Ein Wintermahl (eBook)

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Ein Wintermahl (eBook)
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Hubert Mingarelli

EIN

WINTER

MAHL

ROMAN

Aus dem Französischen von Elmar Tannert

ars vivendi

Die Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter dem Titel

Un repas en hiver bei Éditions Stock.

© Éditions Stock

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Lektorat: Eva Wagner

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

ISBN 978-3-7472-0179-4

Inhalt

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Der Autor, Der Übersetzer

1

Draußen klirrte das Eisen. Der Ton klang im Hof einen Moment nach, im Kopf noch länger. Er würde nicht noch einmal erklingen. Wir mussten sofort aufstehen. Leutnant Graaf hatte es nie nötig, zweimal auf das Eisen zu schlagen. Ein schwaches Licht drang durch das vereiste Fenster. Emmerich lag schlafend auf der Seite, Bauer weckte ihn. Es war später Nachmittag, aber Emmerich glaubte, es sei Morgen. Er richtete sich auf, betrachtete seine Stiefel und schien nicht zu begreifen, warum er die ganze Nacht in ihnen geschlafen hatte.

Währenddessen hatten Bauer und ich unsere Stiefel bereits angezogen. Emmerich stand auf und ging zum Fenster, aber da man wegen des Eises nicht hindurchsehen konnte, hielt seine Verwirrung weiterhin an. Bauer brachte ihm bei, dass Nachmittag war und dass Graaf uns gerufen hatte.

»Was ist denn schon wieder?«, maulte Emmerich. »Wozu denn? Dass wir draußen in der Kälte verrecken?«

»Mach schon«, sagte ich.

»So siehst du aus«, gab Emmerich zurück. »Ich soll mich beeilen, bloß um aufrecht stehend zu erfrieren?«

Wir dachten alle wie er. Die ganze Kompanie dachte so. Warum hielt es Leutnant Graaf für nötig, uns draußen antreten zu lassen? Was er uns zu sagen hatte, hätten wir uns ebenso gut im Warmen anhören können, vor unseren Feldbetten stehend. Es war ihm wohl nicht feierlich genug, in der Turnhalle das Wort an uns zu richten. Nein, er musste eine Eisenplatte an einem Telefonmast aufhängen lassen! Den Lärm, den sie machte, wenn er daraufschlug, diesen unheilverkündenden Ton hassten wir noch mehr als die Kälte, die uns draußen erwartete. Wir hatten keine Wahl, einem direkten Befehl mussten wir gehorchen. Aber es bedurfte dennoch eines gewissen Mutes, um bei einem solchen Wetter nach draußen zu gehen.

Wir hatten unsere Mäntel angezogen, hatten uns die Schals mehrfach umgewickelt, im Nacken verknotet und die Sturmhauben aufgesetzt. Wir hatten alles bedeckt, bis auf die Augen, und traten im Hof der Turnhalle an. Bauer, Emmerich und ich waren die Letzten.

Die Kälte war für uns nichts Neues mehr, wir wussten, was uns erwartete, und doch überraschte sie uns jedes Mal wieder. Es fühlte sich an, als dringe sie durch die Augen ein und breite sich überall aus, wie eiskaltes Wasser, das durch zwei Löcher läuft. Die anderen standen bereits in Reih und Glied, bibbernd vor Kälte. Während wir unsere Plätze aufsuchten, zischten sie uns zu, was für Arschlöcher wir seien, die Kompanie so lang warten zu lassen. Wir reihten uns schweigend ein, und als jeder damit aufgehört hatte, von einem Fuß auf den anderen zu treten, um sich aufzuwärmen, sagte uns Leutnant Graaf, dass heute welche kommen würden, aber wahrscheinlich spät, sodass die Arbeit für den nächsten Tag vorgesehen wäre und dass sie diesmal an unsere Kompanie fallen würde.

Graaf konnte nicht wissen, wie seine Mitteilung auf uns wirkte. Er konnte nicht sehen, ob wir einander hinter unseren Vermummungen etwas zuraunten. Er sah lediglich unsere Augen.

Er hatte uns nicht gesagt, wie viele von ihnen kommen würden. Er wusste zwar, dass das für uns überaus wichtig war. Jedoch musste er fürchten, dass, wenn es sehr viele wären, sich schon ab heute Abend einige von uns krankmelden würden.

Er gab uns das Zeichen zum Wegtreten, wandte sich um und ging auf das Haus zu, in dem die Offiziere untergebracht waren.

Wir hätten jetzt die Reihen auflösen und in die Wärme zurückkehren können, aber wir taten es nicht. Wir blieben an Ort und Stelle. Wir hätten viel darum gegeben, in die Wärme zurückkehren zu können, und dennoch harrten wir aus. Vielleicht lag es an der Arbeit, die uns morgen erwartete. Oder daran, dass wir ohnehin schon bis ins Mark gefroren waren, sodass ein paar Minuten mehr oder weniger keinen Unterschied mehr machten.

Diejenigen, die sich heute um den Ofen kümmern mussten, nutzten die Gelegenheit und machten sich daran, die Kübel zu füllen. Bauer und ich sahen zum Offiziershaus hinüber, weil es den Eindruck machte, als gäbe es darin eine Badewanne – worüber wir gesprochen hatten, ehe das Eisen erklungen war. Ich hatte ihm gesagt, dass ich damals gespart hatte, um mir eine Badewanne leisten zu können. Wir verwendeten dieses Wort oft: damals. Wir sagten es meist im Scherz, manchmal ernst gemeint. Emmerich trat zu uns. Er versuchte, seine Verwirrung vor uns zu verbergen. Vom Schlaf hatte er dunkle Schatten unter den Augen.

Endlich kehrten wir zurück und setzten uns auf Bauers Feldbett. Wir sprachen auch hier nicht von der Arbeit, die uns morgen erwartete. Aber dadurch, dass wir nicht davon sprachen, fühlten wir uns umso mehr von ihr bedrängt.

2

Am Abend verlangten wir unseren Kommandanten zu sprechen. Wer weiß, ob Graaf uns die Erlaubnis dazu gegeben hätte. Aber er war aufgebrochen in die Stadt, wo er jemanden kannte. Umso besser, so gelang es uns, ihn zu umgehen. Der Kommandant hörte uns zu, ohne uns anzusehen, während sich seine Hände unruhig in den Taschen bewegten, als würde er nach etwas suchen. Er war ein wenig älter als wir. Im Zivilleben betrieb er einen Großhandel für Stoffe, was wir uns nur schwer vorstellen konnten. Für uns war er seit eh und je der Kommandant von etwas.

Was wir ihm sagten, wusste er bereits. Er warf ab und zu einen Blick zur Tür und nickte dann wieder heftig mit dem Kopf. Nicht weil er in Eile gewesen wäre, sondern weil er uns verstand. Natürlich übertrieben wir ein wenig. Man musste hier viel verlangen, um etwas zu erreichen. Falls wir etwa morgen der Ansicht wären, dass der Koch ein wenig geizte mit seinen Portionen, so müssten wir ihm sagen, dass wir vor Hunger sterben, um daran etwas zu ändern.

An jenem Abend gab es andere Dinge zu besprechen, wichtige Dinge, und der Kommandant verstand uns und nickte manchmal. Wir erklärten ihm, dass uns das Jagen lieber wäre, als Erschießungen vorzunehmen, dass wir die Erschießungen wahrhaftig nicht mögen würden, dass sie uns deprimierten und dass wir nachts von ihnen träumten. Am Morgen verfielen wir in Trübsal, sobald wir daran dächten, und würden sie schließlich überhaupt nicht mehr ertragen, und alles in allem, wenn wir erst einmal ernsthaft krank wären, würden wir zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Wir sprachen ohne Scheu mit ihm. Mit einem anderen Kommandanten hätten wir nicht so freimütig und offen geredet. Er war Reservist wie wir und schlief ebenfalls auf einem Feldbett. Aber die Massenblutbäder hatten ihn stärker altern lassen als die anderen. Er war abgemagert und wirkte manchmal so ratlos, dass wir befürchteten, er könnte vor uns krank werden und ein anderer, weniger verständnisvoller Kommandant an seine Stelle treten. Möglicherweise sogar aus dem näheren Umfeld. Graaf zum Beispiel, unser Leutnant, der nicht auf einem Feldbett schlief. Mit sich selbst ging er rücksichtsvoll um, aber nicht mit uns. Mit ihm gäbe es weniger Kohlen und noch mehr Appelle. Ein fortwährendes Heraustreten und Wiederwegtreten, das würde uns mit Graaf erwarten. Allein beim Gedanken daran hörten wir die Eisenplatte, deren Klang uns von früh bis spät begleiten würde. Es musste nicht ausgesprochen werden, wir mochten unseren Kommandanten, mitsamt seiner Ratlosigkeit.

 

Er bewilligte uns, worum wir ihn gebeten hatten, und am nächsten Tag brachen wir auf, Emmerich, Bauer und ich. Wir machten uns vor Tagesanbruch auf den Weg, vor der ersten Erschießung, ohne Frühstück im Magen, aber dafür blieb es uns erspart, Graafs gehässigem Blick zu begegnen. Es war Nacht, es fror. Die Straße war härter als Stein. Wir marschierten lange Zeit, ohne Pause, in der Kälte, unter dem gefrorenen Himmel, aber mit einem leichten Glücksgefühl.

Mir war zumute, als hätte ich unserem Kommandanten gestern Abend Lügen erzählt über unsere Nächte, denn diese Nacht hatte ich von etwas ganz anderem geträumt: Emmerich, Bauer und ich waren in einer Straßenbahn unterwegs. An und für sich ein sehr einfacher Traum, aber gerade deshalb war er außergewöhnlich. Wir saßen zu dritt in der Straßenbahn, um uns herum Ruhe und Frieden, alles wirkte vollkommen real, im Gegensatz zu vielen der anderen Träume. Nichts deutete darauf hin, dass etwas falsch wäre und allein ein Produkt meines Geistes.

Ich erzählte Emmerich und Bauer nichts von meinem Traum. Ich fürchtete, sie würden mir sonst von ihren erzählen. Hier war es besser, seine Träume für sich zu behalten, gleichviel, ob es gute oder böse waren. Und warum sollte man sie überhaupt behalten?

3

Wir gingen ohne Unterlass so weit, bis nichts mehr zu hören war, nicht einmal das Echo der ersten Erschießung. Die Schweinekälte war einstweilen auszuhalten. Einen Augenblick glaubten wir, die Sonne zu sehen, aber es waren nur Scheinwerfer.

Wir bewegten uns nicht abseits der Straßen. Wozu sollten wir jetzt schon damit beginnen? Soeben hatten wir ein polnisches Dorf durchquert, trist wie ein Eisenteller, den man niemals abgewaschen hat. Alles schlief noch, nur ein paar Hühner gackerten irgendwo. Ein Huhn hätte uns ganz gewiss gutgetan, aber wir wollten keine Zeit für die Suche verschwenden.

Endlich sahen wir eine blasse Sonne aufgehen. Sie hatte kaum Kraft, dem Himmel Farbe zu geben. Sie würde uns erst um die Mittagszeit aufwärmen können, aber ­offen blieb, um wie viel Grad. Der Horizont hellte sich auf, dunkle Konturen schälten sich heraus, doch das war alles. In der Ferne zeichneten sich vertraute Wälder und Hügel ab.

Der anbrechende Tag war wie ein Signal dafür, dass wir einen ungeliebten Ort hinter uns gelassen hatten. Wir legten eine Zigarettenpause ein. Um uns herum nichts als weit ausgedehnte Felder. Der Wind hatte den Schnee zu endlosen, monotonen Wellen geformt, die schon lang im Frost erstarrt waren. Wir blickten uns um und bekamen den Eindruck, uns inmitten eines weißen Meeres zu befinden. Über uns war es dasselbe, ein Stück weiter im Osten ein blasser Schleier vor der Sonne.

Kaum hatten wir unsere Zigaretten angezündet, da brannten unsere Hände auch schon vor Kälte. Wir zogen die Handschuhe wieder an. Es war beschwerlich, mit Handschuhen zu rauchen. Normalerweise beklagte man sich nicht darüber, dass sie so dick gefüttert waren. Aber wenn man rauchte, dann schon.

Es war nichts anderes zu hören als das Knistern unserer Zigaretten, unser Atem, und manchmal stiegen einem von uns Eiskristalle in die Nase. Mit leerem Magen zu rauchen ist längst nicht so angenehm, wie nach dem Essen zu rauchen. Aber dennoch genossen wir diese Zigarette, weil die Sporthalle und Graaf und der Tag, der dort anbrach, hinter uns lagen. Wir waren in der Mitte eines gefrorenen Meeres, alles war hässlich und vom Eis belagert, wir rauchten mit leerem Magen, aber wir fühlten uns in Sicherheit.

Plötzlich sagte Emmerich: »Ich hab Angst, dass er sich das Rauchen angewöhnt. Was nützt es schon, wenn ich ihm sage, er soll es bleiben lassen. Gut, ich kann ihm auch schreiben, dass er es lassen soll, aber wozu? Er wird den Brief einstecken und vergessen, was drinsteht.«

Es war typisch für Emmerich, sich auf diese Art an uns zu wenden. Er hing seinen Gedanken nach, manchmal ziemlich lang, und mittendrin sprach er plötzlich laut aus, was in ihm vorging. Man musste schnell kapieren, worum es ging, quasi während der Fahrt auf seinen Gedankenzug aufspringen. Das kriegten wir nicht immer hin. Diesen Morgen schon. Er hatte noch nicht einmal geendet, da hatten wir bereits kapiert, dass es um seinen Sohn ging. Emmerich dachte nämlich sehr oft an ihn; er war geradezu besessen von allem, was ihn betraf. Wir standen ihm bei, so gut wir konnten. Wann immer er wollte, hörten wir ihm zu. Wenn er nach unserer Meinung fragte, sagten wir sie ihm. Er tat uns leid, weil es keine Kleinigkeit war, zu sehen, wie er sich damit plagte.

Bauer antwortete: »Ist nicht sicher, dass er den Brief einsteckt.«

»Ach, ist nicht sicher?«, sagte Emmerich mit einem dünnen Lächeln. »Und ob er ihn einfach einsteckt.«

»Schreib ihm, dass wir nach Hause zurückkommen«, sagte Bauer, »und dass er den Geruch nicht verbergen kann, wenn er geraucht hat, weil wir ohne Vorankündigung kommen werden.«

Emmerich dachte nach und wiegte dabei den Kopf ein wenig. Es erschloss sich uns nicht, ob er damit Zustimmung oder Zweifel andeuten wollte. Unsere Zigaretten waren fast zu Ende. Um sie ganz aufzurauchen, musste man einen Handschuh wieder ausziehen. Die Finger brannten entweder vor Kälte oder vor Hitze.

Ich sagte zu Emmerich: »Schreib ihm, dass man uns Fronturlaub angekündigt hat. Wir könnten ganz fix an der Reihe sein, von einem Tag auf den andern. Schreib nichts Genaues, schreib nur, dass das irgendwann passieren wird und dass du es sofort riechen wirst, wenn er geraucht hat, sobald du an der Türschwelle bist.«

»Das wird nicht passieren«, sagte Emmerich leise. »Aber er würde auf mich warten, und das wäre auch eine traurige Sache. Abend für Abend wäre er enttäuscht.«

Bauer und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Dann antwortete ich für uns beide: »Also gut, schreib ihm das nicht.«

Emmerich brachte ein schmales Lächeln zustande und legte kurz die Hand auf den Mund. Dann starrte er auf seine Stiefel. Wie gesagt, wir standen ihm bei, so gut wir konnten, aber man kann nicht alles bedenken.

Wir warfen die aufgerauchten Zigarettenstummel weg, zogen unsere Handschuhe wieder an und legten uns die Schals bis unter die Augen um. Damit trat ein längeres Schweigen ein. Wir senkten die Köpfe zur gefrorenen Straße, und jeder von uns ging in Gedanken, wohin er wollte. Wohin Emmerich ging, wusste ich. Bei Bauer dagegen hing es von der Tagesform ab.

Was mich betraf, so ging ich nicht weit. Ich kehrte zur Nacht zurück, zu meiner Straßenbahn. Aber sie kam mir bereits weit entfernt vor, wie das mit Träumen so ist. In nur einer Woche schon läge dieser Traum hier in einem Loch des Vergessens, für immer. Wenn man doch nur in dieses Loch hineintun könnte, was man wollte!

4

Mein Rücken hatte sich immer schmerzhafter verkrampft unter der Kälte. Wir machten uns wieder auf den Weg, Emmerich voran. Kurz zuvor hatte sich mit einer Schulterbewegung und einem Stoßseufzer durch den Schal angedeutet, dass er mit seinem Problem immer noch nicht durch war. Also dachten wir, während wir hinter Emmerich herstapften, weiter darüber nach, wie man seinen Sohn vom Rauchen abbringen könnte. Im Grunde glaubte ich, dass keiner von uns eine Möglichkeit fände, ihn von hier aus am Rauchen zu hindern, wenn er nun einmal damit angefangen hatte. Nur, hätten wir dies Emmerich gegenüber ausgesprochen, so hätten wir ihm ebenso gut den Gewehrkolben in den Rücken rammen können.

Bauer und ich hatten keine Kinder. Alle in der Kompanie hatten welche, außer Bauer und mir. Emmerich hatte uns schon oft gesagt, dass Vatersein sowohl ein Glück als auch ein Unglück sei. Vor dem Krieg sei es ausschließlich ein Glück gewesen, aber nun habe sich das Unglück dazugesellt. Wir verstanden ihn nur so halb.

»Sag ihm, dass es dir Unglück bringt, wenn er damit weitermacht«, schrie Bauer mit einem Mal.

Wir schraken auf, Emmerich und ich. Selbst durch den Schal klang es noch wie ein Gewehrschuss. Oder wie der Schrei eines wilden Tieres.

Unsere Arbeit hier hatte Bauers Stimme verändert. Sie konnte urplötzlich überschnappen. Was er sagte, war dabei fast unwichtig. Aus dem banalsten Anlass konnte er losschreien. Emmerich und ich hatten aufgehört, uns deshalb zu sorgen, und machten ihm auch keine Vorwürfe mehr. Aber dass wir es wussten, schützte uns nicht davor, jedes Mal aufzuschrecken, wenn es so weit war.

Emmerich wandte sich ein Stück zu uns um und antwortete mit einem Vibrieren in der Stimme: »Wenn er geraucht hat und mir ein Unglück zustößt, ist sein Leben ruiniert.«

»Er hat recht«, sagte ich zu Bauer.

Bauer machte einen großen Schritt voran, fasste Emmerich an der Schulter und sagte, diesmal mit seiner wahren Stimme, ruhig und besonnen: »Dir müsste erst einmal ein Unglück zustoßen. Was riskieren wir hier schon?«

»Hier vielleicht nichts«, antwortete Emmerich. »Im Moment ist alles in Ordnung. Aber wir riskieren, dass wir woandershin geschickt werden.«

»Kann schon sein. Aber morgen nicht«, sagte Bauer. »Und hier, was sollte dir hier für ein Unglück zustoßen?«

Emmerich verlangsamte seinen Schritt, um an unserer Seite zu gehen, und sagte zu Bauer: »Kann man nie wissen. Außerdem braucht es ja nur ein blöder Zufall sein: Er raucht, und mir passiert ein Unglück, einfach so. Was wird dann mit ihm? Ich will nicht, dass sein Leben wegen so einem Zufall ruiniert ist.«

»Er hat ganz recht«, sagte ich.

Bauer murmelte etwas in seinen Schal hinein.

Emmerich sagte: »Ich kann ihm nicht mit so was drohen. Da ist es doch noch besser, wenn er raucht.«

Bauer hob seinen Schal an und sagte zu Emmerich: »Gib ihm doch gleich deine Ration.«

Er meinte die Zigaretten. Ich hörte Emmerich leise lachen. Nicht sonderlich fröhlich, aber immerhin. Von da an gingen wir wieder schweigend, jeder für sich. Aber Emmerichs Sohn begleitete uns weiterhin. Bauer und ich hatten keine Ahnung, wie er aussah. Emmerich besaß kein Foto von ihm, und wir hatten noch nie gewagt, ihn zu fragen, warum. Vielleicht stand irgendein Aberglaube dahinter.

Während wir geredet hatten, hatte sich der Tag immer weiter entfaltet. Das graue Licht, das er jetzt spendete, würde uns nun bis zum Abend begleiten. Für die Temperatur galt das Gleiche, es würde nicht wärmer werden, auch mittags nicht. Zum Glück war es windstill. Wenn man sich diesen Umstand bewusst machte, von dem Moment an, in dem die Windstille eintrat, konnte man sich geradezu glücklich schätzen. Wir mussten gegenwärtig nur aufpassen, wohin wir unsere Füße setzten, damit sie nicht in der Falle der gefrorenen Radspuren landeten.

Ich behielt deshalb mit stetig gesenkten Augen die Straße im Blick und dachte dabei über alles Mögliche zugleich nach, über den Zufall, das Unglück und Emmerichs Sorgen um seinen geliebten Sohn. Aber wenn ich meinen Blick gehoben hätte, und wenn ich weit genug hätte vorausblicken können, so hätte ich gesehen, wo der Zufall wohnte, der Emmerich treffen würde, und hätte die Brücke in Galizien gesehen. Ich hätte Emmerich gesehen, an einen Pfeiler gelehnt, im anbrechenden galizischen Frühling, mit weit aufgerissenen Augen. Ich hätte gehört, wie er nach Luft rang, während er Blut spuckte, wie er verzweifelt versuchte, mit uns zu sprechen, mit Bauer und mir, die vor ihm knieten und nicht wussten, was tun mit all dem Blut, das ihn erstickte. Wir wussten nicht, wie wir mit ihm sprechen sollten. Wir wussten überhaupt nicht, was wir tun sollten, als hätte das Geschoss auch uns durchschlagen, sodass wir ratlos zurückblieben, vor ihm niederkniend, nutzlos und stumm bis zum Ende.

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