Carl Friedrich von Weizsäcker

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Carl Friedrich von Weizsäcker
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Ino Weber

Carl Friedrich von Weizsäcker Ein Leben zwischen Physik und Philosophie


Ino Weber

Carl Friedrich

von Weizsäcker

Ein Leben

zwischen Physik

und Philosophie


ISBN 978-3-86191-025-1

Deutsche Originalausgabe

1. Auflage

© 2012 Crotona Verlag GmbH & Co.KG

Kammer 11 • D-83123 Amerang

www.crotona.de

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Titelphoto mit freundlicher Genehmigung

der Carl Friedrich von Weizsäcker-Gesellschaft

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Zur Persönlichkeit – Lebenslauf und Familie

Physik

Die Quantentheorie als wissenschaftliche Revolution

Weizsäckers Leistungen als Physiker

Wissenschaft und Wirklichkeit im Licht der Quantentheorie

Die unvollendete große Einheitstheorie

Politik

Theoretische Politik – Macht an sich und ihre menschliche Tragik

Mitarbeit am Uran-Projekt im 2. Weltkrieg

Der Friedensforscher – Theorie und Praxis („Göttinger Erklärung“)

Das Starnberger Institut – ein gesellschaftspolitisches Denklabor

Wissenschaft und Politik

Philosophie

Weizsäcker und die Griechen – die Liebe zu Platon

Die Vernunft der Affekte – Probleme der Rationalität

Religion

Religion in Toleranz – Weizsäckers theologische Haltung

Meditation: Theorie und Praxis

Nachwirkungen

Anhang 1

Anhang 2

Anhang 3

Literatur

Vorwort

Carl Friedrich von Weizsäcker war ein Mann der Wissenschaft, der aufgrund seines philosophischen und politischen Sachverstandes oft um Rat gefragt wurde. Er war als Redner zu allen möglichen Anlässen – und keineswegs nur auf wissenschaftlichen Fachtagungen –, sehr begehrt. Weizsäcker besaß jedoch nicht nur eine ungemein vielseitige fachliche Kompetenz, sondern er strahlte auch eine angenehme menschliche Wärme aus. Diese persönliche Ausstrahlung von Besonnenheit, Würde und Menschlichkeit war in der Hektik und Ungeduld der modernen Welt eine ebenso wohltuende wie seltene Eigenschaft.

Weizsäcker war eine Ausnahmeerscheinung – als Wissenschaftler und als Mensch! Auf so unterschiedlichen Feldern wie Physik, Philosophie und Politik hat er Wegweisendes geleistet. Dabei erstreckte sich sein Engagement jeweils bis weit ins Private. Er tauchte voll und ganz in die jeweiligen Welten ein. Sein Wissen um die großen Zusammenhänge wuchs stetig an, und er wollte es mitteilen, möglichst ein größeres Publikum inspirieren.

Der eigentliche Grund für Weizsäckers Ausrichtung auf eine größere Öffentlichkeit lag sicher in seinem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein, denn er hielt es für seine wichtigste Pflicht, vor dem drohenden Dritten Weltkrieg zu warnen und positiv auf die Politik einzuwirken, sie für das Friedensproblem und seine eigentlichen Ursachen zu sensibilisieren. Es war sein sehnlichster Wunsch, die Menschen zur Einsicht zu führen und ein neues Bewusstsein für alle großen Weltprobleme zu befördern. Dabei bildeten die Intellektuellen und die Politiker Weizsäckers erklärte Zielgruppe, besonders für sie waren seine anspruchsvollen Erkenntnisse und Analysen gedacht. Doch seine vielfältigen Themen sowie sein überaus klares und gründliches Denken vermochten weite Kreise der Bevölkerung anzusprechen. Dies beweisen die immer sehr gut besuchten Vorträge und der große Erfolg seiner Bücher.

Wissenschaftliche Genauigkeit ist sicher ein Markenzeichen dieses großen Denkers, und so kann es nicht verwundern, wenn seine Aussagen für manche Leser oft schwer verständlich sind. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Weizsäcker stets in größtmöglichem Respekt vor der Wahrheit dachte und handelte. Philosophisch und politisch voll und ganz der Wahrheit verpflichtet, im strikten Bemühen um Redlichkeit, gab er kaum wirkliche Empfehlungen, aber viele Anregungen für ein neues, modernes Denken und Handeln. Er zwang den Menschen zum selbstständigen Nachdenken und wollte ihn zudem auch zur Selbstkritik anleiten.

Carl Friedrich von Weizsäcker war kein Gesellschaftskritiker im eigentlichen Sinn, schon gar kein Moralist, der etwas besser als andere wissen wollte, sondern er praktizierte an sich selbst die härteste Selbstkritik. Dieser Charakterzug disziplinierte ihn zu extrem gründlichem Denken, immer auch aus der Sicht der Gegenparteien, und förderte auf diese Weise zahlreiche wertvolle Erkenntnisse zutage.

Ziel dieser Studie ist es, nicht nur die rein wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch die persönlichen Thesen und Ansichten, ja die tiefsten Ahnungen dieses großen Denkers transparenter zu machen und zusammenzufassen. Interdisziplinäres Forschen, offenes Denken in wirklich alle Richtungen sowie die Freiheit des Geistes vor dem Hintergrund tiefer Menschlichkeit, das ist, in wenigen Worten umrissen, die Ganzheit, um die es Weizsäcker zeitlebens ging. Religion war ihm ein außerordentlich wichtiges Feld – und keinesfalls nur aus intellektueller Perspektive. Er sprach freimütig von eigenen Erlebnissen, aber auch von der Entwicklung seines persönlichen Glaubens. Auch diese Seite seines Lebens werden wir nachzuzeichnen versuchen.

Weizsäckers tiefe Menschlichkeit wird erst dann voll verständlich, wenn man sein Gefühl für die religiöse Wahrheit, seine Achtung vor den höchsten Fragen des Geistes, seine eigene Spiritualität, vielleicht sogar das persönliche Gespür für die göttliche Gegenwart im Dasein, im Kosmos sowie im Wesenskern der Menschen, gebührend berücksichtigt.

Zweifellos kam auch eine gesteigerte Geistigkeit in Weizsäcker selbst zum Ausdruck. Man sah dies schon an den Gesichtszügen, und man hörte es am überlegen ruhigen Sprechen, besonders auch am wohltuend warmen Tonfall seiner Stimme.1

Er war ein Suchender und ein Wissender, sich wohl bewusst, dass man nie vollständig zu Ende denken kann. Man darf angesichts seines Werkes und seiner persönlichen Ausstrahlung vielleicht annehmen, dass dieser Mann mehr als bloß eine Ahnung von den höchsten Ebenen des Geistes besaß – und genau darum kann er durchaus als moderner Weiser bezeichnet werden.

Ein guter Wissenschaftler muss neue Thesen aufstellen und ungewöhnliche Gedankengänge wagen. Die übliche Methode dafür ist, nach Analogien zu suchen. Dies beherrschte Weizsäcker absolut meisterhaft, da er die Themen in ihrer komplexen Tiefendimension überblickte. Dies machte noch etwas anderes erst möglich: Weit über den Tellerrand der Physik, aber auch über die üblichen Deutungen von politischen, wirtschaftlichen und historischen Zusammenhängen hinaus zu schauen. Weizsäcker tat dies mit unvergleichlicher Akribie und Sorgfalt, doch auch mit dem großen Mut für wirklich kreative, ja sogar zukunftsweisende Denkansätze. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an einem relativ groben Schema, analog zu Weizsäckers Hauptthemen: Physik, Politik, Philosophie und Religion. Seine Interessens- und Arbeitsgebiete waren sehr differenziert, und die genannte Einteilung kann dies nur schlagwortartig andeuten. Sie erleichtert aber den Zugang.

Alle wichtigen wissenschaftlichen Sachgebiete hatte er in Grunderkenntnissen stets präsent, so dass er aus dem Stehgreif darüber sprechen konnte. Zudem vermochte er die notwendigen Querverbindungen herzustellen, um seinen Zuhörern, ebenso wie den Lesern seiner tiefschürfenden Texte, eine Erkenntnis auf höchstem Niveau, gleichsam eine ganzheitliche Erkenntnis, zu ermöglichen. Das Talent, gut zu sprechen und sich klar auszudrücken, ist auch unter hochkarätigen Wissenschaftlern äußerst selten. Aufgrund seiner vielseitigen Begabungen und Interessen war es fast unvermeidlich, sich auch auf dem Gebiet philosophischer Grundfragen zu bewegen. Besonders dieses Interesse gereicht uns heute zum Vorteil, denn wir können die allgemeinen Gedankengänge, die sich hier finden lassen, auf das praktische Leben beziehen und somit leichter aufnehmen. Seine schonungslos vorgebrachte und gut begründete Kultur- und Ideologiekritik zeigt bereits die entscheidenden Ansatzpunkte, um eine bessere Zukunft zu gestalten, und insofern eröffnet sie weitreichende Perspektiven. Nicht nur von den Regierenden, sondern von der gesamten Gesellschaft forderte er ein radikales Umdenken, einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel. Das Kapitel „Wissenschaft und Politik“ zeigt im Detail, was er kritisierte und forderte, während das Schlusskapitel „Nachwirkungen“ den Blick auf die praktische Nutzanwendung der Weizsäckerschen Gedanken lenkt und dabei auch eine etwas freiere Deutung wagt.

 

Weizsäcker regt zum Nachdenken an. Er vermag dies aufgrund seiner Persönlichkeit, noch mehr aber durch seine Themenwahl. In der Philosophie, speziell in den klaren Konzepten zur modernen Ethik, liegt sicher die größte Nachwirkung seines Lebens. Weizsäcker war ein das eigene Denken fördernder Philosoph. Zurückhaltend in seinen Forderungen an andere, gab er aus Prinzip keine konkreten Handlungskonzepte oder Empfehlungen, und daher entwickelte er auch kein geschlossenes philosophisches System. So sind wir auf Deutungen angewiesen, die einerseits den Geist richtig erfassen, andererseits zur konkreten Praxis überleiten können.

Klugheit ist keine Charaktereigenschaft, sondern ein Umstand, der teils in die Wiege gelegt wird, den man sich aber zum größeren Teil durch harte Arbeit erwerben muss. Klugheit an sich kann andere Menschen kaum beeindrucken, wirkt oft sogar sehr abstoßend. Bei Weizsäcker jedoch wirkte sie nie auf diese negative Weise. Menschliche Wärme, Verständnis, Toleranz und stete Lernbereitschaft, das waren seine herausragenden Charaktereigenschaften. Ein entscheidend wichtiges Element kommt noch hinzu – Weizsäckers tiefe Gläubigkeit. Diese legte er in freier Denkweise offen dar, intensiv und authentisch, vom Intellekt kontrolliert, doch ehrlich bewegt. Er hat seinen christlich-protestantisch geprägten Glauben mutig zum Ausdruck gebracht, sogar öffentlich. Als Freidenker war er sehr aufgeschlossen für alle Weltreligionen und ihre jeweiligen Blickwinkel auf die Wahrheit. Er meditierte täglich und zog daraus nicht nur Kraft, sondern auch geistige Erkenntnisse. Erst in dieser außergewöhnlichen Kombination entsteht der Mensch Carl Friedrich von Weizsäcker als Ganzheit. Dieses Zusammenwirken aus Wissen und Gefühl, die Paarung aus suchender Willenskraft und Gelassenheit, aus Hoffnung und gesundem Skeptizismus, macht ihn zum Vorbild für viele. Er kann mit Fug und Recht als Wegbereiter unseres modernen Zeitalters betrachtet werden, der die Wissenschaft in neuem Licht erscheinen lässt, aber auch vor ihren Gefahren ausgiebig warnt. Doch er versäumt nicht, die notwendige Besinnung auf menschliche Werte, auf eine universelle Ethik, als positives Gegengewicht in Erinnerung zu rufen.

Wie kaum ein anderer dachte Carl Friedrich von Weizsäcker vorrangig global. Er war ein Weltbürger, dem die ganze Menschheit am Herzen lag, der aber im selben Maß jeden einzelnen Menschen als eigenständiges Individuum wahrnahm und respektierte. Was wirklich beeindruckend ist: Weizsäcker lebte diese Ethik mustergültig vor, als ungemein fleißiger Arbeiter in den endlosen Welten des Geistes. Sein Streben und Wirken reichte bis weit in die reale Politik hinein. Alle diese Aktivitäten übte er sehr bewusst, dezent und zurückhaltend aus, immer auf die Wahrheit und eine möglichst gute und seriöse Wirkung bedacht. Weizsäcker trug sein Wissen und sein geistiges Innenleben aktiv nach außen, in Reden und Vorträgen, im Briefwechsel mit namhaften Persönlichkeiten und vor allem in zahllosen Gesprächen, die er bereitwillig suchte. Diese Form der Aktivität ist nicht nur wissenschaftlich geprägt, sie ist vom philosophischen Willen nach einer wirklichen Erfahrung, speziell der Erfahrung des allgemein Menschlichen, beseelt. Carl Friedrich von Weizsäcker war und ist ein Vorbild, ein vorbildlicher Mensch mit charakterlicher Größe. Sein Werdegang ist einzigartig. Was man aber sehr wohl übernehmen oder jedenfalls stark auf sich wirken lassen kann, ist sein humanistisches Denken, getragen von nüchterner Vernunft und liebevoller Weitsicht. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, dieses wichtige, aber im alltäglichen Gang der Gesellschaft und Wirtschaft leider oft völlig missachtete Gebot, bekommt in der Person Weizsäckers eine neue und sehr reale Bedeutung.

Es gibt nur sehr wenige Menschen der Neuzeit, die man mit Recht als weise bezeichnen kann. Bei Carl Friedrich von Weizsäcker darf es geschehen, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen; denn das Element der Klugheit tritt deutlich zurück hinter einer wahrhaft philosophischen Lebenshaltung. Auf seine vornehme, zurückhaltende Art übte er sehr wohl auch Kulturkritik. Dies war aufgrund seiner klaren Analyse der Wirklichkeit unausweichlich. Jedoch blieb er überaus selbstkritisch und bescheiden, lebte eine absolut mustergültige Haltung vor. Was kann die Nachwelt von einem Universalgelehrten solchen Ranges lernen? Diese Studie will eine Antwort versuchen, versteht sich aber vorrangig als Schlüssel zu Weizsäckers gewaltigem geistigen Werk.

Zur Persönlichkeit
– Lebenslauf und Familie

Kindheit, Jugend

und wissenschaftliche Karriere in Grundzügen

Carl Friedrich von Weizsäcker wurde am 28. Juni 1912 in Kiel geboren und starb im Alter von 94 Jahren in Starnberg bei München, nur zwei Monate vor Vollendung des 95. Geburtstags.

Kiel war nur eine Zwischenstation im beruflichen Werdegang des Vaters Ernst von Weizsäcker (bis 1918 Marineoffizier). Schon 1915 lebte die Familie wieder in Stuttgart, wo beide Elternteile ursprünglich herstammten. Dort wuchs auch der junge Carl Friedrich auf. Heimatgefühle verband er daher zeitlebens mit dieser Stadt und mit der Württembergischen Landschaft, trotz des Geburtsortes im hohen Norden Deutschlands.

Stuttgart kann sogar als Zentrum und Stammsitz der weitverzweigten Weizsäcker-Familie gelten. Schließlich war der Großvater, Karl Hugo von Weizsäcker, von 1906 bis 1918 Präsident des Württembergischen Staatsministeriums (vergleichbar mit dem Amt eines Ministerpräsidenten). Im Jahr 1916 wurde der hochdekorierte Großvater, ein sehr angesehener Staatsmann, von König Wilhelm II. von Württemberg mit der erblichen Freiherrnwürde geadelt. Somit war auch der Enkel Carl Friedrich in den Adelsstand erhoben.

Im verträumten Städtchen Oehringen, gelegen im Hohenloher Land (zwischen Neckar und Tauber), kommt der gesamte „Weizsäcker-Clan“ alle fünf Jahre zusammen. Die Tradition, das Familientreffen in Oehringen abzuhalten, besteht seit 1967. Der organisatorische Aufwand ist enorm, denn schließlich treffen sich jeweils weit über einhundert Personen, oft hochrangige Persönlichkeiten mit dicht gefülltem Terminkalender, die aus aller Welt anreisen.2

Die Mutter Marianne, eine geborene von Graevenitz (1889-1983), lebte bis zu ihrem Tod in der württembergischen Heimat, und der erwachsene Sohn ließ es sich nicht nehmen, sie so oft wie möglich zu besuchen. Im Elternhaus herrschte eine sehr tolerante und liebevolle Atmosphäre. Über Politik wurde eifrig diskutiert, denn schließlich war der Vater, Ernst von Weizsäcker, seit 1919 als Diplomat tätig. Man besaß also auch Informationen aus erster Hand.

Über die frühe Kindheit ist nicht viel zu berichten. Es versteht sich von selbst, dass der Erste Weltkrieg (1914-1918) eine nachhaltige Wirkung auf den Jungen ausübt, obwohl er die Vorgänge geistig noch nicht zuordnen kann. Gerade in den Kriegsjahren verbringt Carl Friedrich viel Zeit zusammen mit dem Großvater in Stuttgart. Die beiden verstehen sich offenbar prächtig. Sie scherzen miteinander: Der Alte nennt ihn „Spitzbub“ und der Junge kontert frech, schimpft ihn einen „Spitzgroßpapa“. Beim gemeinsamen Pilzesammeln im Wald begeistert sich der Opa für ein sehenswertes „Parlament“ von Steinpilzen. Das Politische wird Carl Friedrich von Weizsäcker von frühester Kindheit an nahegebracht, vom Vater gibt es diesbezüglich einige lehrhafte Unterweisungen, später auch für den kleinen Richard. Ein ebenso liebevolles Verhältnis bestand zu den beiden Onkeln Viktor von Weizsäcker und Fritz von Graevenitz. Letzterer war Bildhauer. Vor allem bei ihm entwickelt der begabte Schüler und angehende Wissenschaftler einen ausgeprägten ästhetischen Sinn, ein Gespür für die künstlerische Haltung sowie für die Bedeutung von Kunst und Kreativität.

Der Onkel väterlicherseits, Viktor von Weizsäcker, war ein fortschrittlicher Arzt, ein Neurologe und Psychologe mit besonderem Hang zur Anthropologie und Philosophie. Psychosomatische Medizin ist zur damaligen Zeit ein weitgehend unbekanntes Fachgebiet. Sein Onkel Viktor hat sogar eine völlig neue ganzheitliche Methode erfunden, die sogenannte Gestalttherapie. Der junge Mann gewinnt entscheidende Einblicke, denn er erhält die Information gewissermaßen aus erster Hand. Carl Friedrich von Weizsäcker schreibt über seinen Onkel: Er „öffnete mir unerlässlich wichtige Horizonte“.3 In späteren Jahren setzte sich Weizsäcker noch sehr intensiv mit diesem Gedankengut auseinander, las die Schriften des Onkels mit großer Aufmerksamkeit und kam, wie immer, während der Analyse zu eigenen Erkenntnissen und Überzeugungen: „Jahrzehntelang konnte ich über Äußerungen von ihm meditieren.“

Gerade im Gespräch, in der Diskussion mit den Erwachsenen, deren Umgang er von klein auf bevorzugt, entsteht Weizsäckers sehr differenziertes Urteilsvermögen. Wissbegier ist ein Charakterzug, der sich bei ihm sicher auch mit den familiären Verhältnissen erklären lässt. Doch die Intensität seiner urpersönlichen Gefühlslage, sein unablässiges Drängen und der unbezähmbare Wille, stets ein ganzheitliches Wissen zu erlangen, bleibt ein bemerkenswertes Phänomen.

Da ist ein achtjähriger Junge, der inständig wissen möchte, wie alles zusammenhängt, der das Ganze zu ergründen trachtet, freilich ohne sich dieses Streben schon geistig klar bewusst machen zu können. Das „Ganze“ versteht er zunächst auch mehr kosmologisch, nicht philosophisch. Es ist das Weltall, das ihn fasziniert, weil es eine unbegreifliche Ganzheit widerspiegelt. Als 12-jähriger, frisch ausgestattet mit einer Sternenkarte, geht er in die Nacht hinaus, um Beobachtungen anzustellen, und hat dabei ein intensives religiöses Erlebnis. Neben der intellektuellen Veranlagung spricht dies für eine besondere Gefühlsintensität.

Die große Leidenschaft für Astronomie ist sehr auffällig, und sie gipfelt im klar geäußerten Wunsch, dieses Fach einmal zu studieren. Keine Frage, dass diese Leidenschaft eng mit der Wissbegier zusammenhängt, speziell mit der philosophischen Neugier für die Urgründe und den Sinn des Daseins. Ein tiefes Gefühl für Schönheit und Gesetzmäßigkeit schwingt ebenfalls dabei mit.

Ob das Kind mehr oder weniger deutliche Ansätze zur Genialität zeigt, lässt sich heute nur schwer beantworten. Carl Friedrich ist sicher kein typisches „Wunderkind“. Doch gewisse Auffälligkeiten sind zweifellos vorhanden, wie z.B. sein geliebtes „Schwätzen“ (schwäbisch „schwätze“), sogar eine Art frühes Dozieren, ein altkluges Benehmen, das jedoch bereits durchaus auf Wissen beruht, und schließlich die Fähigkeit, sich mit Erwachsenen gut unterhalten zu können. Der große Intellekt leuchtet also bereits sehr früh in ihm auf.

In den ersten Schuljahren zeigt er sich als stilles, schüchternes, nach innen gekehrtes Kind. Er ist ein wenig scheu und ängstlich, außerdem auffallend träumerisch. Dem widerspricht nicht der bereits hell auflodernde Ehrgeiz. Das Verhältnis zur Schule ist rein äußerlich schon dadurch erheblich gestört, dass die Familie in jenen Jahren sehr häufig umzieht. Stuttgart – Basel – Den Haag – Kopenhagen – Berlin, so heißen die Stationen von 1915 bis 1929.

Besondere Schulerlebnisse Weizsäckers sind nicht überliefert, vielleicht mit einer Ausnahme: Sein Gespräch mit dem sehr verehrten Lehrer Hilmer von der St. Petri-Realschule in Kopenhagen, der ihm zusätzlich Privatunterricht in Latein und Griechisch erteilte. Weizsäcker selbst berichtete von einem „Begeisterungsausbruch“ während einer solchen privaten Stunde. Anlass dazu war sein gedankliches Abschweifen, nämlich zum Lieblingsthema Weltall. – Diese Größe, dieses Wunder! – Wir können sein wirkliches Gefühl weder nachempfinden noch korrekt wiedergeben. Doch Hilmer ging sogleich darauf ein und ermahnte den Schüler: „Aber vergiss es nie, größer als das Weltall ist dein Geist, Carl Friedrich v. Weizsäcker, der das Weltall zu denken vermag.“ 4 Weizsäcker zitiert diesen Satz in seiner „Selbstdarstellung“, abgedruckt ganz am Ende des Buches „Der Garten des Menschlichen“. Ob der Lehrer seinen jungen Schüler wirklich derart formell mit dem vollen Namen ansprach und ob dieser Satz, aus der Erinnerung hervorgeholt, tatsächlich so formuliert war, ist heute unerheblich. – Der Geist ist größer noch als das Weltall. – Diese Aussage versinnbildlicht auf wunderbare Weise Weizsäckers gesamtes Lebenswerk, seinen persönlichen geistigen Kosmos.

 

Das Abitur legte Weizsäcker in Berlin ab, wo er 1929 auch das Studium aufnahm. Seine Entwicklung zum Wissenschaftler wird im Kapitel „Physik“ näher beschrieben.5

Viele Anmerkungen, auch einige kleine Geschichten und Anekdoten zur Persönlichkeit Weizsäckers, sind an anderer Stelle dieser Studie eingeflochten. Es sei diesbezüglich vor allem auf das Kapitel „Religion“ verwiesen, doch findet sich reichhaltiges Material auch in Teilen der „Politik“-Kapitel. Dieses Extra-Material ist allerdings nicht in voller Breite dargelegt, sondern es wird meist auf den Kern der Aussage reduziert. Weizsäckers Denken hat erst derjenige wirklich verstanden, der es in eigenen Worten ausdrücken kann. Es geht daher hier primär um das reine Verständnis der Aussagen und darum, auch die komplexeren Gedankengänge in ihrer eigenständigen Logik nachvollziehen zu können. Selbst wenn sich eine Deutung ein wenig vom Original entfernt, bleibt der Sinngehalt das Entscheidende. Statt den allerfeinsten Nuancen des Gesagten nachzuspüren, ist es sinnvoller, zunächst einmal die Bedeutung als solche zu erfassen. Vereinfachung in Maßen kann das effektiv Gemeinte, das zu Sagende, sogar wesentlich deutlicher machen als es einzelne Textpassagen vermögen, die viele Einzelaussagen enthalten, ohne jedoch eine Quintessenz aufzuzeigen. Weizsäcker selbst zieht keine Resümees. Man muss dies nachholen, um seine Gedanken einzufangen, sie geistig zu verarbeiten und vielleicht auch einen praktischen Nutzen daraus zu ziehen.

Die lebensentscheidende Begegnung mit Werner Heisenberg ist im Kapitel „Physik“ nacherzählt, denn dort ist sie thematisch besser aufgehoben. Zu dem genialen Physiker (Nobelpreisträger des Jahres 1932) sollte sich eine lebenslange Freundschaft entwickeln.


Lebenslauf
Carl Friedrich von Weizsäcker, geb. am 28. Juni 1912 in Kiel. Seit 1937 verheiratet mit Gundalena, geb. Wille (Historikerin)
Eltern: Ernst v. Weizsäcker (Offizier, Diplomat), Marianne v. Weizsäcker (geb. v. Graevenitz, Krankenschwester)
Geschwister: Adelheid, Heinrich und Richard (geb. 1920)
Kinder: Carl Christian (geb. 1938), Ernst Ulrich (geb. 1939), Elisabeth (1940), Heinrich (1947)
1918-29 Schulen in Wilhelmshaven, Stuttgart, den Haag, Basel, Kopenhagen, Berlin (1927-1929)
1929 Abitur in Berlin (Bezirk Wilmersdorf)
1929-33 Studium der Physik, Astronomie und Mathematik in Berlin (Friedrich-Wilhelm-Universität), ab 1929/30 in Leipzig
1933 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig bei Werner Heisenberg. „Durchgang schneller Korpuskularstrahlen durch ein Ferromagnetikum“
1936 Habilitation an der Universität Leipzig. „Über die Spinabhängigkeit der Kernkräfte“
1936-42 Assistent am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, ab 1937 auch Dozent für theoretische Physik an der Universität Berlin
1942-44 Professor für theoretische Physik an der Universität Straßburg
1946-57 Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen und Honorarprofessor an der Universität Göttingen
1957-69 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg
1970-80 Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg