Am Himmelreich ist die Hölle los

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Ilka Silbermann

Am Himmelreich

ist die Hölle los

Ostfriesland Roman

Für meinen Mann und meine Mutter,

meine ersten Zuhörer

und in Gedenken an meinen Vater

„Ja, die Wohnung ist noch frei!“ Sabrina antwortete ohne zu zögern auf die Frage der beiden Männer an ihrer Haustür.

Sie konnte es sich nicht leisten, Feriengäste abzuweisen. Obwohl ihr Bauch gerade etwas anderes zu raten schien. Blanke Vorurteile! wies Sabrina ihn lautlos zurecht.

„Dann nehmen wir sie“, sprach der Ältere.

Die junge Frau schätzte ihn auf Anfang vierzig. Groß, stämmig und sehr muskulös, wie sie an dem gespannten Stoff der Baumwolljacke überdeutlich sehen konnte. Über der Sonnenbrille, die den Ausdruck seiner Augen verdeckte, ging die hohe Stirn in eine geschorene Glatze über. So entsprach er dem klassischen Bild eines Vorurteils, dazu der harte osteuropäische Akzent.

„Gut“, entgegnete sie mechanisch, noch immer mit mulmigem Gefühl. Dass Orko, ihr Rottweiler, in der Küche ohne Unterlass bellte, machte die Sache nicht besser.

„Augenblick bitte, ich hole nur eben den Schlüssel.“ Sie wandte sich ab, lehnte aber noch die Haustür an, so dass den Männern der Einblick verborgen blieb. Instinktiv versuchte sie den Aufbewahrungsort der Schlüssel zu den insgesamt sechs Ferienwohnungen nicht preiszugeben.

Gleich darauf stand sie wieder vor den Männern und zog die Haustür zu, während Orko drinnen die Küche auseinanderzunehmen schien. Doch darum würde sie sich später kümmern müssen.

„Hier entlang“, wies sie die Männer an, die ihr folgten, als sie um das rote Backsteingebäude herumschritt.

Wie in Ostfriesland häufig anzutreffen, waren auch bei diesem ehemaligen Bauernhaus die früheren Stallungen und die Scheune umgebaut worden und dienten nun als Ferienwohnungen.

„Die Wohnung kostet nun in der Vorsaison …“

„Spielt keine Rolle“, unterbrach der Ältere sie fast unwirsch.

Doch vielleicht klang es auch nur in ihren Ohren so, weil der Akzent und seine Stimmlage abweisend auf sie wirkten. Sie sah sich zu ihm um, und als er merkte, dass sie irritiert war, setzte er ein, wie er wohl glaubte, freundliches Grinsen auf, das sie umso mehr erschreckte, weil es ihr eine Reihe goldener Zähne freigab.

Vor ihrem geistigen Auge spielte sich flugs die Szene einer gefährlichen Prügelei ab, bei der die angeborenen Beißerchen im hohen Bogen verloren gingen.

Vielleicht hätte ich Schriftstellerin werden sollen, dachte sie ironisch, bei der Fantasie …Einen Bestseller landen, damit die gröbsten Kosten abgedeckt wären. In dem Fall könnte sie sich ihre Feriengäste selber aussuchen. Aber so …

Das langgestreckte Gebäude, ein ehemaliger Kuhstall, auf das sie zusteuerte, stand im rechten Winkel zum Wohnhaus. Vier Ferienwohnungen waren dort nebeneinander untergebracht. Ein großer betonierter Hof trennte diesen Bereich vom Haupthaus, dem Garten und einer angrenzenden Grünfläche.

Dort stand ein Blockhaus, die fünfte Ferienwohnung, und im Wohnhaus hatten Sabrinas Eltern die obere Etage ebenfalls als Gästewohnung hergerichtet.

Sabrina öffnete die Tür des ersten Appartements und trat ein. Der Ältere musste den Kopf einziehen, um durch die Türöffnung zu gelangen. Dadurch fiel ihr auf, dass er erstaunlich groß war.

Komisch, dachte sie. Vorhin wirkte er eher wuchtig statt riesig.

Sein Begleiter, dem sie erst jetzt ihre Aufmerksamkeit widmete, war deutlich jünger. Vielleicht Ende zwanzig. Ein wenig blass unter dem blonden, kurzgeschnittenen Schopf, helle Augen, deren Farbe nicht auf Anhieb erkennbar war, und eine normale Statur, nicht viel größer als sie selbst. Ein paar Sommersprossen auf der Nase ließen ihn jungenhaft schüchtern wirken. Fast unsicher. Nur kurz konnte sie in seine Augen sehen, da senkte er auch schon wieder den Blick.

Na, der braucht keine Sonnenbrille, wenn er die ganze Zeit auf den Boden guckt. Sabrina wandte sich wieder dem Älteren zu, den die Wohnung überhaupt nicht zu interessieren schien. „Brauchen Sie Handtücher? – Kostet extra.“

„Spielt keine …“

„Rolle“, ergänzte Sabrina spontan und biss sich sogleich auf die Lippe. „Die bringe ich Ihnen sofort. Auf dem Tisch liegt übrigens das Anmeldeformular, das Sie ausfüllen müssen.“

Der Ältere hob eine Augenbraue und sah auf das Papier. Nahm es kurz auf, sah seinen Begleiter an und sagte etwas zu ihm in einer Sprache, deren Zugehörigkeit Sabrina nicht auf Anhieb einzuordnen wusste. Daraufhin erwiderte der Jüngere etwas, und Sabrina war von dem melodischen Klang seiner Stimme überrascht, den sie bei ihm nicht vermutet hätte.

Beide grinsten sich gleich darauf an.

„Das geht klar, junge Frau.“

„Sabrina. Ich heiße Sabrina Hoffmann.“

Der Ältere lächelte, es sollte wohl verführerisch wirken, und wiederholte schmeichelnd ihren Namen. „Das geht klar, Sabrina.“

Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

***

„Die beiden gefallen mir überhaupt nicht, Rolf. Was meinst du? – Roholf!“

Der Angesprochene zuckte zusammen, als seine Frau ihn deutlich fordernd ansprach. Er hatte sich in der Betrachtung des dampfenden aromatischen Kaffees verloren, den seine Tochter Sabrina zubereitet hatte, nachdem Orko besänftigt und das Chaos, das er angerichtet hatte, bereinigt war.

„Was meinst du, Schatz?“

Gerda seufzte. „Die beiden!“

„Du meinst die Männer?“

„Ja, sie gefallen mir nicht. Das sind keine Guten.“

„Wer ist das schon?“, überlegte Rolf und riss sich endgültig vom Anblick der Tasse los. Wie gerne hätte er sich diesem Genuss hingegeben. Ab und zu …

„Das kann man natürlich nie mit Gewissheit sagen“, gab Gerda ihm recht. „Gerade der Große macht keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Wer bei diesem trüben Wetter eine Sonnenbrille trägt, ist entweder ein Angeber oder hat etwas zu verbergen.“

„Oder beides“, ergänzte Rolf.

Gerdas Gesichtsausdruck wechselte von besorgt zu ängstlich. Wenn ihr Mann nicht wie üblich widersprach, musste sie wirklich Grund zur Sorge haben. „Unsere arme Kleine!“, jammerte sie nun. „Nur weil sie glaubt, dass sie jeden beherbergen muss, der bei ihr klingelt …“

„Als Servicekraft in der Saison verdient man eben nicht genug, um zu überleben“, erwiderte Rolf gereizt, der in seiner Sorge zum Angriff überging. „Aber du wolltest ja unbedingt, dass unsere Tochter erst einmal auf Selbstfindungstrip ins Ausland gehen sollte, statt eine solide und gut bezahlte Ausbildung zu beginnen.“

„Ach, jetzt bin ich wieder schuld!“ Beleidigt drehte sich Gerda um und verschränkte die Arme, um gleich darauf jedoch zum Gegenschlag auszuholen. „Und wenn du nicht so leichtsinnig gewesen wärst, hätte sie auch die Ausbildung machen können. Denn dann wären wir …“

„Fängst du schon wieder mit dieser Leier an?“, schimpfte Rolf zurück, schrumpfte jedoch sichtbar in sich zusammen. Leise fügte er hinzu: „Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern“, und senkte traurig den Kopf.

Gerda bekam augenblicklich Gewissensbisse. „Es tut mir leid, Rolf. Ich hatte wohl genauso viel Schuld daran wie du. Ich hätte …“

***

Einige Zeit später klopfte es an der Küchentür. Verwundert sah Sabrina hoch, während Orko augenblicklich zu knurren begann.

„Ruhig, Orko, bleib!“, wies sie ihn an. Er gehorchte und blieb auf seinem Platz liegen. Sie stellte ihre Tasse ab und wollte sich gerade erheben, als schon die Tür zur geräumigen Wohnküche geöffnet wurde und der Kopf des Älteren durch den Spalt lugte.

„Entschuldigung! Im Schuppen sind Fahrräder. Dürfen wir sie uns ausleihen? Wir zahlen.“

Im Nu legte er einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Arbeitsplatte neben der Tür.

Vor lauter Überraschung war Sabrina zunächst sprachlos. So nickte sie nur.

Augenblicklich verschwand der Fremde. Es hatte eindeutig etwas Unheimliches.

Verwundert sah sie auf die geschlossene Tür, stand auf, nahm den Zwanzig-Euro-Schein an sich und betrachtete ihn fast bewundernd.

Ein schöner Schein, dachte sie. Er fühlte sich wie frisch gedruckt an – so glatt und fest. Augenblicklich erfüllte sie Freude, die das Gefühl der Beklemmung vertrieb. Der kam nun wirklich gerade recht. Es herrschte Ebbe in ihrem Portemonnaie.

Die Ferienwohnungen warteten alle auf Gäste, bis auf die soeben vergebene. Erst in einem Monat begann ihr Saisonjob in Bensersiel. Das Arbeitsüberbrückungsgeld reichte vorn und hinten nicht. Ihre Reserven, die sie eigentlich für überraschende Reparaturmaßnahmen hütete, gingen zur Neige.

Gut, dass ihre drei Hühner gerade wieder anfingen zu legen. Da gab es zumindest mal ein Ei.

***

„Was für eine Frechheit!“, erboste sich Gerda. „Hast du das mitbekommen? – Rolf!“, rief sie ungeduldig.

„Ja, natürlich“, murrte ihr Angetrauter.

„Das gefällt mir gar nicht. Scheint hier herumzuschleichen und sich alles ganz genau anzusehen. Geht ungefragt in den Schuppen – und dringt durch den Hintereingang ins Haus ein –, das gefällt mir gar nicht“, wiederholte sie sich.

„Das sehe ich genauso! Was machen wir jetzt?“

Gerda überlegte einen kurzen Augenblick: „Komm, wir sehen uns die beiden einmal genauer an.“

 

Draußen machten sich derweil die beiden Männer auf dem großflächigen Hof an den Rädern zu schaffen.

Sie prüften den Luftdruck der Reifen, die Funktionsfähigkeit der Bremsen, sogar die Beleuchtung. Schließlich stellten sie die Sattelhöhe ein. Werkzeug fanden sie bei den alten Rädern in der kleinen Tasche unterhalb des Sattels. Sogar Flickzeug befand sich darin. Also alles vorschriftsmäßig.

Der Ältere schien zufrieden. Blickte auf sein Smartphone, das ihm offensichtlich als Navigationshilfe diente, gab einen knappen Befehl, und beide stiegen auf, wobei der Jüngere mit dem Damenfahrrad vorliebnehmen musste.

Er schaute nicht begeistert, doch sein Vordermann rief ihm etwas zu, das seinen Gesichtsausdruck aufhellte.

„Hast du verstanden, was sie gesagt haben?“, fragte Gerda ihren Mann, als die beiden den Hof verlassen hatten.

„Nicht ein Wort“, entgegnete er achselzuckend. „Nur, dass der Ältere scheinbar Iwan heißt und der Kleine Anton.“

„Oje! Iwan, der Schreckliche!“ Gerda schaute ganz unglücklich drein. „Genau diesen Eindruck macht er auch. – Ich sag dir, da stimmt was nicht! Ich wüsste zu gerne, was sie vorhaben.“

***

Kurzes Klopfen an der Küchentür, und wieder schob sich der Kopf des Älteren durch den Türspalt.

Erschrocken guckte Sabrina hoch. Diesmal würde sie sich zur Wehr setzen. Orko war schon aufgesprungen und rannte wütend bellend zur Tür, die flugs und geräuschvoll geschlossen wurde.

„Halten Sie die verdammte Töle zurück!“, klang es dumpf durch die Tür.

Sabrina gefiel dieses ungehobelte Verhalten überhaupt nicht, doch was sollte sie machen? „Orko, komm!“, befahl sie ihrem Beschützer. „Orko!“ Sie wurde streng. Widerwillig gehorchte der Hund. „Sitz!“, befahl sie ihm. Und dann: „Bleib!“

Sie ging zur Tür und öffnete sie. „Hören Sie mal, so geht das nicht!“

„Der Hund ist ja lebensgefährlich!“, fiel ihr der Angesprochene ins Wort.

„Er beschützt mich bloß. Das ist seine Aufgabe“, erwiderte Sabrina streng. „Sie müssen schon meine Privatsphäre respektieren, Herr, Herr … Wie heißen Sie eigentlich?“

„Nennen Sie mich Igor. Einfach Igor!“ Er versuchte sich versöhnlicher zu zeigen. „Das kann ich verstehen. Leben Sie alleine?“

Sabrina wurde vorsichtig. „Was wollen Sie von mir?“

„Essen!“

Sie hob verdutzt die Augenbrauen, wandte sich kurz um und schaute zu ihrem Teller Haferbrei auf dem Tisch, ihrem Abendessen, und dann wieder zu Igor.

„Wir zahlen!“

„Ja, ja!“ Sabrina wurde ungeduldig. Gleichzeitig war es ihr peinlich, dass man möglicherweise sehen konnte, dass sie praktisch nichts im Haus hatte.

„Das nützt jetzt gar nichts! Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich vermiete Ferienwohnungen. Das bedeutet, dass Sie sich selbst verpflegen müssen. Sie können nach Bensersiel oder Esens fahren und dort zu Abend essen.“

Der Mann griff in seine Hosentasche, zog ein dickes Bündel Geldscheine heraus, fingerte daraus vier Fünfzig-Euro-Scheine und drückte sie ihr in die Hand.

Als er ihre Hand nahm, sprang Orko auf und begann zu knurren.

„Ruhig, Orko!“, befahl Sabrina sofort.

„Er … – wirklich wachsam. Sie kaufen morgen in der Frühe ein. Wir brauchen nicht viel zum Frühstück. Kaffee und Ei. Neun Uhr Frühstück. Mittags brauchen wir nichts, dafür abends kochen und Bier und Wodka, eisgekühlt. Das Geld müsste reichen. Wenn Sie mehr brauchen – sagen.“ Diesmal bemühte er sich, seine Stimme vertrauenerweckend klingen zu lassen.

„Augenblick!“, rief Sabrina ihm hinterher, als sie sich von der Überraschung erholt hatte.

Er drehte sich im Flur noch einmal zu ihr um.

„Wie lange bleiben Sie denn?“ Sabrina überlegte, wie viele Mahlzeiten sie wohl bereiten musste. Vielleicht blieb ein wenig von dem Geld für sie übrig.

„Weiß nicht. Wird man sehen.“ Und schon stapfte er zur Hintertür hinaus.

Sie starrte auf die geschlossene Tür, dann rief sie Orko und ließ ihn noch einmal zum Garten hinaus, damit er sein Geschäft erledigen konnte. Heute würde ihr Rundgang ausfallen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schloss sie diesmal anschließend sehr sorgfältig die Türen ab.

Zurück in der Küche, nahm sie die Scheine wieder in die Hand, um sie in ihrer Börse zu verstauen.

Prüfend glitten ihre Finger über das Papier. Merkwürdig, auch dieses Geld fühlte sich fest und neu an. Sie bekam eher selten am Bankautomaten frisch gedruckte Scheine. Woher hatten sie denn so viele davon?

***

„Das wird immer unheimlicher!“ Gerda bewegte sich hin und her. „Rolf! Nun sag du doch mal was dazu. Ist dir nichts aufgefallen?“

„Was sollte mir aufgefallen sein? Dass sie Wodka trinken, dürfte für Russen normal sein. Ich nehme mal an, dass sie Russen sind, bei den Vornamen.“

„Na eben! Die Vornamen!!!“

„Was meinst du?“

„Igor! Er sagte, sie solle Igor zu ihm sagen.“

„Ja und? Ist doch heutzutage üblich, dass man sich mit Vornamen anspricht. Haben wir doch auch in unseren wilden Zeiten gemacht, weißt du noch?“ Rolf verdrehte schwärmerisch die Augen. „Make love, not war! Unser Motto in den Sechzigern!“

„Du bist vielleicht begriffsstutzig! Er heißt doch Iwan, hast du vorhin gesagt. Iwan, der Schreckliche. Doch bei Sabrina gibt er sich als Igor aus.“

„Iwan – Igor! Ist doch ähnlich. Vielleicht hab ich mich heute Nachmittag verhört.“

„Das glaub ich nicht! Los, komm!“

„Wo willst du hin?“

„Na, zu den beiden! Das muss geklärt werden. Sonst hab ich keine Ruhe!“

„Du hast Ideen! Aber erst, wenn sie schlafen.“

„Lass uns die Morgenstunden nutzen. Da ist der Schlaf am tiefsten.“

„Sollen wir nicht lieber bis morgen warten, wenn sie Wodka intus haben? Dann schlafen sie vielleicht fester.“

„Nein! Heute!“

„Oh jemine! Hoffentlich geht das gut!“, jammerte Rolf.

***

Der Wecker riss Sabrina um 6.00 Uhr aus dem Schlaf. Es dämmerte, und entschlossen warf sie die Bettdecke zurück.

Orko, der vor ihrem Bett gelegen hatte, sprang auch sogleich auf und stupste wedelnd mit seiner feuchten Nase gegen ihre nackten Beine.

„Moin, mein Schatz!“, begrüßte sie ihn liebevoll und streichelte seinen Rücken. Sie ließ ihn in den Garten, schnappte sich ihre alte Jacke vom Haken, warf sie über und ging ebenfalls nach draußen, um den Hühnerstall zu öffnen.

„Moin, meine Lieben!“, rief sie den Hühnern auf der Stange zu. Doch da kam als Antwort nur ein schläfriges „Gaaaaagaaaag“ zurück. Es musste erst noch ein wenig heller werden, dann würden sie sich auf Futtersuche durch den Garten begeben.

Als sie sah, dass Orko nur noch schnüffelnd umherlief, um Spuren von Hasen oder anderen nächtlichen Besuchern zu erfassen, rief sie ihn zu sich.

Wieder schloss sie die Tür ab. Fehlt noch, dass einer von den Männern auftaucht, während ich dusche, dachte Sabrina.

Glücklicherweise ist der Jüngere nicht viel größer als ich, bemerkte sie wenig später, als sie das Fahrrad aus dem Schuppen holte. Dann musste sie den Sattel in der Höhe nicht verstellen.

„Du passt gut auf, Orko, hörst du?“, schärfte sie dem Rottweiler ein, der nun wie üblich auf dem Hof Stellung bezog, bis sie wieder zurück war.

Diesmal schloss sie die Türen ab, was sie sonst nie machte. In Ostfriesland war man in Sicherheit. Na ja, zumindest bis jetzt, gab sie zu. Denn die beiden waren ihr wirklich viel zu distanzlos, als dass sie sich sicher fühlen konnte.

Sie schwang sich aufs Rad und fuhr vom Hof. Von ihrem erhöhten Sitz aus konnte sie einen Blick auf das Benser Tief werfen, dessen Wasser wie ein Kanal durch den Schaffhauser Wald floss, vorbei an ihrem Haus, bis es in Bensersiel in die Nordsee mündete, wenn man es denn ließ. Die Sieltore öffnete man nur bei hohem Wasserstand.

An diesem entlegenen Fleck, umgeben von Feldern, verstreut liegenden Häusern und dem Benser Tief, nur einen Steinwurf entfernt, fühlte sie sich wohl, war sie zu Hause.

Hier, am Rande der Kleinstadt Esens, hatten ihre Eltern das ehemalige Bauernhaus vor vielen Jahren gekauft, umgebaut und es als passenden Ort empfunden, um ihren wilden Jahren Einhalt zu gebieten und ihr, Sabrina, eine Heimat zu geben.

Dort wuchs sie unbeschwert in Freiheit und Sicherheit auf, ging zur Schule bis zum Abitur und hatte sich um die Zukunft keine Sorgen gemacht. Schlagartig hatte dann jedoch das Schicksal zugeschlagen und ihr den Boden unter den Füßen weggerissen.

Sabrina befuhr nur kurz den „Wolder Weg“, einen einspurigen Landschaftsweg, der nach Esens führte. Gleich darauf bog sie, nach nicht einmal fünfzig Metern, in den „Himmelriekspad“, eine Abkürzung von etwa sieben Minuten. Lediglich für Fußgänger und Radfahrer war der Pfad geeignet, der kurvenreich durch die weitläufige Landschaft führte, Namensgeber ihrer Ferienwohnanlage war und zu Hochdeutsch „Himmelreichspfad“ hieß.

Sabrina genoss den kühlen Fahrtwind, vom Vogelgezwitscher begleitet, vorbei an den ersten Kühen, die zu dieser frühen Stunde auf der Weide dösten. Dem Winterstall entlassen, genossen sie das erste frische Grün.

Tief sog Sabrina die Luft ein. Sie liebte diesen Duft. Frisch und herb aus der Nordsee, vermischt mit dem Atem feuchten Grases und dem warmen Geruch der Kühe. In solchen Augenblicken vergaß sie nicht nur ihre finanziellen Sorgen.

Bald würden die ersten Touristen eintreffen. Die Anmeldungen konnten sich sehen lassen, und sie vertraute einfach auf zusätzliche spontane Besucher. Bisher hatte es immer geklappt. So fuhr sie fröhlich dem Supermarkt entgegen.

In der Bäckerei, die im Geschäft untergebracht war, kaufte sie frische Brötchen, und während sie Aufschnitt, Butter, Marmelade und Kaffee kaufte, überlegte sie, was sie kochen könnte. Was würden sie mögen? Sie entschied sich für Sauerkraut – preiswert, Eisbein – auch günstig und sogar im Angebot, dazu Kartoffelbrei. Ah, Milch und Zucker. Der Einkaufswagen füllte sich. Nun noch Wodka und Bier. Das würde allerdings bis zu Hause ganz schön durchgeschüttelt werden.

Heute würde sie sich an dem Frühstück beteiligen. Das war ihr Lohn. Noch ein paar Eier, und gleich darauf packte sie den Einkauf sorgfältig in die Fahrradkörbe.

Schwer beladen fuhr sie, in der Vorfreude auf ein leckeres Frühstück, zurück nach Hause.

***

„Man kann wirklich nichts entdecken, was auf ihre wahre Identität hinweisen würde. Mist!“

„Sei nicht so laut. Du könntest sie wecken, Gerda!“, mahnte ihr Mann.

Es dämmerte bereits, und so blickte sich Gerda im Wohn-Essbereich um. Die eingebaute Küchenzeile bot die Möglichkeit, sich zu versorgen. Auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers stand eine Karaffe mit Leitungswasser neben benutzten Gläsern. Reichlich zerknülltes Bonbonpapier, das auf eine russische Süßigkeit hinwies, lag über den ganzen Tisch verteilt.

„Die haben offensichtlich nur Schlickerkram zu Abend gegessen“, flüsterte Gerda. „Sehr merkwürdig. Sie haben doch genug Geld, um essen zu gehen. Warum haben sie es nicht gemacht?“

„Vielleicht waren sie nach der Radtour einfach zu müde“, mutmaßte Rolf. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du alles so genau wissen willst.“

„Na, die beiden sind doch nicht sauber. Das sieht ja ein Blinder! Ich will wissen, was die vorhaben. Nicht, dass unserer Sabrina etwas passiert!“

Rolf wurde beim letzten Satz hellhörig. „Was sollte ihr denn passieren?“ Seinem „Augapfel“ durfte nichts geschehen.

„Was weiß ich? Da gibt es genug Möglichkeiten. Entführung. Verge…“ Sie brach ab, dieses Wort konnte sie einfach nicht aussprechen. „Gewalt eben!“

„Aber was können wir denn machen?“ Rolf wurde nun doch unruhig.

„Als Erstes müssen wir herausbekommen, was die vorhaben. Ich glaube im Leben nicht, dass sie harmlose Feriengäste sind.“

„Schön und gut, aber wie? Wir verstehen doch kein Wort!“

„Wir müssen an ihnen dranbleiben, sie nicht mehr aus den Augen lassen.“

„Du meinst, uns von hier entfernen, um sie zu verfolgen?“

„Ja, es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.“

„Meinst du, das geht?“, warf Rolf ängstlich ein.

„Wir müssen es einfach versuchen, Rolf.“

„Psst. Ich glaub, da kommt jemand!“

„Wohin jetzt so schnell?“ Gerda blickte sich suchend um.

„Rasch in die Dusche!“ Rolf war in Sekundenschnelle hinter dem Vorhang in der Badewanne verschwunden. Sogleich war Gerda an seiner Seite.

 

„Glaubst du, dass das eine gute Idee ist?“, zischte sie ihm zu. „Die werden doch als Erstes ins Bad gehen. Und aufs Klo!“ Gerda verdrehte die Augen.

„Ruhe! Jetzt ist es zu spät!“

Im nächsten Augenblick kam tatsächlich Igor oder Iwan, wie immer er auch hieß, ins Bad. Was sich dort dann abspielte, blieb zu Gerdas Erleichterung verborgen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte endlich die Tür hinter ihm zu.

„Mann, kann der nicht das Fenster öffnen?“, empörte sich Gerda. „Männer!“

Rolf grinste.

Schon öffnete sich wieder die Tür, und Anton betrat das Bad. Kurz darauf lief das Wasser aus dem Hahn.

Gerda konnte der Versuchung nicht widerstehen, an der Seite des Vorhangs vorbeizulinsen.

Grinsend stieß sie Rolf an, als sie den jungen Mann, nur in Unterhose bekleidet, vor dem Waschbecken stehen sah.

Ihr Mann verzog pikiert das Gesicht.

Mit einem Mal schien sich Anton unbehaglich zu fühlen. Mittendrin stoppte er seine Katzenwäsche, drehte sich um und rief dann laut nach seinem Freund.

„Hab ich doch gesagt, Iwan heißt er und nicht Igor!“, flüsterte Gerda ihrem Mann zu.

„Hat er was gemerkt?“ Rolf wurde unruhig.

Iwan kam ins Bad und schien Anton etwas zu fragen. Dieser machte eine Kopfbewegung Richtung Dusche.

Ein Schritt, dann eine rasche Handbewegung, und der Duschvorhang wurde zur Seite gerissen.

***

Vier Jahre zuvor

„Mir fehlt unsere Kleine, Rolf.“ Gerda betrachtete seufzend das Foto einer stimmungsvollen Nachtaufnahme auf ihrem Handy. Braungebrannt stand dort ihre Tochter Sabrina in kurzen hellblauen Hosen, pinkfarbener bestickter Bluse und mit einem breitkrempigen Strohhut auf ihrem Kopf, unter dem ihr langes, eigentlich mittelblondes Haar herausragte und vom Wind spielerisch bewegt wurde. Die Sonne hatte es heller werden lassen. Mit der einen Hand hielt sie den Hut auf ihrem Kopf fest und mit der anderen ein exotisch dekoriertes Cocktailglas, das sie dem Fotografen prostend entgegenstreckte.

In der dunklen Umgebung war die helle Gischt, die den Strand benetzte, nur ansatzweise zu erkennen sowie eine spärlich beleuchtete Strandbar, eine sogenannte Palapa, mit Palmendach. Das Blitzlicht hob das glückliche Strahlen ihrer Augen hervor.

„Wem sagst du das?“, erwiderte Rolf niedergedrückt. „Wo ist sie gerade?“

„An der mexikanischen Karibikküste. Schau nur, wie unbeschwert sie aussieht.“

Rolf warf beinahe widerwillig einen Blick aufs Handy. Es schmerzte ihn, seine Tochter zu sehen, auch wenn er ihr diese Erlebnisse von Herzen gönnte. Doch vermisste er sie mehr, als er es zugeben würde. „Hm“, brummte er deshalb nur. „Und wen strahlt sie da so an? Doch nicht uns, sondern wohl eher den Fotografen.“

„Das hab ich mich auch schon gefragt.“ Gerda machte ein nachdenkliches Gesicht. Sie hoffte nur, dass ihre neunzehnjährige Tochter vorsichtig genug war.

Damals, zu ihrer Zeit, in dem Alter ihrer Tochter, hätte sie sich so eine Möglichkeit gewünscht, darum hatte sie diese Reise unterstützt. Aber sie hatte nicht geahnt, wie sie sich selbst damit fühlen würde – als zurückgelassene Mutter. Nur mit spärlichen Informationen gefüttert. Das war sie nicht gewohnt. Bisher war sie stets über die Unternehmungen und sogar über Sabrinas Empfindungen unterrichtet gewesen, so dass sie mitunter das Gefühl hatte, nicht nur ihr eigenes Leben zu führen, sondern auch das ihrer Tochter.

Nun befand sie sich wie in einem Vakuum.

Rolf erging es nicht viel besser, nur dass er diese Gefühle nach Möglichkeit vor seiner Frau Gerda verschwieg. Schließlich war er kein Weichei.

„Was hältst du davon, wenn wir einfach in den Flieger steigen und sie in Mexiko überraschen?“, schlug Gerda vor.

Sie war geradezu begeistert von ihrer spontanen Idee, und Lebensfreude flammte endlich wieder in ihr auf.

Rolf sah sie zweifelnd an.

„Das könnten wir doch machen“, beharrte Gerda. „Wir haben keine Feriengäste mehr, die nächsten kommen erst Ende Oktober. Also genug Zeit. Und so ein kleiner Urlaub würde uns doch auch sehr guttun.“

Ihr Mann schwieg, noch nicht überzeugt, und so fuhr sie fort: „Natürlich werden wir ihr nicht auf die Nerven fallen. Nur einmal ‚Hallo‘ sagen, und wir spielen in der restlichen Zeit ‚Honeymoon‘.“ Erwartungsvoll schaute sie ihm ins Gesicht. „Erinnerst du dich noch?“, lächelte sie verführerisch.

Langsam und lockend ging sie auf ihn zu, umfasste zärtlich seinen Kopf und hauchte in sein Ohr: „Nun, was hältst du davon?“

„Ob ich mich erinnere?“, fragte Rolf mit belegter Stimme. „Komm, hilf mir mal auf die Sprünge.“ Er nahm seine Frau bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer.

***

Noch immer vier Jahre zuvor

Feuchtheiße Luft schlug Gerda und Rolf entgegen, als sie in Cancun das klimatisierte Flughafengebäude verließen, nachdem sie auf der Halbinsel Yucatán gelandet waren.

„Mexiko!“, jubelte Gerda. „Wir kommen!“

Ihr Unternehmungsgeist war erwacht. Der lange Flug hatte bei ihr keine Spuren hinterlassen. Rolf lächelte sie an. Für ihn war sie noch immer die attraktivste Frau der Welt. Sie wirkte auf ihn keinen Tag älter als bei ihrem Kennenlernen. Sofort hatten sie sich ineinander verliebt.

Es waren damals stürmische Zeiten gewesen. Studentenbewegungen, wilde Partys und kleine Abenteuer. Mit Gerda konnte man Pferde stehlen.

Doch zunächst brauchten sie eher einen Mietwagen.

Beide steuerten auf das abseits gelegene Gebäude zu, das bekannte Autovermietungsfirmen auswies.

Gerda überließ ihrem Mann die Verhandlungen. Bei der Besichtigung des Fahrzeugs umrundete sie es und machte mit ihrem Smartphone Fotos von allen Seiten. Sie hatten schließlich ihre Erfahrungen. Touristen versuchte man schon mal bei der Fahrzeugrückgabe hereinzulegen.

In dem kleinen und preisgünstigen Modell verstauten sie rasch ihr Gepäck.

Als sie endlich das Flughafengelände verließen, stand die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel. Erst jetzt nahmen sie alles um sich herum richtig wahr. Palmen säumten die Straße, üppige Bougainvilleas, Oleander und Hibiskus begleiteten sie auf ihrem Weg nach Süden.

„Was für eine Hitze!“, stöhnte Gerda. „Daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Kannst du die Klimaanlage nicht kälter stellen?“

„Ich denke, mehr geht nicht. Lass uns am nächsten Supermarkt anhalten und kühles Wasser kaufen. Wir sollten viel trinken.“

Gerda nickte und fächelte sich mit der Straßenkarte Luft zu. Schon bald hatten sie den Stadtrand erreicht und entdeckten einen „Oxxo“, eine Filiale einer weitverbreiteten Supermarkt-Kette in unterschiedlichen Größen, die sie ansteuerten. Das Auto parkten sie unweit des Eingangs, schlossen es sorgfältig ab und hielten Ausschau nach zwielichtigen Gestalten. Dass sie Touristen waren, sah man ihnen schon von weitem an. Ihre helle Haut und ihr Auftreten verriet sie.

Rasch erledigten sie ihren Einkauf und bezahlten bei der adretten jungen Mexikanerin an der Kasse.

Als sie das Auto öffneten, schlug ihnen die Hitze wie aus einem Backofen entgegen.

„Meine Güte! Wie schnell es sich aufheizt“, rief Gerda.

„Ich kann kaum das Lenkrad anfassen“, erwiderte Rolf. Rasch fuhren sie weiter. Die Fenster ließen sie herunter, um die Luft auszutauschen. Der gewünschte Effekt war jedoch äußerst gering, denn neue Glut drang von außen herein.

„Was schätzt du? Wann sind wir da?“, fragte Rolf, nachdem ihm Gerda die Richtung gewiesen hatte. Sie hielt die Straßenkarte in der Hand. Ein Navigationsgerät stand ihnen nicht zur Verfügung.

„Zwei Stunden vielleicht. Kommt auf den Zustand der Straßen an. Wenn es so weitergeht, müsste es klappen.“

Sie befuhren eine gut ausgebaute Autobahn. Anders als in Deutschland fuhren hier schnelle, aber auch langsame Fahrzeuge, wie Lastwagen, auf deren Ladefläche Arbeiter sich tummelten und den Fahrtwind genossen.

Rolf gewöhnte sich sehr schnell an die neuen Verhältnisse und passte seinen Fahrstil an.

Playa del Carmen, eine sehr schöne touristische Stadt, ließen sie nach einer Stunde Fahrt links liegen.

„Wir sollten mal hierher einen Abstecher machen. Es soll hier viele Geschäfte und ebenso viele Restaurants geben. Außerdem stand im Reiseführer, dass es eine entzückende kleine Kirche gibt, die hinter dem Altar statt der üblichen Bilder durch eine große Fensterfront den Blick aufs Meer freigibt.“