Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg

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Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg
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Ingrid Stahn

VON FRIEDLAND IN

OSTPREUSSEN AN

DEN JAKOBSWEG

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Coverfoto © Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Ihre Erinnerung gehen zurück auf den 3. April 1944

Die Flucht

Reise in die Vergangenheit

Erinnerungen an die Flucht

Ungeliebte Flüchtlinge

Der Stiefvater und eine neue Familie

Die Kohlenklauer, bzw. Fringser aus der Not

Schulanfang und so etwas wie ein Familienleben

Deutschlands politische Neuordnung durch die Siegermächte

Gefährliche Schwarzfahrt durch die Grenzen der Alliierten

Zwei deutsche Staaten, zwei deutsche Währungen

Berufsausbildung im Sozialismus

Verlockung Westen, die Freiheit ruft

Im Westen

Der 13. August 1961

Der neue Lebensweg

Bei der Bundeswehr als Soldatenfamilie

Gesunde Wirtschaft, gesunde Familie und Kinder dazu

Eine Familie zerbricht

Humanität im Sozialismus kostet Eintrittsgeld

Die erste Nestflüchterin

Der Weg für den dritten Lebensabschnitt

Ein neuer Lebensabschnitt

Die Lebenswege einfacher Menschen sind oft interessanter, als die zurechtgelegten und schön geschriebenen von bekannten Persönlichkeiten.

Vorwort

Ein Artikel im Focus (Ausgabe Nr. 43/2000) bewegte mich zum Schreiben. Man hat erkannt, dass die Zeit nicht, wie bisher immer angenommen, alles heilt. Es ist eine Tatsache, dass durchlebte traumatische Lebenssituationen zwar verdrängt werden können, die betroffenen Personen ihren Alltag völlig unauffällig abwickeln, ihr Leben völlig individuell mit Erfolg und Verantwortung erfüllen, Häuser bauen, Kinder im geschaffenen Wohlstand erzogen, mit Fleiß und Pflichtgefühl erst alles andere erledigen, ehe sie an sich selbst dachten.

Je älter diese Menschen aber werden, desto öfter holen sie aus ihrem Langzeitgedächtnis diese traumatischen Lebenserfahrungen wieder hervor, mit unterschiedlichen Beweggründen.

Das kann Selbstmitleid sein, („seht her, was wir erleben mussten und haben trotzdem die Kraft gehabt, ein neues Leben aufzubauen. Unsere Leistung damals, ist Eure Verantwortung und Pflicht heute“), oder Enttäuschung, keine Anerkennung für das, was man geleistet hat, keine Würdigung der Lebensleistung in einer schnelllebigen Zeit, keine Achtung erfahren zu haben, Nutzen und Benutzen dieser inzwischen altgewordenen Menschen, die es oft nicht verstehen, dass Spaß und Lebensart vor Pflicht und Verantwortung gestellt werden.

Die Jüngeren kämpfen ihren eigenen Kampf, da ist keine Zeit und kein Interesse zum Zuhören, wenn alte Wunden aufbrechen, der alte Körper, der den Rest seiner Kraft zum Überleben benötigt, lässt nun die Wunden seines Lebens sprechen.

Es ist die Zeit der Seele, die hervor tritt, wenn Kraft und Geist leise werden, nun holt sie ihre schmerzhaften Erlebnisse hervor und will sie verarbeiten, denn viele Jahre musste sie der Körperkraft und dem Geist den Vortritt überlassen.

Anstatt nun Beistand, Geborgenheit, Verständnis und Liebe von denen zu erhalten, denen ihre ganze Kraft gewidmet war, erhalten sie oft nun Psychopharmaka oder einen Platz im Altersheim.

So schreibe ich dieses Buch, um ebenfalls alle Gefangenschaften frei zu lassen und nicht zu vergessen.

Verse von Ricarda Huch auf einem Reliefstein neben der Jesuitenkirche in Mannheim:

„Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen sich tiefer und tiefer ins Herz hinein; und während Tage und Jahre verstreichen, werden sie Stein.“

„Von Friedland an den Jakobsweg“ ist eine biografische Erzählung des Lebensweges eines Flüchtlingskindes.

In der Geschichte erzählt die Autorin die traumatischen Fluchterlebnisse mit den Grausamkeiten und Lebensbedrohungen, die dieses Kind mit seiner Familie erleben, ertragen und verkraften musste. Viele Jahre nach dem Krieg hatten sie als Heimatvertriebene unter der einheimischen Bevölkerung wenig Anerkennung und Annahme gefunden. Das Flüchtlingskind in der Person Andrea entwickelte trotz widriger Umstände Kraft und Lebenswille für ihr eigenes Leben. Sie schuf erfolgreich eine Lebensgrundlage für sich und ihre Kinder. Nie konnte sie sich ausruhen, oder sich Schwächen hingeben. Sie zog ihre Kinder allein groß, als ihr Mann die Familie verließ. Als ihre drei Kinder erfolgreich ihre Lebenswege gehen und sie verlassen, muss sie den Sinn für ihr eigenes Leben finden.

Über 60 Jahre deutsche Geschichte ziehen mit den geschilderten Lebenssituationen aus dem Krieg, der Flucht, den Nachkriegsjahren, der deutschen Teilung und der deutschen Wiedervereinigung mit erlebten Zeitgeschehen am Leser vorbei und lassen ihn teilhaben oder sich sogar selbst wieder erinnern an eigene Erlebnisse aus dieser Zeit. Es sind schicksalhafte Geschehen die heute gewollt von Politikern abgewiegelt, verdrängt und zeitgeschichtlich verfälscht werden.

Die Wahrheit über diese Geschehen ist unerwünscht, da es das Leid der deutschen Zivilbevölkerung gleichstellen müsste, mit dem Leid aller durch diesen Krieg betroffenen Völker. Die Autorin möchte mit den Erlebnissen dieses im Krieg geborenen Kindes 60 Jahre deutscher Geschichte festhalten, um späteren Generationen die Wahrheit zu erhalten. Ich wünsche mir als Autorin für die Zukunft unseres deutschen Volkes Kraft und Stolz, um ihr Land wieder zu lieben und zu verteidigen, ihre Sprache nicht mit Anglizismen zu verleugnen, ihre Kultur, Sitten und Gebräuche zu pflegen und sich mit ihnen zu identifizieren, nicht durch „Multikulti” ihre Identität ausmerzen lassen, dass sie als Volk ihren Stolz und ihr Bewusstsein wieder erhalten, was sie in über 60 Jahren nach diesem unseligen, leidvollen Krieg für sich und die Welt wieder geschaffen haben.

Eisenach, d. 1.1.2011

Ihre Erinnerung gehen zurück auf den 3. April 1944

Es war ihr 3. Geburtstag, der sich in ihr Gedächtnis geprägt hatte. Es war kein Fest mit Kerzen, Torte, Geschenken, Spiele und Gästen. Es war eine Erinnerung an Angst und Hilflosigkeit.

Sie hatte als Dreijährige verstanden, dass die furchtbare Nachricht vom Tod des Vaters nach Hause gekommen war. Sie kannte ihn eigentlich gar nicht. Es war eine Person von der alle sprachen, irgendwie musste da noch jemand in der Familie wichtig sein, sie aber konnte sich nichts darunter vorstellen oder etwas damit verbinden. Als sie geboren wurde, war ihr Vater im Krieg, von seinen kurzen Fronturlauben hatte sie keine Erinnerung zurück behalten.

Deutschland befand sich im Krieg. Jeder neue Tag brachte neue Hoffnung, dass das Schlimmste nicht geschehen möge, aber für viele Familien wurde diese Hoffnung mit einer entsetzlichen Nachricht: „Für Volk und Vaterland gefallen”, beendet.

Andreas Mutter hieß Friederike Prill, war 24 Jahre alt und im 7. Monat mit dem 3. Kind schwanger, als sie diese Nachricht erhielt. Sie weinte tagelang. Weinkrämpfe und monotones Schluchzen wechselten in ihrer tiefen, erschütternden Verzweiflung und Trauer ab.

 

Andrea und ihr siebenjähriger Bruder Max hatten das Fenster geöffnet.

Die Aprilsonne mühte sich, ihre wärmenden Strahlen wohltuend unter die kühle Frühlingsluft zu mischen. Der lange kalte Winter sollte endlich das Weite suchen, damit die Natur erwachen und alles zum neuen Leben entfalten kann.

Die Kinder hatten Hunger und fühlten sich endlos alleine. Sie wagten nicht, die Mutter um etwas zu Essen zu bitten, schlichen von hier nach dort, um verlegen und voller Angst herum zu gehen, flüsternd, mit leisen Schritten oder auf Zehenspitzen. Die endlose Erschütterung und die tiefe Trauer der Mutter über den Tod ihres geliebten Mannes und Vater ihrer Kinder nahm ihr jede Besinnung. Sie lag schon tagelang im Bett, schluchzte, weinte und jammerte, monotone oder stakkatoartige Schreie verängstigten die Kinder.

Die hungrigen Kinder hatten angsterfüllt Respekt vor dem Zustand der Mutter, hofften aber, dass sie doch bald etwas zu essen bekommen würden. Ihr Hunger war unerträglich.

Andrea rief jedem aus dem geöffneten Fenster zu: „Mein Papi ist tot, mein Papi ist tot!” Max ließ sie einige Zeit gewähren, holte sie aber dann vom Fenster weg.

Im Juni 1944 bekam die Mutter Friederike dann ihr drittes Kind. Es war ein Mädchen und hieß Sibylle und hatte schwarze Haare wie ihr Vater. Andrea hatte nach einiger Zeit entdeckt dass am Fußende von Sibylles Bettchen eine Nuckelflasche mit leckerem Inhalt im Federbett warm gehalten wurde.

Wenn sie von Mutter und Bruder unbeobachtet war, holte sie diese Flasche heraus und trank sie leer, steckte aber die leere Flasche wieder zurück an seinem Platz im Federbett. Die Mutter traute der kleinen Andrea diese Tat nicht zu und vermutete Max als Übeltäter. Sie bestrafte ihn dafür und es bekam ihm noch schlechter, weil er die Tat abstritt. Da Andrea die Flasche immer wieder leer trank, wurden die Strafen für Max von der Mutter immer bösartiger und aggressiver. Eines Tages, als Max wieder ungerechterweise von der Mutter eine gehörige Tracht Prügel bezog, tröstete Andrea ihren Max und schwor ihm, dass sie nie wieder die Flasche leer trinken würde. Er tat ihr furchtbar leid, die Mutter war mit ihren Schlägen in ihrer Wut auf ihn nicht zimperlich. Das Entsetzen der Mutter über ihren unbeherrschten und ungerechten Zorn auf Max mit allen Folgen war groß. Von da an bezog sie die Dreijährige in alle Konsequenzen mit ein, sie schien sogar härter gegen sie zu sein, als gegen Max.

Die Flucht

Ende Dezember 1944 mussten sie aus Ostpreußen flüchten.

Schon lange hatte sich abgezeichnet, dass Deutschland diesen Krieg nicht gewinnen wird. Die Russen befanden sich auf dem Vormarsch gen Westen und das hieß für die Zivilbevölkerung Flucht.

„Los, los, die Russen kommen“, dieser Satz trieb sie zur Eile an, sogar die dreijährige Andrea ließ sich damit antreiben, wenn sie vor Erschöpfung nörgelte, sie erinnerte sich gut an diesen Aufbruch. Im Haus wohnte eine zweite Familie, die auch ihre Sachen packte für die Flucht. Diese hatte schon größere Kinder, da konnte mehr mitgenommen werden.

Andreas Mutter war überfordert, so jung, ohne Mann, alleine mit drei kleinen Kindern. Viele Gegenstände nahm sie in die Hand und sagte: „Wir brauchen das, oder wie soll ich das Baby baden?” Letztendlich resignierte sie, sie packte nicht groß, es wäre ohnehin sinnlos. Drei kleine Kinder, den Kinderwagen, wie sollte da noch von ihr Gepäck geschleppt werden können. Sie hatte damit zu tun, die Kinder zusammen zu halten und ihre hungrigen und müden Quengeleien zu „tragen”.

Um Königsberg hatten schon heftigste Kämpfe stattgefunden.

Im 18 km entfernten Friedland standen die sowjetischen Truppen kurz vor der Stadt. Die Brücke über die Alle sollte gesprengt werden, um das Vordringen der russischen Truppen aufzuhalten. Das hätte bedeutet, dass die Bevölkerung mitten im Frontgeschehen geblieben wäre und nicht mehr aus der Stadt fliehen konnte. Als die Mutter mit den Kindern im Treck einer Massenbewegung von Flüchtenden die Alle-Brücke verlassen hatten, drehte sie sich noch einmal um. Sie standen auf einer Straße, die bergauf ging und alleeartig von großen Bäumen umrahmt war. Sie schauten hinunter in das Tal auf die Brücke und die Mutter sagte: „Gleich gibt es sie nicht mehr und wir werden nie mehr zurückkommen können.” Dieses Bild, die Straße mit den Allee-Bäumen, die Brücke, der Blick auf die Häuser von Friedland und die Worte der Mutter hatten sich bei Andrea so eingeprägt, dass sie 50 Jahre später mit ihrem Bruder eine Reise in die Vergangenheit machte und genau diese Stelle aufsuchte, um dieses Bild aus der Erinnerung wieder zu finden.

Sie fanden es und konnten beide jede Minute von damals nachvollziehen.

Reise in die Vergangenheit

Zu diesem Zeitpunkt, fast 50 Jahre später war Max ein Reiseleiter. Er hatte sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands als Existenzmöglichkeit ein kleines Reiseunternehmen aufgebaut und organisierte Reisen in die ehemaligen deutschen Gebiete, die nach dem Krieg für viele Menschen nicht mehr ihre Heimat sein durfte, jedenfalls für die Menschen, die dort einmal geflüchtet oder vertrieben worden sind, deren Heimat es bis zum Kriegsende war. Erst die politische Veränderung zwischen Ost und West ließ eine gewisse Reisefreiheit für bestimmte Gebiete zu, dazu gehörte Ostpreußen, Max und Andreas Heimat bis zu ihrer Flucht Ende 1944. Max sprach mehrere Sprachen und beherrschte geschickt alle landestypischen Bürokratien, die für eine Einreise in diese Gebiete oder Länder bewältigt werden mussten. Es gab viele Menschen in Deutschland, die in ihrem Herzen die Trauer über den Verlust und die Vertreibung aus ihrer Heimat durch die Kriegsfolgen nicht bewältigt hatten, die Sehnsucht und Hoffnung nie aufgaben. Sie nutzten nun die Möglichkeit, um noch einmal in ihrem Leben ihre Heimat zu sehen und ihre Erinnerungen aus der Zeit ihres Lebens vor dem Krieg zurück zu rufen. Nostalgiereisen nannten manche Menschen, die mit solchen Erinnerungen nicht belastet waren, diese Reisen. Wie wichtig aber diese Reisen für die Betroffenen zur Bewältigung ihres Lebenstraumas waren, konnten diese Spötter aus Mangel an Betroffenheit nicht nachempfinden. Für diese Reise hatten Max und Andrea keine weiteren Reisende mitgenommen. Es war ihre ganz persönliche Reise in die Erinnerung ihrer Kinderjahre. Sie wollten alleine sein mit ihrer Erinnerung, ihrer Betroffenheit, mit ihrer Sehnsucht und ihrer Trauer.

Max benutzte für diese Reise sein eigenes Auto. An den Grenzübergängen von Polen nach Russland war er durch seine häufigen Touren und mit seinen großzügigen Geschenken schon bekannt. Er hatte den Kofferraum seines Autos voller Geschenke gepackt. Er wusste, wie man eine dreitägige Wartezeit an der Grenze verkürzen konnte. Unerfahrene Reisende konnten bis zu drei Tage auf ihre Abfertigung an der Grenze warten, wenn sie Pech hatten, erst dann war die Einreise in das russische Land möglich. Max und Andrea wurden aus der Kolonne gewunken, Ausweise und Visa kontrolliert, bei der Überprüfung zollpflichtiger Mitbringsel wurden Geschenke ausgetauscht und die Schranken öffneten sich wenig später für eine ungehinderte Weiterfahrt. Max hatte schon oft die Möglichkeit genutzt, das Land seiner Vorfahren und seiner Geburt wieder zu sehen. So suchten sie alle Orte auf, in denen Tanten und Verwandte der Familie bis zur Flucht wohnten … Er kannte sich zwischen Berlin und Königsberg sehr gut aus, hatte sich fast jeden ehemals deutschen Ort angesehen, zu denen er noch einen Vergangenheitsbezug hatte. So brauchte er nichts zu suchen oder orientierungslos zusammenzufügen. Er konnte zielgenau Andrea überall hinführen. Er zeigte ihr auch ihren Geburtsort. Die Orte Ihrer Kindheit waren nun überwiegend russisches Land. Ihr Königsberg hieß nun Kaliningrad, ihr Friedland hieß nun Prawdjimsk.

Ein paar Kilometer weiter war Ostpreußen Polen zugeschlagen worden. Während die Russen allen Orten neue Namen gaben, es sollte nichts mehr an die deutsche Vergangenheit erinnern, hatte Polen die Ortsnamen belassen und nur polnisch umgeschrieben. So konnte man in Polen mit etwas Sprachverständnis die alten deutschen Ortsnamen ableiten.

Sie fuhren als erstes nach Friedland, dorthin, wo ihre letzten Kindheitstage in eine unwiederbringliche Vergangenheit gesteckt wurde.

Es schmerzte sie ungemein. Die Brücke über die Alle war wieder aufgebaut, aber längst nicht so schön, wie sie damals war. Sie sprachen darüber, was sie von damals noch in Erinnerung hatten. und suchten die Fragmente ihrer Vergangenheit. Max erinnerte sich an seine Schule, die er noch ein Jahr in Friedland besuchen konnte.

Sie stand unverändert und hatte auch noch ihren deutschen Namen auf einer eingemauerten Steinplatte am Vordereingang. „Agnes-Miegel-Schule”, benannt nach einer großen ostpreußischen Heimatdichterin. Die Kirche stand auch noch unverändert an ihrem Platz. Die Häuserreihe, in der Andrea und Max bis zur Flucht wohnten, muss im Kriegsgeschehen total zerstört worden sein. Max erinnerte sich noch sehr gut an Details. Sie war ähnlich wieder aufgebaut, nur etwas russisch. Der Bahnhof dieser kleinen Stadt befand sich noch am gleichen Standort, konnte jedoch auf Anhieb nicht als Bahnhof erkannt werden. Nur die Gleise und Weichen ließen hier einen Haltepunkt für Züge erkennen. Bretterverschläge, die Hütten oder Gebäude sein sollten, dienten als Bahnhofsgebäude. Es sah aus wie eine verlassene Unterkunft von Holzfällern oder Flößern. Der Bahnhof war noch in Betrieb.

Dann suchten sie die Stelle an der Alle, wo sie als Kinder mit der Mutter immer an den heißen Sommertagen baden gingen. Auch das konnten sie wieder finden. Max zeigte Andrea die Stelle am Ufer der Alle wo die Mutter die Decke ausgebreitet hatte, zum Ausruhen und Erwärmen in der Sonne. Er zeigte Andrea die Stelle von der Wehrmauer der Alle, wo er seinen ersten Kopfsprung in das Wasser riskierte. Das große Wehr mit dem Kraftwerk dazu stand noch wie vor 50 Jahren. Jetzt tummelten sich russische Kinder fröhlich und unbefangen genauso wie damals Max mit seinen Freunden, während die Mutter mit der kleineren Schwester badete, oder auf der Decke lag. Ihre Kindheit spiegelte sich wieder. Trauer, Verlustschmerz, Gefühle, die man schwer formulieren kann, ergriffen diese nun schon altgewordenen Geschwister.

Sechs Kilometer vor Friedland suchten Max und Andrea das Gut Großwohnsdorf, auf dem ihre Großeltern gelebt hatten, hier wurde er geboren. Hier hatte Max noch sehr ergreifende Erinnerungen. Er wurde bis zu seinem 6. Lebensjahr von Großmutter Anna dort versorgt und behütet. Max liefen die Tränen über das Gesicht, als er die Gutsarbeiterhäuser suchte. Er wollte Andrea das Haus von Oma und Opa zeigen, fand es aber nicht. „Hier sieh mal her, hier bin ich mit Opa immer in den Wald gegangen und hier muss das Gebäude gestanden haben, wo die Pferde darin waren.” Das Herrenhaus vom Gut stand noch, jedoch sehr beschädigt und verrottet. Eine Frau kam auf sie zu. Sie war Russin und sprach kein Deutsch. Max sprach dafür perfekt Russisch, so erlitt das Gespräch keine Verständigungsprobleme. Max erklärte ihr den Grund für seinen und Andreas Besuch in der Gegend. Sie war sehr freundlich und zugetan, als sie die Geschichte dieses Besuches erfuhr. Sie erzähle ihre Geschichte, die nicht weniger ergreifend war. als die von Max und Andrea. Sie berichtete, dass sie im Winter 1947 mit vielen anderen Personen aus der Ukraine auf Lastwagen verladen wurden. Sie wurden bei eisiger Kälte durch ganz Russland bis nach Friedland gekarrt. Dort wurde der Laster durch Schrägstellung der Ladefläche entladen. Wer nicht rechtzeitig gesprungen war, wurde abgeschüttet wie Kies oder Sand, danach fuhr der Laster weg. Die Menschen blieben schutzlos in der Kälte ohne Nahrung und Wasser zurück. Sie suchten in den zerbombten Trümmern dieses Gutes, konnten aber nicht einen einzigen Raum finden, der ihnen Schutz geboten hätte. Sie gruben sich Erdhöhlen aus und verbrachten den Winter in diesen Höhlen. Einmal in der Woche sei ein Laster vorbeigekommen, er schmiss zwei Säcke Korn von der Ladefläche in den Wegrand und fuhr kommentarlos weiter. Nach dem Winter hätten die Überlebenden Männer und Frauen dann aus den Resten der zertrümmerten Gebäude Buden zusammengebaut, in die sie einziehen konnten. Im Laufe der Jahre hätten sie diese Buden immer besser ausgebaut, sodass sie nun hier wohnen konnten. Die Russin war sehr ergriffen, sie weinte während der Schilderung ihrer Geschichte. Wenn sie den Mund aufmachte, sah man nur schwarze Stümpfe, die wohl irgendwann als Zähne gewachsen waren. Nur ihre Lebensgeschichte konnte ihr abstoßendes Äußeres versöhnen. Sie war Andrea und Max sehr zugetan, denn sie vereinte ihre tragische Vertreibung aus ihrer Heimat. Alle hatten bitter gelitten, die Sieger und der Besiegte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Deutschland zu kommen vertraute sie Max an.

 

Um Andreas Geburtsort zu sehen, fuhren sie in eine Einöde. Links der Strasse erst ein paar tausend Quadratmeter Wiese, dann ein Wäldchen, rechts der Strasse eine Anhöhe, öde , leer, ohne Baum, ohne Strauch, es verbreitete die Atmosphäre eines mit tragischer Vergangenheit beladenen Stück Erde. Gleich zu Beginn dieser Anhöhe befand sich eine Gruppe uralter Obstbäume und eine Trauerweide hinter den Obstbäumen. Auf einem Hang hing eingebettet in Gestrüpp ein etwa 20 Meter langer Stafettenzaun, er war abgefault, aber das Gestrüpp konnte ihn festhalten. „Das sind die Reste deines Geburtsortes Schwönau”, sagte Max. Nun verstand Andrea warum ihr auf allen Standesämtern in Deutschland gesagt wurde, das es ihren Geburtsort gar nicht gäbe.

Hier hatte der brutalste Teil des Kampfes um Königsberg stattgefunden. Hier war alles dem Erdboden gleich gemacht, der Ort Schwönau und zwei weitere Orte. Die Trümmer dieser Orte und die Trümmer von Friedland und die der zerstörten Dörfer und Städte der Umgebung bildeten hier die Anhöhe und den Berg, der vorher nie da war.

Die Trauerweide war das letzte Zeichen eines wunderschönen Park mit einem Teich, auf dem die Kinder damals im Winter Schlittschuh liefen.

Max und Andrea liefen zur Anhöhe, von dort konnten sie besser auf das Gelände herab sehen. „Siehst du dort die etwas hellen, gerade verlaufenden Linien im Wiesengrund gegenüber vor dem Wäldchen?”, sagte Max. Daraufhingewiesen, konnte Andrea auch das linear verlaufende große Rechteck erkennen. Auch fast in einer Linie wachsend, kleine Linguistenzweige, ließen sich deutlich erkennen. Sie kennzeichneten ein etwa 20.000 Quadratmeter großes Areal. Es war einst ein großes Gut mit Herrenhaus, Stallungen, Wohnhäuser und Vorratsgebäuden. Die linear verlaufenden Markierungen waren die Fundamente der Mauer um das Gut. Sie verursachten einen geringeren Wuchs des Grases. Die Linguistenzweige waren hartnäckige Wurzelausschläge aus der Parkanlage vor dem Gut. Max zeigte mit der Hand auf die Stelle am Waldrand, wo das Haus gestanden haben muss, indem Andrea geboren wurde. Ein Bachverlauf gab ihm die Orientierung. Für kurze Zeit hatten beide das Gefühl doch eine Vergangenheit gehabt zu haben, keine verlorenen Kinder zu sein.

Die Geschwister waren dankbar, diese 50 Jahre der Vergangenheit mit der Gegenwart begegnen zu dürfen, das war ergreifend. Sie dachten an die Flucht, wie sie diese Jahre in der Erinnerung hatten. Hier am Ort des Geschehens war alles wieder in die Gegenwart gerückt. Nichts war vergessen, alles war in der Erinnerung geblieben, als sei es gestern erst gewesen, nach fünfzig Jahren erlebten sie ihre Flucht aus der Heimat wie in die Zeit zurück versetzt. Beide ergriff eine tiefe Sehnsucht nach diesem Land. Sie konnten die Verbundenheit mit diesem Platz der Erde deutlich spüren. War es Einbildung? Hier hatten sie den ersten Atemzug ihres Lebens geatmet. Alle Elemente der Natur hatten sie hier geeicht und lebensfähig gemacht. Waren das die Wurzeln ihres Lebens? Stecken sie noch in dieser Erde?

Für einen Moment fühlten sie sich zu Hause, nie spürten sie das so deutlich wie in diesem Moment. Nie hatte ihnen der Aufenthalt an all den anderen Plätzen ihres Lebens dieses tiefe Gefühl von Heimat oder zu Hause sein gegeben. Sie wohnten irgendwo, wo sie sich ihr Leben eingerichtet hatten, aber zu Hause waren sie nie.

Viele Tierarten kehren an den Ort ihrer Geburt zurück. Was stellt solche unsichtbaren Bande her?