Einführung in die Public History

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Einführung in die Public History
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UTB 4909

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Martin Lücke / Irmgard Zündorf

Einführung in die

Public History

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Martin Lücke ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin und einer der wissenschaftlichen Leiter des dortigen Masterstudiengangs Public History.

Dr. Irmgard Zündorf ist Leiterin des Bereichs Public History am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. In dieser Funktion ist sie Mitkoordinatorin des Studiengangs Public History an der Freien Universität Berlin.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Mit 8 Abbildungen und 2 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlag: Skulptur „Der Kuss“ des Künstlers Seward Johnson, nach dem berühmten Foto von Alfred Eisenstaedt, das er bei den Feierlichkeiten zum Kriegsende 1945 in New York aufgenommen hat. Die acht Meter hohe Skulptur stand 2014 vor dem Memorial in Caen, das an die Landung der Alliierten in der Normandie erinnert. Die Aufstellung der Skulptur führten zu heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um den Umgang mit Gedenkorten und ikonografischen Bildern sowie Genderfragen und Sexismus in Geschichtsdarstellungen und damit mitten in die Public History. Embracing Peace by Seward Johnson © 2004, 2005 The Seward Johnson Atelier, Inc. Photo by Jeremy Tournay

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

UTB-Band-Nr. 4909

ISBN 978-3-8463-4909-0

Inhalt

Einleitung

1.Was ist Public History? Geschichte und Konzeptionen

1.1Geschichte und Institutionalisierung der Public History

1.1.1Public History in den USA und international

1.1.2Public History in Deutschland

1.2Programmatische und begriffliche Annäherung an Public History

1.3Geschichte in der Öffentlichkeit: Geschichts- und Erinnerungskultur als erkenntnisleitende Konzepte

2.Geschichtsdidaktik und Public History

2.1Geschichtsaneignungen in der Öffentlichkeit

2.2Geschichtsdidaktische Prinzipien: Narrativität, historische Imagination, Multiperspektivität

2.2.1Narrativität

2.2.2Historische Imagination

2.2.3Multiperspektivität

2.2.4Geschichtsdidaktische Standards für Produkte der Public History

2.3Gesellschaftliche Dimensionen I: Diversität

2.3.1Diversität, Gesellschaft und Geschichte

2.3.2Race, Class und Gender als soziale Kategorien der Diversity- und Intersectionality Studies

2.4Gesellschaftliche Dimensionen II: Inklusion

2.4.1Beispiel 1: Der Genozid an den Armenier*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

2.4.2Beispiel 2: Die Geschichte der Homosexualitäten

3.Methodische Zugänge zur Public History

3.1Materielle Kultur

3.2Visual History

3.3Sound History

3.4Oral History und Zeitzeug*innen in der Geschichtsvermittlung

3.4.1Oral History-Interviews

3.4.2Die Figur des ‚Zeitzeugen‘ bzw. der ‚Zeitzeugin‘

3.5Living History

4.Public History und Medien

4.1Medien machen „echte“ Geschichte: Authentizität als Konstruktionsleistung von Medien in der Public History und Medienaneignung

4.2Text- und bildbezogene Printmedien

4.2.1Historischer Roman

4.2.2Historisches Sachbuch

4.2.3Geschichtszeitschriften

4.2.4Comic

4.3Audiovisuelle Medien: Geschichte in Film und Fernsehen

4.4Digitale Medien

5.Museen und Gedenkstätten

5.1Begriffliche und entwicklungsgeschichtliche Annäherungen an Museen und Gedenkstätten

5.1.1Entstehung und Entwicklung von Museen

5.1.2Entwicklung der Gedenkstätten in Deutschland nach 1945

5.2Forschungsansätze zum Museum

5.2.1Museumswissenschaften

5.2.2Museums- und Ausstellungsanalyse

5.3Ausstellungen machen und vermitteln

6.Public History in der Lehre

6.1Die Verknüpfung von Theorie und Praxis im Studium

6.2Masterarbeiten zwischen Analyse und Praxisprojekt

6.2.1Zur Analyse von Geschichtspräsentationen

6.2.2Praxisprojekte und Projektmanagement

6.3Der Karriereweg

6.3.1Studium

6.3.2Praktika

6.3.3Promotion

 

6.3.4Volontariat

6.4Zwischen Wissenschaft und Event: Fachliche und ethische Leitlinien der Public History

6.5Berufsfelder

6.5.1Medien

6.5.2Museen und Gedenkstätten

6.5.3Politik

6.5.4Wirtschaft

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungen

Register

Einleitung

Die international gebräuchliche Bezeichnung „Public History“ und ihr häufig verwendetes deutsches Äquivalent „angewandte Geschichte“ weisen bereits auf zwei zentrale Aspekte der vorliegenden Publikation hin: Es geht um Geschichte in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit. Eine solche „Public History“ kann sowohl im Rahmen von universitären Studiengängen und Seminaren konzipiert als auch wissenschaftlich analysiert werden. Public History bezeichnet sowohl jede öffentliche Darstellung von Geschichte als auch eine geschichtswissenschaftliche Subdisziplin, die sich mit der Präsentation von Geschichte in unterschiedlichen Medien, Institutionen und Formen auseinandersetzt.

Public History, so könnte argumentiert werden, existiert bereits so lange wie es die Beschäftigung mit Geschichte überhaupt gibt. Doch die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit allein mit dem Erkenntnisgewinn durch historische Forschung und weniger mit der Vermittlung und Rezeption von Geschichte in der Öffentlichkeit beschäftigt. Dies war der Geschichtsdidaktik vorbehalten, die sich jedoch eher auf die schulische Vermittlung konzentriert hat. Zwar wurde von Seiten der Geschichtsdidaktik bereits in den 1980er Jahren mit dem Konzept der Geschichtskultur der außerschulische Umgang mit Geschichte beschrieben, und in den Kultur- und Geschichtswissenschaften wurden Konzepte von Erinnerungskultur aufgegriffen – ein breiter wissenschaftlicher Zugriff auf das facettenreiche Terrain von Geschichte in der Öffentlichkeit blieb jedoch aus. Dass die Geschichtswissenschaft sich wenig mit der außerschulischen Verbreitung von Geschichte beschäftigte, hatte auch damit zu tun, dass dieser, ob in Form von Ausstellungen oder Fernsehdokumentationen, eine geringere Wertigkeit gegenüber der „akademischen“ Geschichtswissenschaft beigemessen wurde. Doch Geschichte in der Öffentlichkeit boomt, das mediale Interesse an Geschichte ist hoch und es zeigt sich eine gewachsene gesellschaftliche Bedeutung von historischen Darstellungen in den unterschiedlichsten Medien, verbreitet von öffentlichen oder privaten Institutionen, in der Kultur, Wirtschaft oder Politik. Mit diesem Boom ist die Geschichtskultur ein Thema der Geschichtswissenschaft und -didaktik geworden. Sie wird beobachtet, analysiert und weiter ausgebaut. Der vorliegende Band möchte genau diese Entwicklung unterstützen und einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit öffentlichen Geschichtsdarstellungen leisten.

Diese Publikation richtet sich sowohl an Studierende und Absolvent*innen der Public History als auch an solche aus anderen historischen Fächern, die sich neben historischer Grundlagenforschung intensiver mit der (Re-)Präsentation von Geschichte in der Öffentlichkeit beschäftigen möchten. Darüber hinaus sind alle Interessent*innen an und Praktizierenden der Public History zur Lektüre eingeladen. Public History stellt ein Arbeitsfeld für Historiker*innen dar, das sich quantitativ ausweitet und dessen Hervorbringungen qualitativ zu untersuchen und zu verbessern sind. Daher nimmt dieses Buch sowohl Lehre und Forschung als auch den Arbeitsmarkt für Absolvent*innen einschlägiger Studiengänge in den Blick.

Spätestens seit den Bologna-Reformen wird im Rahmen von Praxisseminaren in geschichts- und kulturwissenschaftlichen Bachelor- wie Masterstudiengängen auch auf Berufsperspektiven außerhalb der Universitäten eingegangen. Dabei wird sowohl auf die Vermittlung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Grundlagen Wert gelegt als auch auf die Rezeption und Analyse von Geschichte in der Öffentlichkeit sowie die Konzeption entsprechender Präsentationen in den Medien.

Das vorliegende Buch soll als Vorbereitung und Begleitung für entsprechende Studienangebote dienen, sei es in Form eigenständiger Studiengänge oder einzelner Module. Darüber hinaus bietet es jedoch auch allen Studierenden der Geschichtswissenschaft sowie historisch Interessierten Einblicke in die Public History und reflektiert über die ästhetischen, politischen und kommerziellen Dimensionen öffentlicher Geschichtsdarstellungen jenseits akademischer Publikationen. Das beinhaltet eine Diskussion von Standards für die Public History, die auch als Dienstleister für öffentliche und private Auftraggeber fungieren kann. Es gilt einen Weg zu finden, wie Geschichte gleichzeitig seriös und kurzweilig vermittelt werden kann. Zudem werden Ausbildungswege und Berufsperspektiven für Historiker*innen in Verlagen, Museen, Gedenkstätten, Verbänden, Stiftungen, Unternehmen, politischen Institutionen, Geschichtsagenturen oder im Journalismus aufgezeigt. In diesem Rahmen können viele Einzelaspekte von Public History nur kurz vorgestellt werden. Zur weiteren Vertiefung wird jeweils auf die entsprechende Spezialliteratur verwiesen, während es hier vorrangig darum geht, die Disziplin systematisch zu beschreiben.

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die der Frage nachgehen, was Public History eigentlich ist, welche Methoden zu ihr gehören und welche Arbeitsfelder sie umfasst. Dazu wird zunächst ein Überblick über die Entwicklung der Public History als Idee, Bewegung, Institution und universitäre Disziplin geboten (Autorin: Irmgard Zündorf). Anschließend werden verschiedene zentrale Begriffe wie Geschichts- und Erinnerungskultur, Geschichtsbewusstsein und Geschichtspraxis erörtert und voneinander abgegrenzt (Autor: Martin Lücke).

Darauf aufbauend wird das Verhältnis von Geschichtsdidaktik und Public History beleuchtet (Martin Lücke). Geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität, Narrativität und historische Imagination werden erläutert und Ideen der Inklusion, Barrierefreiheit, Diversität und Intersektionalität sowie Debatten um Trans- und Interkulturalität diskutiert. Zudem wird Public History im Spannungsverhältnis zwischen empirischer Triftigkeit, historischen Narrationen und dem Wunsch des Publikums nach einer ästhetischen Sättigung historischer Imagination betrachtet. Denn bei der Tätigkeit von Public Historians geht es regelmäßig um den Spagat, zum einen für die empirische Evidenz von Geschichte verantwortlich zu sein, zum anderen aber den legitimen Wunsch des Publikums nach Emotion und ansprechender Ästhetik zu befriedigen.

Im dritten Kapitel werden methodische Zugänge zu den Forschungs- und Vermittlungsquellen der Public History betrachtet. Dazu werden Materielle Kultur (Irmgard Zündorf), Visual History und Sound History (Martin Lücke), Oral History und Living History (Irmgard Zündorf) als wissenschaftliche Methoden und Vermittlungsansätze erläutert. In den beiden folgenden Kapiteln wird der Umgang mit Geschichte in den Medien (Martin Lücke) sowie in Museen und Gedenkstätten (Irmgard Zündorf) näher betrachtet. Dazu dienen jeweils ein historischer Abriss des Forschungs- und Arbeitsfeldes sowie ein Einblick in theoretische Analysezugänge.

Das abschließende Kapitel setzt sich dezidiert mit Fragen der universitären Public History auseinander und diskutiert zunächst das Verhältnis von Fachwissenschaft und Praxisbezug in der Lehre (Irmgard Zündorf). Es bietet einen Überblick über mögliche Themen und Ansätze für Masterarbeiten sowie Praxisprojekte und skizziert einen Rahmen für die eigene Projektplanung. Weiterhin werden Fragen geschichtswissenschaftlicher und -didaktischer sowie ethischer Leitlinien für die Arbeit von Public Historians diskutiert. Schließlich werden Ausbildungswege und Berufsfelder für Absolvent*innen vorgestellt, die sich mit der Vermittlung und Präsentation von Geschichte außerhalb der Universitäten und Schulen beschäftigen möchten, sei es im Bereich der Medien, der Museen und Gedenkstätten, der Politik oder der Wirtschaft.

Die vorliegende Publikation kann all diese Themen nicht umfassend behandeln. Daher wird jeweils am Ende eines Kapitels weiterführende Literatur aufgelistet sowie Hinweise auf Websites wichtiger Institutionen und Publikationsorgane im deutschen und internationalen Bereich gegeben. Die Linklisten können auch online über die Website des Verlages abgerufen werden. Wichtige Erklärungen sind im Text grafisch hervorgehoben. Das Buch schließt mit einer Bibliographie zu allen angeschnittenen Themenfeldern sowie einem Sachregister.

Diese Einführung baut auf den langjährigen Erfahrungen beider Autor*innen in der universitären Lehre in der Geschichtswissenschaft, der Geschichtsdidaktik und Public History auf, vor allem im Studiengang Public History an der Freien Universität Berlin. An der Recherche, Korrektur und formalen Gestaltung des Buches haben Adrian Lehne, Anna Panhoff, Johanna Heinecke und Hanin Ibrahim mitgewirkt. Bei ihnen möchten wir uns herzlich für die große Unterstützung bedanken.

1.Was ist Public History? Geschichte und Konzeptionen

In diesem Kapitel wird Public History als Idee und Disziplin vorgestellt. Dazu wird zunächst ihre historische Entwicklung nachgezeichnet, bevor einige mit ihr verbundene Konzepte der Geschichtsschreibung erläutert werden. In einem ersten Schritt soll der historische Werdegang der Public History als Bewegung und Institution, aus den USA kommend und inzwischen auch in Australien und in Europa weit verbreitet, nachgezeichnet werden. Danach werden verschiedene Definitionen von Public History vorgestellt, um anschließend eine eigene Begriffsbestimmung vorzuschlagen. Dabei soll deutlich werden, dass Public History große Schnittmengen mit der Geschichts- bzw. Erinnerungskultur hat. Diese Begriffe sowie weitere in diesem Buch immer wieder auftretende wie Geschichtspraxis und Geschichtsbewusstsein werden Kapitel 1.3 erläutert. Zum Schluss dieses Kapitels wird der Standort der Public History zwischen Wissenschaft und Publikumsansprüchen erörtert.

1.1Geschichte und Institutionalisierung der Public History

Public History hat es schon lange gegeben, bevor der Begriff geprägt wurde. Die Bezeichnung stammt aus den USA, wo sich Public History zunächst als Bewegung außerhalb der Universitäten entwickelte. Aufbauend auf den Ansätzen und Zielen der New Social History der 1960er Jahre sollte eine Geschichte „von unten“ betrieben werden. Dies bedeutete einen Perspektivwechsel weg von der bis dahin betriebenen Politik- und Ereignisgeschichte hin zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Auch das Interesse an Kultur- und Alltagsgeschichte und einer damit verbundenen Regionalgeschichte wuchs. Mit dieser Entwicklung wurden sowohl die Themen als auch die Quellen und Methoden der historischen Forschung ausgeweitet. Zu den neuen Quellen zählten sowohl sogenannte Ego-Dokumente, wie private Briefe und Tagebücher, als auch mündliche Zeitzeug*innenaussagen. Letztere wurden mit der in den 1980er Jahren neu entwickelten Methode der Oral History (Kapitel 3.4) erhoben und analysiert.

Seit den 1970er Jahren stieg das öffentliche Interesse an Geschichtsdarstellungen. Immer mehr Menschen besuchten historische Ausstellungen, schauten Geschichtsfilme (Spielfilme aber auch Dokumentationen), lasen entsprechende Bücher (sowohl wissenschaftliche Abhandlungen als auch populärwissenschaftliche Darstellungen und Historienromane) oder kauften Geschichtsmagazine. Die steigende Nachfrage wiederum hatte zur Folge, dass immer mehr Angebote geschaffen wurden. Diese Entwicklung wird auch als „Geschichtsboom“ bezeichnet, der bis heute anhält.

 

Zudem erfolgte in den 1970er Jahren in den USA der Ausbau des Hochschulsystems. Dadurch stieg die Zahl der Absolvent*innen historischer Studiengänge, die im universitären oder schulischen Bereich keine Anstellung fanden. Auf andere Berufsfelder waren die Studienprogramme jedoch bis dahin nicht ausgerichtet.

Die Public History-Bewegung kritisierte die universitäre Geschichtswissenschaft, nicht auf das wachsende öffentliche Interesse an Geschichte einzugehen. Sie warf der Fachwissenschaft vor, den Kontakt zur Öffentlichkeit verloren zu haben, nicht mehr für diese zu forschen und zu schreiben, sondern nur noch für die eigenen Kreise zu publizieren. Dagegen wurde gefordert, dass die etablierten Historiker*innen sich mit ihren Fähigkeiten an der Entwicklung populärer Geschichtsdarstellungen beteiligen. Zudem sollte die universitäre Lehre an die veränderten Arbeitsbedingungen der Historiker*innen angepasst werden.

In der Folge wurden Ende der 1970er Jahre schließlich neue Studiengänge entwickelt, die auf diese Defizite reagierten und die Studierenden auf Tätigkeitsfelder im Bereich der Geschichtsvermittlung außerhalb von Schule und Universität vorbereiten sollten.

1.1.1Public History in den USA und international

Der erste Public History-Studiengang startete 1976 an der University of California, Santa Barbara unter der Leitung des dortigen Geschichtsprofessors Robert Kelly.1 Weitere Studiengänge, die sich verstärkt mit Vermittlungsfragen von Geschichte in der Öffentlichkeit auseinandersetzten und ganz konkret auf bestimmte Berufe vorbereiteten, folgten. Die Hochzeit dieser Public History-Studiengänge waren die 1980er Jahre, aber auch heute gibt es laut Angabe des Public History Resource Centers in den USA noch an 135 Universitäten entsprechende Angebote.2

Die Public History-Studiengänge in den USA bieten sowohl klassische geschichtswissenschaftliche Seminare an als auch solche, die sich mit Fragen der Entwicklung, Theorie und Methode der Medien- und Kulturwissenschaften auseinandersetzen. Darüber hinaus gibt es Wahlbereiche zu verschiedenen Praxisfeldern der Public History, die erste Einblicke in die konkrete berufliche Tätigkeit ermöglichen. Diese sind wiederum im Praktikum und auch in der eigenen Abschlussarbeit zu vertiefen. Die Studierenden sollen durch konkrete Beispiele und Gruppenarbeit auf die unterschiedlichen Formen der Präsentation von Geschichte in den verschiedenen Medien vorbereitet werden.

Einen Überblick über Definitionen, Studien- und Jobangebote in den USA sowie verschiedene Rezensionen und Rezensionsportale bietet das Public History Resource Center. Es definiert sich selbst als Forum, das die Arbeit von Public Historians unterstützt, fördert und verbreitet. Die dortigen Informationen beziehen sich überwiegend auf die USA, gehen aber teilweise darüber hinaus und schließen den gesamten angelsächsischen Sprachraum mit ein. Leider wird die Website in manchen Sparten seit Längerem nicht mehr überarbeitet.

Neben den Studiengängen zeichnete sich vor allem mit dem 1980 in Pittsburgh als Interessenvertretung gegründeten National Council on Public History (NCPH)3 eine Institutionalisierung der Public History ab. Ziel war es, die verschiedenen Akteur*innen auf dem Feld zu vernetzen und Public History als Disziplin zu professionalisieren, um ihr Ansehen zu fördern. Dafür wurden und werden Konferenzen durchgeführt, Texte über theoretische Grundlagen sowie Praxisfelder publiziert und Hinweise für die universitäre Lehre erstellt. Das NCPH betont einerseits die Eigenständigkeit der Public History und andererseits die Nähe zur Geschichtswissenschaft, deren Methoden nach wie vor als unverzichtbar gelten.

Seit 1978 erscheint vierteljährlich die Zeitschrift The Public Historian4. Sie ist inzwischen das wissenschaftliche Organ des NCPH und dient auch über die USA hinaus als wichtiges Publikationsorgan für die Public History. Zudem veröffentlicht der NCPH seit 1986 vierteljährlich den Newsletter Public History News. Der NCPH betreut ebenfalls die Mailingliste H-Public, die 1994 eingerichtet wurde, sowie seit 2012 den Blog Public History Commons. Dort werden aktuelle Informationen und Diskussionen zum Thema publiziert sowie die Beiträge aus der H-Public-Liste, dem NCPH-Newsletter und Online-Artikel aus The Public Historian zweitveröffentlicht. Im zeitgleich eingerichteten weiteren Blog des NCPH History@work werden vor allem Fragen und Probleme der Praxis behandelt.

Außerhalb der USA entwickelte sich vor allem in Australien seit Ende der 1990er Jahre eine institutionell verankerte Public History. 1998 wurde an der University of Technology Sidney The Australian Centre for Public History5 als Interessenvertretung gegründet. Derzeit gibt es fünf australische Universitäten mit Public History-Studienangeboten. Seit 1992 veröffentlicht die Australian Professional Historians’ Association die wissenschaftliche Zeitschrift Public History Review (PHR)6, die seit 2006 auch online zur Verfügung steht und neben The Public Historian zu den wichtigsten internationalen Publikationsorganen der Public History zählt. Sie behandelt Fragen der Geschichtsvermittlung und deren Rezeption. Die Zeitschrift versteht sich als Forum für alle Historiker*innen.

Auch in Europa war seit den 1980er Jahren ein ansteigendes öffentliches Interesse an Geschichte zu verzeichnen. Zu einer breiten Public History-Bewegung kam es jedoch nicht. In Großbritannien entwickelte sich zunächst die „History Workshop“-Bewegung um Raphael Samuel am Ruskin College in Oxford, die sich mit Fragen der Geschichte in der Öffentlichkeit auseinandersetzte. 1996 entstand der erste Public History-Studiengang in Oxford, und inzwischen gibt es an insgesamt fünf britischen Universitäten entsprechende Angebote. Weitere Public History-Studienangebote lassen sich seit 2008 in den Niederlanden an der Universität von Amsterdam, in Belgien an der Universität von Gent und in Polen seit 2014 an der Universität Wrocłav finden. Im Wintersemester 2015/16 starteten zudem in Frankreich der erste entsprechende Studiengang an der Université de Paris Est und in Italien an der Universität Modena und Reggio Emilia. In der Schweiz startet im Wintersemester 2017/18 der Masterstudiengang „Geschichtsdidaktik und öffentliche Geschichtsvermittlung“ der PH Luzern und der Universität Freiburg, der in Zusammenarbeit mit den Universitäten Luzern und Basel sowie der PH St. Gallen durchgeführt wird.

Eine erste internationale Public History-Konferenz fand 2005 in Oxford unter dem Titel „People and their Pasts“7 statt. Hier referierten vor allem Vertreter aus den USA, Australien und Großbritannien. Eine für alle Beteiligten konsensfähige Definition der Public History wurde hier ebenso wenig gefunden wie die Entscheidung, ob Public Historians in erster Linie studierte Historiker*innen sein sollten oder auch Laienhistoriker*innen sein können. Ziel der Tagung war vielmehr, möglichst vielfältige Sichtweisen zuzulassen und damit neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit zu gewinnen.

2010 wurde schließlich die International Federation for Public History (IFPH)8 gegründet. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, im Bereich der Lehre und in der Forschung internationale Kontakte zu vermitteln und den transnationalen Austausch zu unterstützen. Zu diesem Zweck wird jährlich eine große internationale Tagung durchgeführt. Die erste fand 2014 in Amsterdam statt, die zweite 2015 in Jinan, die dritte 2016 in Bogotá und die vierte 2017 in Ravenna. Innerhalb des IFPH wurde eine Untergruppe für den wissenschaftlichen Nachwuchs gebildet. Sie nennt sich Student and New Professional Committee9 und soll Public History-Studierende und Absolvent*innen miteinander in Kontakt bringen.

1.1.2Public History in Deutschland

Auch in Deutschland stieg seit den 1970er Jahren die Zahl der Absolvent*innen historischer Studiengänge, und spätestens in den 1980er Jahren wurde der Geschichtsboom deutlich spürbar. Immer mehr Historiker*innen wechselten nach dem Studium in Arbeitsfelder außerhalb der Universitäten oder der Schule, waren jedoch, wie in den USA, kaum auf diese Tätigkeiten vorbereitet. Vielmehr ließ sich sogar eine gewisse Ratlosigkeit in den Universitäten beobachten, wie mit dem sogenannten Geschichtsboom umgegangen werden sollte. Auch wenn die Fachdidaktik die Fachhistoriker*innen zu stärkerer Präsenz in der Öffentlichkeit aufrief, blieb unklar, wie diese aussehen sollte.

Außerhalb der Universitäten nahmen die in den 1980er Jahren gegründeten Geschichtswerkstätten unter dem Motto „Grabe, wo Du stehst“10 die Regional- und Alltagsgeschichte in den Blick und verfassten entsprechende Publikationen. Sie kritisierten die universitäre Geschichtswissenschaft für ihre Fokussierung auf die Politik- und Ideengeschichte, auch die zwischenzeitig erfolgte Aufwertung der Struktur- und Sozialgeschichte reichte ihnen nicht aus. Die Geschichtswerkstätten forderten eine demokratische Aneignung der Geschichte durch die Betroffenen selbst. Einerseits sollten die wissenschaftlich ausgebildeten Historiker*innen mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten und andererseits sollte das alltägliche Leben in den verschiedenen politischen Systemen und damit die „Geschichte von unten“ in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden.11

Abseits der Geschichtswerkstätten und Universitäten ließ sich zudem in den 1990er Jahren in Folge des Geschichtsbooms eine „Institutionalisierung der öffentlichen Geschichtsdarstellung“ beobachten.12 So konnten sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeitgeschichtliche Redaktionen mit festen Sendeplätzen etablieren, Verlage publizierten verstärkt populärwissenschaftliche Buchreihen und populäre Geschichtszeitschriften wurden entwickelt. Gedenkstätten erhielten eine stärkere institutionelle öffentliche Förderung, Stiftungen zur Aufarbeitung der deutschen Diktaturvergangenheit entstanden und in den Bundes- und Länderverwaltungen wurden Referate eingerichtet, die sich konkret mit der Förderung von öffentlichkeitswirksamen Geschichtsprojekten auseinandersetzen sollten. Damit erweiterte sich das potentielle Arbeitsfeld von Absolvent*innen der Geschichtswissenschaften. Es dauerte jedoch noch einige Zeit, bis auch die Studiengänge diese veränderte Situation widerspiegelten.

Einen Vorreiter im Bereich der Geschichtsstudiengänge mit Praxisbezug stellt der 1985 an der Universität in Gießen eingerichtete Magisterstudiengang Fachjournalistik Geschichte dar, der als das erste deutsche Pendant zu den amerikanischen Public History-Curricula gesehen werden kann. Allerdings ist er ganz auf die journalistische Vermittlung von Geschichte in Film-, Funk- und Druckerzeugnissen bezogen. Weitere Studienangebote dieser Art ließen lange auf sich warten.

Mit der Einführung des Bachelor- und Mastersystems seit 2000 wurden in den Bachelorstudiengängen im Fach Geschichte Praktika verpflichtend eingeführt und facheigene Übungen oder Seminare mit Praxisrelevanz angeboten. Diese Angebote waren aber zunächst kaum konkret in den Lehrplänen verankert, sondern beruhten auf dem Engagement einzelner Dozierender. Ein Beispiel für ein innovatives Public History-Seminar ist das inzwischen über die Grenzen der Universität Bremen bekannte Theaterprojekt „Aus den Akten auf die Bühne“. Darüber hinaus gibt es an verschiedenen Universitäten Public History-Arbeitsbereiche, die Beratungsleistungen und/oder einzelne Praxis-Seminare anbieten. Dazu zählt der 2013/2014 an der Universität Hamburg eingerichtete Arbeitsbereich Public History, der Seminarangebote unterschiedlichster Art rund um Fragen der (Re-)Präsentation von Geschichte im Bachelorstudiengang Geschichte organisiert. Ähnliche Bereiche gibt es beispielsweise an der Universität Münster mit der „Schnittstelle Geschichte und Beruf“ und an der Universität Bielefeld mit dem „Arbeitsbereich Geschichte als Beruf“, die sowohl berufsvorbereitende Informationen vermitteln als auch eigene Praxisseminare durchführen. Eigenständige Public History-Studiengänge werden hier allerdings nicht angeboten. Auch der an der Universität Zürich angesiedelte Weiterbildungsmaster Applied History stellt keinen Studiengang im Sinne der Public History dar. Er bietet vielmehr in erster Linie klassische geschichtswissenschaftliche Seminare für Nicht-Historiker*innen an.