war sie erwacht. Harro war mit dem verbotenen Kater in der Tasche wieder nach Hause zurückgekehrt.

Er versorgte Jimmy, trotz seiner Katzenallergie. Tränende Augen und Niesen nahm er gern in Kauf. Die Anwesenheit des Katers brachte Trost für den Rechtsmediziner, obwohl das Tier ihm gegenüber scheu und misstrauisch blieb.

Und Willas Kollegen hatten nicht nur regelmäßig die Schwerverletzte im Krankenhaus, sondern auch öfter als üblich Harro im Rechtsmedizinischen Institut besucht. Ohne, dass es für das Team einen zwingenden Grund gegeben hätte. Die Hauptkommissare Marielle Kaiser-Rhön und Clemens Wächter hatten ihm bei ihrem letzten Auftauchen in seinem Büro Puddingteilchen mitgebracht. Sie hatten Kaffee getrunken und über den Fall, der Willa im wahrsten Sinn des Wortes zu Fall gebracht hatte, spekuliert.

Hauptkommissar Peter Kraus hatte sich nicht angeschlossen, aber ausrichten lassen, dass die neue Festanstellung bei der Kripo Köln für Willa Bestand hatte, sobald sie wieder gesund wäre. Ihr großer Wunsch, fix im Team aufgenommen zu werden, war für die Inspektorin Stark in Erfüllung gegangen. Leider ohne, dass sie sich darüber freuen konnte.

Keiner sprach die Möglichkeit von Willas Tod an.

Immerhin hatte es einen Fortschritt in den letzten zwei Tagen gegeben. Eine anschwellende Hirnaktivität, eine Art Aufflackern. Die sich bewegende Kurve konnte ein Anzeichen eines möglichen Erwachens sein. Der behandelnde Arzt war trotzdem skeptisch geblieben. Alles immer mit einem Fragezeichen und einem Konjunktiv versehen, bei Komapatienten gab die Medizin keine klaren Prognosen.

Nicht zuviel Hoffnung, dachte auch Harro auf seinem harten Sessel.

Er schloss die Augen. Hörte den Geräuschen zu, lauschte nach den Atemzügen von Willa. Siebenundzwanzig Tage oder siebenundzwanzig Jahre spielten dabei keine Rolle.

Es klopfte.

Harro schreckte aus seinen trüben Gedankenspielen hoch.

»Herein, herein.«

Es war Zeit für die Nachtschwester und Zeit, dass er nach Hause ging.

Statt jemand vom Krankenhauspersonal, betrat eine große schlanke Frau das Krankenzimmer. Sie blieb an der Tür stehen.

»Tine? Was machst du hier?«

Tine Latisch war die Sektionsleiterin aus dem Institut. Harro hatte sie vor drei Jahren befördert. Sie waren Kollegen und seit langer Zeit Freunde.

»Hey, Harro. Mir wurde erlaubt, dass ich zu dir hineinhusche. Eine Minute habe ich. Alles klar bei dir?«

 

Er nickte und hievte sich mit einem Ächzen aus dem Stuhl. Seine Beine waren gefühllos, sein Rücken hingegen schmerzte.

»Ich wusste gar nicht, dass du Willa kennst, Tine.«

Sie lächelte verlegen.

»Ich komme deinetwegen.«

»Warum das denn?«

Leichter Unmut stieg in Harro hoch. Seine Mitarbeiter machten sich vermehrt Sorgen um ihn, weil er, neben seinem stressigen Job, jede freie Minute im Krankenhaus verbracht. Tine betreute manchmal Kater Jimmy, wenn er es nicht schaffte, zwischen Dienstschluss und Krankenwache nach Hause zu fahren.

»Harro, so geht es nicht weiter.«

Tine blieb stehen. Kam nicht näher. Ihr Blick ging zur schlafenden Willa und wieder zurück zu ihrem Chef.

»Du machst dich kaputt.«

»Das geht keinen etwas an.«

»Doch Harro. Vielleicht nicht in deinem Privatleben, obwohl ich auch als eine gute Freundin zu dir spreche, aber sehr wohl im Kollegenkreis. Meinst du, wir merken nicht, wie zerstreut du bist? Anwesend, aber nicht wirklich mit deinem Verstand bei uns. Müller und Lehrkamm wollten dir schon raten, eine Auszeit zu nehmen.«

»Ich habe keinen Tag gefehlt.«

»Trotzdem bist du nicht einsatzfähig. Wie lange mag es noch dauern, bis sich in deinen Berichten Fehler einschleichen, du etwas übersiehst?«

»Was erwartest du von mir, Tine? Soll ich hinschmeißen? Kündigen? Die Leitung Müller oder diesem Schleimer Lehrkamm übertragen?«

»Nein, Harro. Du sollst den Dingen ihren Lauf lassen. Willa liegt im Koma. Dass du hier sitzt und ununterbrochen grübelst, lässt sie nicht aufwachen.«

Aber vielleicht auch nicht sterben, dachte er.

»Harro, sie ist gut aufgehoben hier. Sie wird versorgt. Und du, du kommst jetzt mit mir und wir gehen einen Happen essen.«

Harros Ärger verschwand so schnell, wie er erschienen war. Natürlich hatte Tine recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Willa erwachte, änderte sich nicht durch seine Anwesenheit. Er streckte sich, seine Gelenke knackten. Er schüttelte seine Beine aus.

»Einverstanden, lass uns gehen.«

Tines Lächeln wurde breiter.

»Gut so.«

»Ich will mich noch verabschieden, ja? Dann komme ich nach.«

»Ich warte am Haupteingang auf dich. Aber nicht ewig.«

»Klar.«

Sie nickte und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Der Regen prasselte und die Geräte summten, das stetige Piepen veränderte sich nicht. Willa lag in ihrem Bett wie Dornröschen, dieser Vergleich fiel ihm wieder ein. Keine hundert Jahre, aber Wochen, sogar Monate, mochte es noch dauern, wenn nicht doch das Schlimmste eintrat. Willa hätte ihn wie Tine ermutigt, sein Leben wieder aufzunehmen. Seiner Arbeit mit Konzentration nachzugehen. Keine Frage.

Für eine Minute konnte sich Harro dennoch nicht bewegen. In seinem Kopf schrie er, brüllte er: Willa! Wach auf! Sofort! Oder ich gehe.

Die Tür wurde erneut geöffnet. Harro aus seiner Starre katapultiert. Sein Herzschlag beschleunigte sich, jetzt war er tatsächlich verärgert.

»Tine, ich habe dir doch gesagt, ich komme gleich nach.«

»Verzeihen Sie«, es war nicht Tine Latisch, die ins Zimmer kam, sondern einer der Krankenpfleger. »Sie sind doch vom Rechtsmedizinischen Institut?! Der Leiter, Doktor deNärtens, nicht?«

»Ja, der bin ich.«

Der junge Mann räusperte sich.

»Ich habe die letzten Tage öfters darüber nachgedacht, Sie anzusprechen.« Er wirkte verlegen. »Also, um auf den Punkt zu kommen: Ich war auf der Universität, bei einem Ihrer Vorträge. Vor dem Sommer. Sie hatten über die neuen Möglichkeiten der Todeszeitbestimmung mit digitalen Hilfsmitteln referiert. Es war öffentlich zugänglich und deshalb konnte ich dabei sein. Es war toll.«

»Kommen Sie bitte zur Sache.«

»Verzeihen Sie. Ich habe Dienstschluss und wollte die Gelegenheit beim Schopf packen und Sie etwas fragen. Könnte ich aus meinem Job heraus einen weiteren Werdegang an der Rechtsmedizin machen? Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Es ist okay, als Pfleger zu arbeiten.«

»Ich verstehe Sie durchaus richtig, junger Mann.« Harro überlegte kurz. »Eine meiner Mitarbeiterinnen, Tine Latisch, hat ihren Beruf ebenso über den zweiten Bildungsweg in Angriff genommen. Im Moment wartet sie am Haupteingang. Eigentlich auf mich, aber sie beide könnten stattdessen einen Happen essen gehen und sich dabei unterhalten. Eine großgewachsene hübsche Frau. Sprechen Sie sie an, erzählen Sie ihr, was ich eben vorgeschlagen habe. Okay?«

»Wenn Sie meinen? Geht das denn?«

»Klar doch. Ich werde doch noch etwas länger hier bleiben.«

Der Pfleger ließ sich von Harro aus dem Zimmer schieben.

Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte Harro.

Ihm war bewusst, dass Tine sich den Abend anders vorgestellt hatte, aber er konnte Willa nicht verlassen. Noch nicht. Vielleicht würde er in einer halben Stunde zu den beiden dazu stoßen. Tine konnte ihm per SMS mitteilen, in welches Lokal es sie verschlagen hatte. Er würde nachkommen. Hungrig war er ohnehin nicht. Unfassbar, wo er sonst all seine Probleme und seinen Stress mit Essen löste.

Hoffnung, dachte er, Hoffnung ist eine wundervolle Betrügerin.

Er setzte sich zurück auf die harte Sitzfläche.