Saskia

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© dorise-Verlag 2009

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Umschlaggestaltung, Layout und Typografie:

Michael Olm

Druck: docupoint Magdeburg

ISBN: 978-3-942401-27-2

Inge Nedwed

Saskia


1. Kapitel

Aus Westen kommend hat der Sturm leichtes Spiel. Kilometerweit fegt er über freies Feld. Reißt alles mit, was ihm nicht standhalten kann, bis er am Dorfrand auf die ersten Häuser trifft. Erbaut vor über hundert Jahren, sie kennen seine Kraft, leisten erbittert Widerstand. Bedrohlich knarrt es im alten Dachgebälk, Firstziegel klammern mit ganzer Kraft, um den Halt nicht zu verlieren. Die Mühlgasse trifft es besonders schlimm. Durch sie hindurch findet der Sturm einen neuen Weg, bläst ab wie ein Ventil, welches gerade geöffnet wird. Die Bewohner der Mühlgasse haben sich daran gewöhnt. Sturmschäden zahlt die Versicherung. Nur der Unrat bleibt wegzukehren, den der Sturm nach seinem Wüten jedes Mal hinterlässt.

Merle steht im warmen Wohnzimmer am Fenster und sieht den Blättern zu, die durch die Gasse tanzen. Der Sturm haucht ihnen neues Leben ein. Sie steigen auf, wirbeln und fallen nach seinem Takt. Ein Tanz folgt dem anderen. Regen peitscht dazwischen. In der Abenddämmerung bewegen sich die Äste der Kastanie beängstigend auf Merle zu. Eine Kastanie im Vorgarten einer Gasse, das ist schon etwas Besonderes, schmückt sie doch sonst den Straßenrand großer Alleen. Merle lässt die Rollläden herab. Endlich Wochenende. Das miese Wetter kann ihr nichts mehr anhaben. Der Einkauf ist erledigt. Gleich vom Büro aus ist sie heute in den Supermarkt gefahren. Ungewöhnlich leer war ihr Einkaufswagen. Omas Zettel war schnell abgearbeitet, für sich brauchte Merle nicht viel. Uli muss am Wochenende arbeiten und Tobi ist nach der Schule zu Matti gefahren. Ein Wochenende für mich allein, wie lang hat es dies schon nicht mehr gegeben. Merle fällt in den Sessel, schließt die Augen, streckt Arme und Beine von sich.

Riechst du die Schneeluft, fragte sie Uli am Morgen. Ich rieche nur Arbeit, wird spät werden heute Abend, bin bestimmt nicht vor um acht zu Hause, war seine Antwort.

Die Kastanie, ihre Äste sind kahl. Merle versinkt in Gedanken. Da gibt es das Bild mit den Großeltern, als Hochzeitspaar stehen sie vor dem Baum. Und es gibt das Bild mit Mutter. An den dicken Stamm gelehnt hält sie ihre zwei Mädchen im Arm. Die Kastanie gehört zu uns, jedes Familienmitglied kennt diesen Baum, schon seit Urzeiten, sagte Mutter immer. Ihr müsst aufpassen, wenn der Herbst der Kastanie sein buntes Kleid überzieht und die ersten Blätter fallen, dann hat unsere Saskia Geburtstag. Und wenn die Kastanie ihr Blätterkleid dem Wind geschenkt hat, die ersten Schneeflocken vom Himmel tanzen und den Winter anmelden, dann hat unsere Merle Geburtstag.

Wut steigt in Merle auf. Jedes Jahr erinnert sie der Baum daran. Saskias Geburtstag hat sie nie vergessen. Aber ihr gratulieren, das kann sie nicht. Die Telefonnummer ist noch immer in der Anrufliste gespeichert. Ein Knopfdruck würde genügen und sie hätte die Schwester am Telefon. Merle überlegt, zwei Jahre, nein, drei Jahre ist es her.

Alles Gute zum Geburtstag, sagte sie am Telefon. Saskia verstand sie nicht. Im Hintergrund vernahm Merle Stimmen und laute Musik.

Ich bin es, deine Schwester Merle, verstehst du mich? Du feierst Geburtstagsparty?

Das schrille Geräusch einer Tröte schmerzte Merle im Ohr. Sie aktivierte den Lautsprecher und legte den Hörer auf den Tisch. Saskias Stimme übertönte die anderen, sie bat ihre Gäste um Ruhe. Ohne Erfolg, der Hörer vibrierte. Meine Freunde sind hier, die jedes Jahr kommen, hörte Merle sie sagen.

Na dann, viel Spaß, sagte Merle und beendete das Gespräch. Ihre Freunde, die jedes Jahr kommen.

Saskias Worte klangen lange nach. Merles Brustkorb bebte, ihr Herz klopfte, als wollte es sich überschlagen. Ihr Puls raste, pochte in der Halsschlagader und drohte, sie zu sprengen. Ein Zustand aus Wut und Ohnmacht, der Kopf ist leer, unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Dieses Gefühl der Enge überkommt Merle oft, wenn sie sich verletzt fühlt. Ihre Freunde! Und die Familie? Für sie gab es keine Einladung. Noch nicht einmal für Matti, ihren eigenen Sohn.

Und Uli war vielleicht sauer.

Wir haben Matti bei uns aufgenommen und deine Schwester feiert Party. Fällt der nichts Besseres ein, was ist das für eine Mutter? Die braucht sich hier nicht mehr blicken zu lassen, kalt wie Hundeschnauze, schimpfte er.

Es ist meine Schwester, erwiderte Merle leise.

Was ist nur aus Saskia geworden, warum ist sie so? Merle erhebt sich schwerfällig aus dem Sessel. Wie oft stellt sie sich diese Frage, Ablenkung, nur das hilft ihr in diesen Momenten. In der Küche sortiert sie den Einkauf. Zucker, Mehl, Milch, Brot und Butter für Oma. Oma versorgt sich selbst, hat ihre eigene Wohnung im Erdgeschoss. Darüber ist Merle froh, so kommt sich die Familie nicht ins Gehege, jeder hat seinen Freiraum. Oma ist trotz ihres hohen Alters pflegeleicht, nur ihre verknöcherten Ansichten sorgen oft für Streit. Merle versucht dann zu schlichten. Lasst Oma in Ruhe, sie ist hier die Chefin im Haus. Einen alten Menschen kann man nicht mehr ändern, festgefahrene Bahnen, erklärt sie Tobi, wenn der wütend die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zuknallt.

Aus der Speisekammer holt Merle Omas Korb. Hässlich ist er. An mehreren Stellen hat sich das Geflecht aufgelöst. Oma hat den alten Korb akribisch mit Bindfaden geflickt, wegwerfen kann sie nichts. Einen neuen will sie nicht. Mein Lebensspender, nennt Oma den Korb scherzhaft. Ohne ihn würde ich verhungern. Merle nimmt den Korb, füllt ihn mit dem Eingekauften und bringt ihn in Omas Küche. Dann öffnet sie vorsichtig Omas Wohnstubentür. Wie gewöhnlich sitzt Oma um diese Zeit vor dem Fernseher. Merle muss ihn leiser stellen, um sie zu verstehen.

Du bist zu Hause, ich habe dich gar nicht gehört. Ein fürchterliches Wetter ist das heute.

Merle drückt Oma zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Oma möchte die Begrüßung erwidern, doch Merle wendet sich ab und täuscht ein Niesen vor.

In Omas Taschen der Kittelschürze ist immer ein sauberes Taschentuch. Das weiß Merle, als Kind suchte sie schon danach. Eigentlich suchte sie damals weniger nach einem Taschentuch, sondern viel mehr nach den interessanten Dingen. Meine heiligen Schatzkammern, so nennt Oma heute noch die vollen Taschen. Alles, was irgendwie noch zu gebrauchen ist, verschwindet darin.

Oma schöpft keinen Verdacht, als Merles Hände in die Taschen gleiten.

Ein sauberes Taschentuch, ihr werdet es nie lernen. Oma schüttelt den Kopf.

Geschickt ertasten Merles Finger den Inhalt, sie muss das kleine Ding hier finden. Sie zieht das Taschentuch heraus und putzt sich die Nase. Der Trick hat funktioniert.

Danke, Oma. Merle triumphiert, sie öffnet ihre Hand und hält Oma das in den Taschen gefundene Hörgerät unter die Augen.

Wie wäre es denn hiermit?

Hilfe, schreit Oma. Dieses Thema kann sie nicht leiden, wenn es aufkommt, ist sie wirklich taub.

Lass mich mit diesen Ersatzteilen in Frieden, reicht schon, wenn ich meine Brille suchen muss.

Ich habe dir deinen Lebensspender in die Küche gestellt, es ist alles drin, was du aufgeschrieben hast. Wir Frauen werden am Wochenende allein sein.

Oma erzählt Merle von der Quizsendung, die gerade im Fernsehen läuft.

Ich habe die richtige Antwort gleich gewusst, Allgemeinbildung, die Jugend weiß doch heute gar nichts mehr.

Ach, Oma, stöhnt Merle. Ich könnte morgen deine Fenster putzen.

Bei dem Wetter? Auf dem Friedhof muss das Grab abgedeckt werden.

Ich habe noch keinen Grabschmuck, Uli wollte sich um Reisig kümmern, nächstes Wochenende, verspricht Merle.

Oma streichelt Merles Hand, ich weiß ja, dass du daran denkst. Ich hätte dich nicht erinnern sollen.

Der Schmerz sitzt auch nach vielen Jahren noch tief. Schweigend sehen sich die Frauen an. Die eine vermisst die Tochter, die andere die Mutter.

Meine kleine Karla war ein liebes Mädchen. Im Krieg ist sie geboren, in der schlechten Zeit. Opa war in Russland. Ich wünsche mir einen Karl, schrieb er von der Front. Aus Karl wurde Karla, er hat seine Tochter nie gesehen. Merle kennt die alten Geschichten, trotzdem hört sie Oma immer wieder gern zu.

Du hast viel von deinem Opa, Familie muss zusammenhalten, sagt Oma, als Merle sich verabschiedet und eine gute Nacht wünscht.

Merle hat es sich auf der Couch bequem gemacht. Familie, Mutters Grab, die ersten Jahre haben sie und Saskia es zusammen gepflegt. Für die Bepflanzung hatte Saskia ausgefallene Ideen.

Stiefmütterchen kommen mir nicht aufs Grab, die hat doch jeder. Unsere Mutter würde sich darüber nicht freuen.

An diesem Ort fühlten sich die Schwestern verbunden. Sie sprachen über ihre Kindheit, verrieten sich ihre Gefühle, teilten Sorgen und Ängste. An diesem Ort gab es keine Tabus, selbst über ihre Männer redeten sie. Mutter hört uns zu, unsere Gespräche werden ihr gefallen, sie wird immer bei uns sein, darin waren sich die beiden sicher.

Hat Saskia das alles vergessen? Dass sie mit Oma nicht klarkam, kann Merle verstehen, aber warum hat sie ihren Sohn im Stich gelassen? Kinder verlassen ihre Eltern, das ist normal, sie müssen sich abnabeln, wenn sie reif dafür sind. Aber Eltern verlassen doch nicht ihre Kinder! In den Nachrichten sucht Merle Ablenkung. Unwetterwarnungen, orkanartige Böen mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 120 Stundenkilometern, Schneefälle in den Kammlagen. Keinen Hund jagt man bei diesem Wetter auf die Straße. Auf der Treppe poltert es. Uli, endlich. Er schimpft, alles pitschnass.

 

Merle nimmt ihm die Sachen ab. Ich koche dir einen Tee.

Du könntest mir morgen eine Thermoskanne voll mitgegeben. Uli zieht sich die Schuhe aus. Ich werde wahrscheinlich auch nächstes Wochenende arbeiten müssen.

Was, schon wieder?

Das Wetter, wir kommen auf der Baustelle einfach nicht voran.

In der Küche bereitet Merle für Uli das Abendbrot. Uli sitzt am Tisch und überfliegt die Zeitung. Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Krankenkassenbeitrags, ich will mich heute nicht mehr aufregen. Er legt die Zeitung zur Seite. Wie kommt Tobi morgen zurück, fragt er.

Darum brauchen wir uns nicht zu kümmern, er will den Bus nehmen.

Uli runzelt die Stirn. Hoffentlich denkt Tobi an die Schule. Ich sehe ihn nie lernen. Die Abiturprüfungen sind nicht mehr weit.

Tobi macht das schon. Lass den Kindern ihren Spaß. Ich freue mich, dass sie sich so gut verstehen.

Und wie läuft es bei Matti?

Erstaunlich gut, jetzt, wo er seine eigene Wohnung hat. Tobi will ihm helfen, ein Hochbett zu bauen. Er hat sich aus deiner Werkstatt Werkzeug mitgenommen.

Hoffentlich bringt er es wieder zurück!

Ich habe heute mit Mattis Ausbilder gesprochen, erzählt Merle. Ihre Augen strahlen. Kein unentschuldigtes Fehlen, immer pünktlich. Sie haben ihn zum Klassensprecher gewählt. Er kann über Matti nichts Negatives berichten.

Na, ich weiß nicht. Koch, Gemüse putzen, im Kochtopf rumrühren, das ist doch nichts für den Jungen, in dem steckt doch mehr.

Fang nicht wieder an, beschwert sich Merle. Der Junge muss Freude an seinem Beruf haben. Du hast doch auch klein angefangen. Und wenn er seine Lehre schafft, ist das schon ein großer Erfolg. Danach kann er sich immer noch entscheiden, vielleicht für die Hotelfachschule. Im Moment träumt er von seiner eigenen Gaststätte, man darf ihm die Träume nicht nehmen.

Merle sucht im Küchenschrank nach der Thermoskanne. Uli gähnt, ich mach mich gleich ins Bett, bin total geschafft.

Aufgestützt auf seine großen Hände, die auf der Tischplatte ruhen, erhebt er sich. Der Tisch knarrt. Merle kann nicht hinsehen, der arme Tisch, wieder einmal hält er der Belastung stand. Merle spürt Ulis Hände auf ihren Wangen.

Bis morgen früh, sagt er. Stellst du mir den Wecker auf 5.00 Uhr?

Nur wenn ich den Weckdienst bezahlt bekomme. Fordernd zeigt Merle mit dem Zeigefinger auf ihre Wange. Uli drückt ihr einen Kuss auf die vorgegebene Stelle. Schlaf gut, sagt Merle und streichelt seine Hände. Sie sind rau, die Haut ist aufgesprungen. Die kalte Jahreszeit verschont auch sie nicht. Merle liebt seine Hände. Sie sind harte Arbeit und festes Zupacken gewöhnt und können trotzdem zärtlich sein. Mit verächtlichem Blick straft sie die Hände mancher Kollegen im Büro. Lange, dünne Finger. Lange Nägel, sorgfältig mit Feile in Form gebracht. Hände mit leichenblasser Haut, durchzogen von hervortretenden dunkelblauen Blutbahnen. Bleistifthalter hat Merle diese Hände getauft. Solche auf ihren Wangen? Merle schüttelt sich. Sie räumt das herumstehende Geschirr in die Spülmaschine und verlässt die Küche.

Im Wohnzimmer liegt Merle wieder auf der Couch. Die Fernbedienung gehört heute ihr. Sie drückt die Kanäle durch. Da habe ich freie Auswahl, brauche mir nicht Ulis Fußball anzusehen, und dann kommt nur Nonsens. Auf Omas Quizsendungen hat sie auch keine Lust. Als sie in der Fernsehzeitung blättert, klingelt das Telefon. Um diese Zeit, das können nur die Kinder sein. Merle nimmt den Hörer ab. Eine unbekannte Frauenstimme meldet sich.

Guten Abend, entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Meyer, ich bin die Nachbarin Ihrer Schwester.

Merle ist erschrocken, hat sie richtig verstanden, Saskias Nachbarin?

Die Frau ist aufgeregt. Ihr Redeschwall lässt Merles zögerndes Fragen ersticken. Merle versteht nur Rettungsdienst, Katholisches Krankenhaus. Hund und Wohnungsschlüssel sind bei ihr.

Katholisches Krankenhaus? Gegen dieses Krankenhaus ist Merle allergisch. Mutter haben sie dort verloren, krampfhaft hält sie den Hörer in der Hand. Danke, sagt sie. Die Frau am anderen Ende hat lange aufgelegt. Merle geht zurück ins Wohnzimmer. Ihre Hände zittern. Was soll das, ist bestimmt nur wieder so ein Trick von Saskia. Mit wem kann ich sprechen? Uli munter machen, Matti anrufen? Oma? Alles sinnlos! Merle versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Und warum soll sie sich um alles kümmern, hat Saskia ihr nicht schon genug aufgeladen?

Bleib ruhig, denkt Merle. Morgen Vormittag kann ich ins Krankenhaus fahren, sehen, was los ist, und dann entscheiden.

Merle liegt im Bett. Sie kann nicht einschlafen. Der Sturm wütet unverändert. Er misst seine Kraft an der Giebelwand, hinter der das Schlafzimmer liegt. Die Wand bebt, hält aus und hält aus. Ein dumpfes Krachen. Merle lauscht, weiter weg, nicht vor unserem Haus. Ein kaputtes Dach, das fehlte jetzt noch! Das Licht der Straßenlaterne scheint ins Schlafzimmer. Uli hat die Rollläden nicht geschlossen. Merle hat keine Lust, noch einmal aufzustehen. Der Lichtschein streift Ulis Gesicht. Er schläft fest. Sein Atem ist gleichmäßig, ab und zu ein kleiner Schnaufer. Zum Glück schnarcht er nicht. Soll sie ihm morgen früh von dem Anruf erzählen? Er wird sich aufregen, das macht er immer, wenn es um Saskia geht. Vielleicht ist mit Saskia wirklich etwas Ernstes, erst jetzt werden ihr die aufgeregten Worte der Nachbarin bewusst. Warum kümmert sich Saskias Jan nicht?

Merle bekommt eine Schwester

Merle ist ein Schulkind und besucht die vierte Klasse. Nach Schulschluss hat sie es nie eilig. Sie geht gern in die Schule und nach dem Unterricht bummelt sie noch viel lieber durch das Dorf. Einen Hort, wie ihn die Kinder in der Stadt besuchen, gibt es nicht. Merle braucht auch keinen, ihr ist es nie langweilig. Sie verbringt die Nachmittage bei Mutter im Kindergarten oder bei Oma in der Poststelle. Wohin sie geht, das entscheidet sie erst auf dem Weg. Da gibt es immer etwas zu entdecken. Die Entenmutter schwimmt mit ihren Küken im Dorfteich. Oma darf nicht wissen, dass sie dort ihr Frühstücksbrot verfüttert. Im kleinen Laden, gleich gegenüber der Schule, kann man bei dem netten Verkäufer Bonbons erhaschen. Und seit diesem Jahr gibt es den Spielplatz mit Wippe und Schaukel auf dem Anger. Meistens zieht Merle die Poststelle vor. Im Kindergarten muss sie den Kleinen aus Mutters Gruppe Lieder vorsingen. Mutter begleitet sie auf der Gitarre und erklärt den angehenden Schulanfängern, dass man dies alles, wenn man fleißig ist, in der Schule lernt. Merle mag das nicht, Mutter muss sie jedes Mal zum Singen überreden. Bei Oma in der Poststelle ist es viel interessanter. Briefe, Karten, Päckchen und Pakete aus der ganzen Welt kommen hier an. Oma sortiert und stellt zu. Am Schalter nimmt sie Geld entgegen oder zahlt aus. Der große Poststempel ist bei allen Arbeiten dabei. Es kracht, wenn Oma ausholt und mit Schwung den Stempel haargenau ins Ziel trifft. Auf den Namen Post-Martha ist Oma stolz. Merle auch, jeder kennt Oma im Dorf. Gefallen hat Merle an den bunten Briefmarken gefunden. Zum Geburtstag wünschte sie sich ein Briefmarkenalbum. Ausländische Briefmarken sammelt sie am liebsten. Aus Mutters Bücherschrank nahm sie sich den Atlas, um nachzusehen, wo sich diese fernen Länder befinden und wie ihre Hauptstädte heißen. Der Atlas ist nie wieder in den Bücherschrank zurückgekehrt, er liegt neben Merles Briefmarkensammlung in ihrem Zimmer. Merle träumt sich gern in die Welt der kleinen bunten Bilder. Eine Briefmarke ist für sie besonders wertvoll. Im Album steckt sie ganz allein in der Mitte auf der ersten Seite. Ein Ehrenplatz für die Marke aus Vietnam. Menschen mit Strohhüten, die wie riesige Schüsseln aussehen, arbeiten auf den Reisfeldern. Kinder sitzen auf den Rücken der großen Wasserbüffel. In den Dörfern stehen kleine Hütten und es gibt dort keinen Winter. Dies hat Merle in einem Kinderbuch gelesen. Im Fernsehen sieht sie dazu schreckliche Bilder. Aus einem Hubschrauber werden diese Menschen mit Maschinengewehren beschossen. Krieg, in diesem schönen Land mit seinen freundlichen Menschen. Warum? Merle versteht es nicht. Aber sie weiß genau, wer gut und böse ist. In ihren Nachmittagsträumen kämpft Merle mit dem Vietkong gegen die Amerikaner. In einer Rakete umkreist sie mit Juri Gagarin die Erde. In der weiten Steppe der Mongolei lebt sie zusammen mit Hirten in Jurten und ist die wildeste Reiterin. Sie träumt, bis Oma sie ermahnt und an die Hausaufgaben erinnert.

Doch heute ist alles anders. Merle hat keine Zeit. Das erzählt sie jedem im Dorf.

Wir haben ein Baby und das kommt heute mit Mutter nach Hause. Mutter und meine kleine Schwester Saskia. Die letzte Schulstunde will einfach nicht zu Ende gehen, obwohl Heimatkunde Merles Lieblingsfach ist. Unruhig rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und her. Endlich, das ersehnte Klingelzeichen erlöst von der Qual des Wartens. Merle ist die Erste, die aus dem Klassenzimmer stürmt. Du hast deinen Turnbeutel vergessen, rufen ihr die Freundinnen nach. Merle hört sie nicht. Sie nimmt drei Treppenstufen auf einmal, durchquert den Schulhof schneller als beim 60-Meter-Lauf. Dabei ist sie im Sportunterricht schon immer die Schnellste. Im Ranzen klappert der Farbkasten, ihre Zöpfe wippen im Wind. Ich habe eine Schwester, singt sie immer wieder und springt über den Bach, der sich mitten durch das Dorf schlängelt. Das erspart ihr den Weg bis zur Brücke. Keine Enten im Teich, keine Poststelle, Oma hat Urlaub genommen. Nur schnell nach Hause. Sie biegt in die Mühlgasse ein. Buntgefärbte Kastanienblätter wehen ihr entgegen, sie verkünden, Mutter und Saskia sind nicht mehr weit. Oma steht vor dem Haus und nimmt sie in Empfang. Du musst leise sein, Mutter und das Baby schlafen.

Kann ich das Baby sehen, fragt Merle aufgeregt.

Oma führt sie ins Haus. Langsam, mein Kind, das Baby läuft nicht weg.

Im Hausflur wirft Merle den Ranzen in die Ecke. Ihre Jacke lässt sie im Gehen fallen. Mutter liegt in Omas Stube auf dem Sofa, das Babykörbchen steht neben ihr.

Oma hat gesagt, du schläfst.

Komm zu mir, meine Merle, wie kann ich schlafen, wenn mein großes Mädchen aus der Schule kommt.

Oma nimmt das Baby aus dem Körbchen und legt es Mutter in den Arm.

Das ist dein Schwesterchen, Mutter hält es hoch, damit Merle es betrachten kann. Merle starrt die Schwester an, so einen kleinen Menschen hat sie noch nie gesehen.

Saskia hat ja gar keine Haare.

Als du geboren wurdest, hattest du auch keine. Oma lacht.

Merle berührt die kleine Hand. Meine Schwester ist ja nicht größer als meine Babypuppe.

Beim Stillen und beim Wickeln muss Merle dabei sein. Immer wieder sieht sie in das Körbchen. Ich habe eine Schwester. Wie schön!

Am Abend kriecht Merle zur Mutter ins Bett. Die Mutter streicht ihr übers Haar.

Ist Oma wieder lieb zu dir, fragt Merle.

Wie kommst du denn auf so etwas? Oma ist immer lieb zu mir.

Aber sie hat doch mit dir geschimpft, sie wollte unser Baby nicht.

Du bist mein großes Mädchen, aber das verstehst du noch nicht.

Nach einer Weile fragt Merle, weil wir keinen Vati haben?

Schlaf jetzt, wenn du älter bist, erkläre ich dir das.

An Mutter gekuschelt ist Merle eingeschlafen. Sie hat einen seltsamen Traum. Ein Mann steht im Vorgarten unter der Kastanie und ruft nach Mutter. Merle hatte den Mann schon einmal gesehen. Mutter fuhr mit ihr in die Stadt zum Einkaufen. Sie standen in einer Telefonzelle. Hallo, Arno, treffen wir uns in unserem Café, sprach Mutter in den Telefonhörer. Mutter war anders als sonst, nervös suchte sie in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld. Merle reichte ihr die Groschen zu. Ich bin in zehn Minuten dort, bis gleich, hörte sie die Mutter sagen. Komm schnell Merle, wir müssen uns beeilen. Wir wollen doch einkaufen, murrte Merle.

Das machen wir auch.

Im Café kam ein Mann an ihren Tisch. Er gab Mutter einen Kuss. Merle sah ihn mit großen Augen an.

Das ist Onkel Arno, stellte ihn Mutter vor.

 

Merle gefiel der Mann nicht. Bockig sagte sie ihm guten Tag.

Mutter und er unterhielten sich, Merle verstand nicht viel, nur dass sie über eine Hochzeit sprachen. Merle verschüttete den Saft, der vor ihr auf dem Tisch stand. Der Saft tropfte auf Arnos Hose. Der schaute sie böse an. Mutter entschuldigte sich und versuchte, mit ihrem Taschentuch den Schaden zu begrenzen. Merle war froh, als der Mann sich verabschiedete.

Mutter redete mit Merle, von dem Treffen erzählen wir Oma nichts. Das bleibt unser Geheimnis, versprichst du mir das. Danach kaufte Mutter ihr die wunderschöne Babypuppe.

Der Mann unter der Kastanie ruft immer lauter. Merle steht in ihrem Zimmer am Fenster. Keiner weiß, dass sie alles beobachten kann. Oma kommt mit dem Besen aus dem Haus. Verschwinde hier, du Heiratsschwindler, ins Gefängnis gehörst du Mistkerl. Meiner Tochter ein Kind andrehen, hat sie es nicht schon schwer genug.

Plötzlich sieht Merle Vater vom Himmel herabschweben. Er setzt sich auf einen Ast der Kastanie. Das Mondlicht scheint in sein Gesicht. Merle kann sein Lächeln erkennen.

Vati, du bist wieder da. Ich habe gewusst, du kommst zurück.

Ja, mein Engelchen, ich bin immer bei dir. Ich mag den Arno nicht.

Hab keine Angst, er wird nicht wiederkommen, ich beschütze euch.

Weißt du, dass wir ein Baby haben? Vater antwortet nicht mehr.

Merle wird munter. Mutter, wo bist du? Sie läuft zum Fenster. Der Ast ist leer, es sitzt kein Vater in der Kastanie. Merle weint. Sie tastet sich durch den dunklen Flur, in einer Ecke sieht sie Arno stehen, sie schreit. Die Küchentür steht offen, in der Küche brennt Licht. Mutter sitzt auf einem Stuhl und hat Saskia an der Brust. Was ist mit dir Merle, fragt sie besorgt.

Kommt Vati wirklich nicht zurück?