Die Reise in einem Cocktailshaker

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Reise in einem Cocktailshaker
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Iko Andrae

Die Reise in einem Cocktailshaker

Mit der Segelyacht Balu von Bremen nach Tobago und wieder zurück

FUEGO

Über dieses Buch

Als Iko Andrae und seine Frau Maret Nacken im August 2005 wieder in Bremen ankommen, haben sich beide einen großen Traum erfüllt: Sie sind nach einer dreijährigen intensiven Vorbereitungszeit auf ihrer nur 9m langen und 3m breiten Segeljacht Balu zweimal über den Atlantik gesegelt – von Bremen bis Tobago und zurück.

Detailliert schildert Andrae seine Eindrücke und die Gefühle der 14-monatigen Reise. Er beschreibt die Achterbahnfahrten seiner Emotionen, einem Mix aus von irgendwo abreisen und Abschied nehmen, manchmal bis ins Mark anstrengendem Unterwegssein und der Vorfreude auf das Ankommen an neuen Orten. Er beschreibt die fruchtbaren Begegnungen und sich entwickelnden Freundschaften mit gleichgesinnten Seglern aus aller Welt und vielen Einheimischen an den Küsten und auf den Inseln des Nordatlantischen Ozeans.

Auszüge aus seinem Bordtagebuch ergänzen sehr authentisch diesen spannenden Erlebnisbericht mit Eintragungen über die wiederkehrenden kleinen und großen Baustellen an Bord. Sie erzählen von den einsamen und anstrengenden Nächten auf hoher See, von den Strapazen vor allem bei schlechtem Wetter, aber sie berichten auch von unzähligen kleinen und stillen Glücksmomenten, die letztlich alles andere überwiegen und für die sich alle Anstrengungen gelohnt haben.

Wieder Zuhause

Draußen schauert es seit Ewigkeiten und kaum ein Tag ist ohne Sturmwarnung. Aus meinem Büro blicke ich auf den Oldenburger Hafen und verfolge ein Binnenschiff, das mit voller Kraft voraus gerade noch die Kurve aus dem Küstenkanal in die Hunte schafft. Die Eisenbahnbrücke steht offen, der Schiffsführer hat es eilig. Durch das Dröhnen des Diesels und das Klappern der Sonnenschutzlamellen an meinem Fenster dringen die schrillen Rufe einiger Austernfischer, die wie immer aufgeregt über das Hafenbecken fliegen. Das Schiff, das Wasser und letztlich die Vögel lösen in mir etwas aus. Plötzlich rieche ich Salzwasser, nehme den herben Duft von Algen wahr, sehe Bilder vom Meer, Wellen, Horizont, Maret und mich auf unserer Balu, alleine auf dem Ozean. Sofort sind sie wieder da, die Bilder, die Eindrücke und vor allem die Gefühle unserer Reise. 14 Monate waren wir unterwegs, von Bremen bis nach Tobago und wieder zurück. Als Maret und ich am 19. August 2005 nach genau 417 Tagen wieder zuhause ankamen, hatten wir uns einen großen Traum erfüllt und waren mit unserer 9m langen Segeljacht Balu zweimal über den Atlantik gesegelt.

Teil I

Der lange Weg ins Paradies

„Die Karibik beginnt ja auch gleich hinter Borkum!“

Bremen am 17. Juni 2004. Unser alter Volvo-Penta MD 7a wummerte eintönig und der Bug zerteilte das unruhige Wasser des Bremer Hohentorshafens. Vorbei an den schwarzen Schuten und dem Anleger vom Holzhandel Gluud fuhren wir der Weser entgegen. Hinter uns winkten immer noch ein paar Freunde vom Binnenschiff am rostigen Werftsteg zu uns herüber. Arme, die immer kleiner wurden, kreisten in den stürmischen Böen, als würden sie vom Wind angetrieben. Sara, unsere Mitbewohnerin, hatte uns mit einem Celloquartett überrascht. Regenböen zerstoben die Töne einiger sentimentaler Abschiedslieder unter dem Fahrradstand des verlassenen Werftgeländes, selbst die Cellokästen machten sich selbstständig. Spätestens bei Auld Lang Syne flossen die Tränen.

Die Außenweser begrüßte uns mit sieben Windstärken, und die kommen dort gewöhnlich direkt von vorne. Containerfrachter zogen wie Perlen an einer Schnur aufgereiht an uns vorbei. An Kreuzen war im beengten Fahrwasser kaum zu denken. So polterten wir mit Unterstützung der Maschine mit dem Strom und gegen den Wind der Nordsee entgegen. Ätzend hoch und steil war die See bis Höhe Leuchtturm Alte Weser. Bei meinem ersten Kochversuch unter „realen“ Bedingungen in der engen und schaukeligen Kombüse, auf unserem kardanisch aufgehängten, zweiflammigen Optimus Petroleumkocher, musste ich mich übergeben. Zum ersten und auch zum letzten Mal auf unserer Reise.

Den Kurs auf Wangerooge konnten wir bald anliegen, doch hinter der Ansteuerungstonne Harle im Seegatt zwischen der östlichsten der ostfriesischen Inseln und Spiekeroog schoss uns beiden das Adrenalin durch den Körper. Bei 1,70m Wassertiefe piepte der Tiefenalarm. Nur 15cm Wasser waren noch unterm Kiel und das bei aufgewühlter See zwischen den Inseln! Wieder musste die Maschine mitlaufen. Wir hatten uns vorgenommen, bei der ersten Grundberührung sofort scharf umzudrehen.

Wie oft war ich schon durch dieses Seegatt gefahren. Mit einem Jollenkreuzer mit nur 30cm Tiefgang die Brandungswellen im flachen Wasser hinab zu surfen, konnte ein grenzwertiger Genuss sein, doch jetzt, mit einem Kielschiff war es etwas völlig anderes.

Das Wasser lief seit zwei Stunden wieder auf. In der Seekarte war für diese Stelle bei Niedrigwasser minimal 1,90m Wassertiefe angegeben. Die Karte war zwar erst ein Jahr alt, aber manchmal sind die Seekarten schon am Tage der Drucklegung veraltet. Mit jedem Sturm werden hier an der deutschen Nordseeküste abertausende Tonnen Sand bewegt. Wer denkt bei einer Atlantiktour schon an aktuelle Wattenmeerkarten?

Mit viel Glück und einem Schutzengel, der unseren Kiel im entscheidenden Moment über die flachste Stelle hob, erreichten wir unseren zweiten Abschiedshafen. Alles was segeln konnte, machte sich an diesem Wochenende auf den Weg gegen den böigen und kalten Westwind nach Wangerooge. Zwei Freunde aus Oldenburg querten die fünf Meilen übers Watt sogar zu Fuß.

Am Abend, im Vereinsheim des Wangerooger Yachtclubs, feierten wir mit unseren Freunden vom Festland und von der Insel. Marets Akkordeon und meine Gitarre wurden von Bord geholt und ein paar Freunde vom Shantychor sangen mit uns um die Wette. Ja genauso hatte ich mir das vorgestellt. Nur Karl und seine Mitseglerin wurden noch vermisst. Spät in der Nacht musste dann das Rettungsboot auslaufen und die beiden von einer hohen Muschelbank ziehen. Übernächtigt und mit rotumränderten Augen überreichten sie uns am nächsten Morgen einen großen Präsentkorb mit eingeweckten Ostfriesischen Spezialitäten, bestimmt für ganz besondere Momente. Den Grünkohl öffneten wir Anfang Dezember auf La Gomera. Der Sniertjebraten aus Remels brachte es sogar bis nach Tobago.

Als Maret und ich am folgenden Tag noch immer etwas benommen am Ende des Steges standen und dem letzten Boot hinterher winkten, waren wir die Zurückbleibenden, dabei waren wir es doch, die eigentlich in die Ferne segeln wollten!


Maret in unserer "Balu"

Ganze neun Tag lang hingen wir auf der Insel fest. An acht Tagen davon blies der Wind in Sturmstärke. Für eine Nacht verkrochen wir uns sogar in eine Ferienwohnung einer Freundin im Inseldorf. Im Hafen war es so laut, dass an Schlaf nicht zu denken war. Neben allem meteorologischen Ungemach war auch noch unser Funkgerät ausgefallen, Blitzschaden, wie wir annahmen. Täglich zeigten sich neue Baustellen. Auch unsere Logge und das GPS taten plötzlich nicht mehr, wozu sie bestimmt waren. Das Funkgerät schickten wir schließlich zur Simrad-Vertretung nach Emden. Eine Reparatur wurde versprochen binnen etwa einer Woche.

Die Insulaner begannen schon, uns aufzuziehen: „Wo wollt ihr noch mal hin? In die Karibik? Na ja, da seid ihr ja schon weit gekommen und die Karibik liegt ja auch gleich hinter Borkum!“

Nach neun langen Tagen ging es weiter Richtung Westen. Doch wir schienen immer noch nicht reif zu sein für einen längeren Schlag und bekamen auf dem Weg von Norderney nach Borkum dann auch gleich eine nasskalte Lektion erteilt. Die Vorbereitung auf den eigentlich kurzen Törn war lausig. Wir waren in einiger Hektik quasi noch während eines viel zu späten Frühstücks bei Sonnenschein gestartet. Den Kaffeepott hielt ich in der einen Hand, die Brötchenhälfte steckte zwischen den Zähnen, warf einen kurzen Blick auf den Tidenkalender und legte ab. Die aktuelle Seekarte lag nicht an ihrem Platz, eine Abkürzung nach Westen verpassten wir und brauchten so zwei qualvolle Stunden länger als gedacht. Die See draußen tobte, besonders bei der Annäherung ans Borkumriff bekamen wir das zu spüren. Medikamente gegen meine anfangs schon erwähnte Unpässlichkeit hatte ich nicht eingenommen. Auch zu Essen war nichts vorbereitet, von heißen Getränken ganz zu schweigen. Warme und wetterfeste Kleidung lag wunderbar verstaut im Schrank. Beim ersten Vorsegelwechsel tauchte ich dann gleich bis zur Hüfte in bleigraues und kaltes Nass und guter Letzt ergoss sich ein Schwall Nordseewasser über unsere Bettdecken im Vorpiek. Wir hatten die Vorschiffsluke nicht verschlossen. Wie dämlich kann der Mensch doch sein!

Eine Vorher–Nachher–Liste all der Vorkehrungen, die einen Reisestart nicht nur bei widrigen Bedingungen einfacher machen, hing seit diesem Tag, bis zum Wiedereintritt in die heimische Atmosphäre, als ständige Erinnerung und Mahnung an Steuerbord neben dem Niedergang.

Bordtagebuch Freitag 02.Juli – „Schauer und Böen, 7 Beaufort und mehr aus NW. Rasen die Ems hoch bis zur großen Seeschleuse. Machen am Steg vor der Schleuse fest. Maret versenkt kurz nach dem Anlegemanöver ihr Portemonnaie im Hafenschlick. Drei Meter Wassertiefe und absolut null Sicht beim Tauchen. Ihr Ausweis, Führerschein, Bankkarte, Visakarte, Krankenkassenkarte, Geld, alles ist da drin. Wir laufen los, um einen Käscher zu besorgen.

 

In Hafennähe soll es einen Ausrüster geben, wir haben aber kein Glück und werden weitergeschickt. Dort hat man das Angelzeug gerade vor ein paar Wochen aussortiert, wurde ja doch immer nur geklaut. Die korpulente Dame an der Kasse schickt uns zu einem Baumarkt. „Einfach 1km die Straße hoch, dann rechts, unter einer Unterführung durch und dann nochmals 3 km weiter.“ Es regnet, es ist kalt. Ein Bus ist nicht in Sicht. Hand in Hand und tropfnass laufen wir durch ein ödes Emder Gewerbegebiet. Wir fühlen uns erbärmlich und gottverlassen. Wenn das jetzt einer unserer Freunde sähe, der lachte sich schlapp. Weltenbummler im Emder Schietwetter. Nach mehr als 14 Tagen sind wir gerade mal 130km Luftlinie von unserem Startpunkt entfernt. An einem Wohnhaus treffen wir auf ein Taxi. Die Fahrerin beginnt gerade mit ihrer Schicht und fährt uns zum Baumarkt. Dort gibt es ihn endlich, den großen Käscher. Wir lassen uns zum Außenhafen zurückkutschieren. Das wird zwar ein teurer Käscher, aber der ist dann natürlich auch der beste der Welt. Leider haben wir auch mit dem neuen Gerät kein Glück. Die Geldbörse wird wohl auf ewig im Schlamm vergraben bleiben.“

Flucht durch die holländischen Kanäle

Nur ein paar Kilometer flussabwärts am anderen Emsufer ragten hohe Kräne über die Deichkante. Es war Delfzijl, Industriehafen mit Eingang zum niederländischen Kanalsystem, der sogenannten Standemast-Route.

Da sich das Wetter auch in absehbarer Zeit nicht ändern sollte, wählten wir diesen langsamen, aber auch sicheren Weg über Groningen und das Lauwersmeer, Dokkum, Leeuwarden und die friesische Seenplatte nach Lemmer am Ijsselmeer. Wer sich viel Zeit nimmt für wunderschöne alte und neue niederländische Architektur, Kultur und Landschaft, wird diese Fahrt unbedingt genießen.

Unsere Motivationskurve jedoch stagnierte trotz der schönen Aussicht zu dieser Zeit so ungefähr bei null. Maret wurde seit Tagen schon von Heimweh geplagt. Mit Engelszungen versuchte ich immer wieder, sie aufzumuntern. „Weite, blaue Himmel, hohe, lange Wellen, Fliegende Fische, sternklare Nächte, das Kreuz des Südens“, das war seit drei Jahren unser Mantra. Doch momentan trieb uns die weit entfernte Aussicht auf die Wärme des Südens und schönstes Passatsegeln auf dem Atlantik nur noch mäßig voran. Auch in meinem Kopf begannen bereits die schillernden Traumbilder in Eastmancolor zu verblassen.

Technisch waren wir bestens ausgerüstet. Unsere To-do-Liste war zwar immer noch so lang wie der Rhein, aber die Aufgaben darauf schienen eigentlich lösbar. Sie waren schließlich nur technischer Natur.

Von Lelystad aus ging es weiter durch das Markermeer in den Nordzeekanal und vorbei an Amsterdam bis nach Ijmuiden. Als Balu durch das Schleusentor zurück in die Nordsee glitt, ragten dort die Schornsteine eines Stahlwerkes hoch in den bleigrauen Himmel über einer futuristischen Marina. Wir kannten den Hafen seit unserem Ausbildungstörn nach England und wussten, was uns erwartet. Die nächtliche Ansteuerung Ijmuidens von See aus war eine der anspruchsvolleren Aufgaben der damaligen Fahrt. Vor lauter blinkenden, blitzenden und blendenden Irrlichtern konnte ich damals die Tonnen und Leuchtfeuer vor der Hafeneinfahrt kaum erkennen. Die Marina Ijmuiden, eine architektonische Meisterleistung aus Beton, belegte fortan auf unserer Liste der hässlichsten Jachthäfen den zweiten Platz, gleich nach der Borkum-Marina.

Als wir am folgenden Morgen den Strand entlang spazierten und zum ersten mal seit langem wieder auf die offene Nordsee blickten, lugte für einen kurzen Moment die Sonne durch die Wolkendecke. Sofort hob sich unsere Stimmung. Augenblicklich brachen wir unseren Spaziergang ab und machten das Boot klar.

In Scheveningen, dem von Ijmuiden nur 25 Seemeilen entfernten Seehafen von Den Haag, steckten wir dann wieder einmal fest. Unser Motor zog Luft und, was noch viel unangenehmer war, in der Bilge sammelte sich eine stinkende Diesellache. Ein netter Mechaniker machte sich an unserem alten Volvo-Penta MD 7a zu schaffen und tauschte einige defekte Kraftstoffleitungen aus.

Anfang Juli, Scheveningen, Hochseeseglerhafen. Das quirlige Leben dort machte uns Mut. Den Hafen säumten Restaurants, Lagerhäuser und Fischgroßhandlungen. Ein paar Trawler warteten am anderen Ende des großen Beckens auf ihren nächsten Einsatz. Am übervollen Steg der Marina lagen Boote aus ganz Europa. Wie alle, mussten auch wir wegen der Enge die vorgeschriebene Fluchtrichtung einnehmen, alle Bugspitzen zeigten zum Hafenausgang. Ein niederländischer Skipper gab uns wertvolle Tipps für den englischen Kanal. Spätestens Ende Juli wollten wir in Falmouth sein und mit unserem Freund Lothar über die Biskaya segeln, doch bis dorthin waren es noch ziemlich viele Meilen und bei unserem bisherigen Tempo ein sehr langer Weg.

Bordtagebuch Samstag 17.Juli – „Seit genau einem Monat unterwegs! Was für ein toller Segeltag! 40 Meilen sind es bis nach Vlissingen. Gegen neun Uhr schleusen wir aus dem Haringvliet, wo wir die letzte Nacht an einer Muring verbracht haben, zurück in die Nordsee. Leichte Nebelschleier hängen noch vor der Küste, sie lösen sich aber bald auf und geben die Sicht frei auf die wunderschöne Dünenlandschaft des Scheldedeltas. Mit 6,5 Knoten Rauschefahrt geht es voran.

Am Nachmittag wird es am westlichen Horizont zunehmend dunkel. Der Seewetterbericht im Deutschlandfunk hat schon am Morgen den Durchzug einer Gewitterfront angekündigt. Nach einem kurzen Badestop im kühlen, klaren Meer, der Wind ist schon bald völlig eingeschlafen, geht es unter Maschinenbrummen das letzte Stück die Westerschelde hinauf. Der Strom kommt uns schon bald entgegen. Das eigentlich kurze Stück wird lang und immer länger, die dunklen Wolken kommen immer näher. Eine Gewitterwalze nähert sich uns mit bedrohlicher Geschwindigkeit. Als sie uns Minuten später erreicht, beginnt es zu blitzen und der Wind erreicht Sturmstärke. Zum Glück haben wir die Segel rechtzeitig geborgen. Bald regnet es so stark, dass ich an der Pinne keine Sicht mehr habe. Maret sitzt unten am Kartentisch, plottet mit dem GPS unsere Position und teilt mir den Kompasskurs mit. Sie schreit ihn mir durch das Plexiglasschott zu. Eine rote Fahrwassertonne kommt in Sicht. Voraus liegt eine Tankerreede, an Backbord der Strand von Vlissingen, an Steuerbord Sandbänke. Von achtern fliegen die hohen und brandenden Wellenkämme. Wenn direkt neben dem Boot ein Blitz einschlägt, fahre ich zusammen. Es blitzt und knallt, als säßen wir mitten in einem Feuerwerk. Mein Arm wird lang und länger vom Steuern im Surf, meine Knie beginnen zu schlottern, die Füße stecken in hohen Gummistiefeln, die vom Regenwasser überlaufen. Immer wieder rede ich mir ein, dass ein Boot auf dem Meer statistisch nur selten, fast nie vom Blitz getroffen wird. Für den Moment hilft das! Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt die Einfahrt des Vlissinger Stadthafens in Sicht. Der Brückenwärter, der, wie ich später erfahre, auch noch die Ämter des Kneipenwirtes und des Hafenmeisters bekleidet, steht oben auf der Kaimauer und gibt uns hektische Zeichen, dass er die Brücke sofort öffnen wird. Was für ein erlösendes Gefühl ist das, als wir durch die schmale Öffnung in den alten Hafen rauschen! Doch, als wäre es noch nicht genug, geht der Trubel hier drinnen weiter. Am Hafen ist eine Kirmes aufgebaut und wir bekommen einen Liegeplatz direkt unter einem Karussell zugewiesen. Murphy lässt grüßen!“


Gewitter kommt auf!

Der Sprung über den Ärmelkanal

Drei Tage später hatten wir erstaunlicherweise sowohl die Niederlande als auch Belgien hinter uns gelassen. Seit Sonnenaufgang unterwegs, kamen wir gut voran und segelten zur Mittagszeit bereits entlang der fast geschlossenen Hochhauskulisse an der französischen Küste. Dort erweiterten wir kurzerhand unser Minimalziel Calais um die Überquerung des Ärmelkanals.

Um im stark befahrenen Verkehrstrennungsgebiet auf der Meeresenge zwischen Frankreich und England besser gesehen zu werden, setzten wir Höhe Calais den großen Radarreflektor unter der Saling und suchten mit weiten Augen die Schifffahrtswege am diesigen Horizont ab.

Die stark befahrene Schiffsautobahn ist etwa 100 Seemeilen lang, 18 Seemeilen breit und hat zwei Fahrstreifen, für jede Richtung einen. Zum horizontalen Verkehr der Großschifffahrt kommen die vielen Kanalfähren, die uns viel mehr noch beschäftigten, da sie mit hoher Geschwindigkeit oft ganz plötzlich aus dem Nichts auftauchten.

Dover Coastguard brachte auf Kanal 16 sein Endlosprogramm. Unser Funkgerät quäkte schon seit Stunden im Hintergrund. Die britische Küstenfunkstelle hat die Oberhoheit über den Schiffsverkehr auf dem Ärmelkanal. Amtssprache ist Englisch.

Große Frachter kündigten ihr Kommen bereits Höhe Cornwall an und baten um Erlaubnis, den Sicherheitsstreifen passieren zu dürfen. Dover Coastguard ermahnte, wenn die Funkdisziplin nicht eingehalten wurde. Ein französischer Funker wurde zurechtgewiesen, als er sich herausnahm, seine

Muttersprache zu benutzen. Ein Schiffsoffizier auf einem russischen Frachter, unterwegs von Skt. Petersburg nach Amerika, rang um jedes Wort.

Rechtzeitig zur Tea-Time waren wir ohne Störungen auf der anderen Seite des Kanals angekommen. Die berühmten weißen Klippen von Dover hatten wir längst gesichtet und meldeten pflichtgemäß über Kanal 74 unser Kommen bei Dover Port Control.

Während der Überfahrt malte ich mir tagträumend unseren Empfang in britischen Hoheitsgewässern aus. Die Lautsprecher unseres CD-Spielers standen an Deck, „Jerusalem“ von Sir Charles Hubert Parry dröhnte ganz laut über das glatte Wasser und brach sich an den hohen weißen Klippen der Küste Kents. Ein weißes Boot erschien am Horizont und Vanessa Redgrave stand am Bug und winkte zu uns herüber. Was für ein kitschiger Traum!

Minuten später kam uns dann tatsächlich eine Barkasse entgegen und geleitete Balu innerhalb der riesigen Mole des Hafens von Dover zur Marina, wo man uns einen Platz am Steg der Admiralty Pier zuwies. Was für ein grandioses Gefühl war das, auf eigenem Kiel hier angekommen zu sein!

Bordtagebuch Mittwoch 21.Juli – „Dover. Die Anlagen in der Marina, hier Facillities genannt, sind alt und edel. Allein im Pissoire, einem kleinen, schlossähnlichen Granithaus, fühle ich mich königlich. Das Marinabüro macht einen professionellen Eindruck. Ständig werden Informationen über Funk ausgetauscht. Die Lady im Büro hat eine ziemlich quietschige Stimme. Einige männliche Mitarbeiter in marinaeigener Uniform fliegen wie Schiffsstewards der Queen Mary durch die Gegend, immer sehr beschäftigt, nett und zuvorkommend. Es ist fast wie in einer mondänen Hotelanlage. Irgendwie, denke ich, muss das imposante Liegegeld ja aber auch zustande kommen.

Am Nachmittag rüsten wir uns für den Landfall. Die Locals, die Einheimischen sind sehr freundlich, was ich natürlich auch nicht anders erwartet hatte, denn ich war es ja, der unbedingt über England segeln wollte. War es angeborene Anglophilie, eine Erbkrankheit, die sich in mir bereits in meiner frühsten Jugend den Weg bahnte, oder waren es die nautischen Überlegungen, die uns diesen Weg wählen ließen?

Maret und ich laufen auf der Strandpromenade bis zum Kreidefelsen. Dabei erschließt sich uns ein schönes, altes Seebad mit vielen weißgetünchten Hotelbauten aus der Hochzeit des Empire. Nur der riesige Ferryquay am Ostende der Bucht stört das Idyll und entlässt unentwegt lärmende und stinkende LKW. Noch oben auf den Klippen können wir deren Abgase riechen, hören wir das Dröhnen der Motoren. Wir müssen weit wandern, um dem zu entkommen, landen aber schließlich in allerschönster englischer Wallheckenlandschaft mit grünen, hügeligen Wiesen, steilen Felsen, schnuckeligen Häusern und einem wunderschönen Leuchtturm. Entlang des Coastal Path, der ganz Brittannien umschließt, führt uns der Weg nach St. Margret Bay, einem Kleinod viktorianischer Lebensart, einen Landschaftspark und einen netten Pub am Kiesstrand gibt es inklusive. Unsere Mägen knurren schon seit Stunden, doch leider ist die Küche in dem alten Pub schon geschlossen. Mit weiterhin knurrenden Mägen im Obergeschoss eines Doppeldeckerbusses fahren wir zurück nach Dover.

Was wäre ein Englandbesuch ohne Fish & Chips? Die erste Portion davon wandert noch am Abend durch unsere Hälse und schmeckt zum abgewöhnen. Die Chips sind schlapp und fettig, der Fisch verdorben durch eine kleisterartige Panade.“