Wie ein Tier

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Wie ein Tier
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Horst Bosetzky

Wie ein Tier

Der S-Bahn-Mörder

Roman

Jaron Verlag

Taschenbuchausgabe

1. Auflage dieser Ausgabe 2013

© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller

seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung

eines Fotos des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz

(Hildegard Dreyer: S-Bahnhof Ostkreuz, 1962)

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 9783955521967

Dieses Buch erschien erstmals 1995 im Argon Verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitate

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zweiter Teil

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Dritter Teil

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Vierter Teil

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Fünfter Teil

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort 1995

Literatur

»Jedes Weib reizt mich bis aufs Blut. Wie ein hungriger Wolf rase ich umher. Und dabei bin ich schüchtern wie ein Kind. Ich verstehe mich manchmal selbst kaum.«

Joseph Goebbels, Tagebuch vom 15. Juli 1926

»Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. […] Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen.«

Adolf Hitler im Gespräch mit Hermann Rauschning

»Für die zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Lebens und des Verkehrs dringend notwendigen Lichtquellen sind Verdunklungsmaßnahmen durchzuführen. […] Alle übrigen Lichtquellen sind außer Betrieb zu setzen.«

»Die Beleuchtung von Straßen, Wegen, Plätzen, Bahn- und Hafenanlagen, Wasserstraßen und Grundstücken aller Art ist … außer Betrieb zu setzen.«

Achte Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz (Verdunklungsverordnung) vom 23. Mai 1939



Erster Teil

Der alltägliche Schrecken

Kapitel 1

Emmi Borowka kam von der Spätschicht und fuhr mit der S-Bahn nach Hause. Nein, nicht nach Hause, sondern in die Laube am Rande der Stadt. Ihr Zuhause lag seit dem 29. August in Schutt und Asche. Als Vergeltungsschlag für die deutschen Luftangriffe auf London hatte die Royal Air Force Bomben auf Berlin geworfen. Drei Stunden lang hatten sie in der Skalitzer Straße im Luftschutzkeller gesessen. Zum Glück war sie nicht verschüttet gewesen. Zwölf Tote und 28 Verletzte hatte man am nächsten Morgen gezählt.

Es war die Strecke nach Erkner, die sie nun jeden Tag benutzen musste. Ostkreuz, Rummelsburg, Betriebsbahnhof Rummelsburg, Karlshorst, Wuhlheide, Köpenick, Hirschgarten, Friedrichshagen, Rahnsdorf, Wilhelmshagen und Erkner. An sich ihre Lieblingsstrecke. Nicht nur, weil Albert hier als Triebwagenführer jeden Tag den Dienst versah. Früher waren sie fast jeden Sonntag am Bahnhof Warschauer Straße in die S-Bahn gestiegen, die ganze Familie. Dann ging es nach Rahnsdorf zum Baden, nach Wilhelmshagen zum Pilzesammeln und nach Erkner, um auf der Löcknitz zu paddeln.

Früher, vor ’33, vor dem Krieg. Nur wenige Jahre lagen dazwischen und dennoch Ewigkeiten.

Ostkreuz. Alles war verdunkelt, wie bei einem Stromausfall. Mal ein blaues Lämpchen, mal eine Funzel. Die britischen Bomber sollten nicht erkennen, wo sie sich befanden.

Emmi war müde. Sie war es nicht gewohnt, in der Fabrik zu arbeiten. Die ganze Schicht über an der Stanze. Erstens: nach links bücken und den Rohling aus der Kiste nehmen. Zweitens: den Rohling unter die Stanze legen und genauestens ausrichten. Drittens: die Hände weit auseinander auf zwei tassengroße blanke Knöpfe legen und diese kräftig drücken. Viertens: abwarten, bis die zentnerschwere Hydraulikpresse nach unten gedonnert war. Fünftens: das nun fertig gestanzte Teil aus der Maschine nehmen und rechts unten in eine andere Kiste werfen. Alles sehr sorgfältig und zehn Stunden am Tag. Waffen für die Männer im Feld. Um Russen und Engländer zu töten.

Emmi dachte an ihren Vater. Ab und an besuchte sie ihn kurz vor Schichtbeginn noch schnell. Gestern hatte er im Sportpalast Hitler und Goebbels sprechen hören. Zur Eröffnung des Kriegs-Winterhilfswerks. »Weißt du, was Goebbels gesagt hat?«

»Nein …«

»Jeder Volksgenosse, ob arm oder wohlhabend, wird seinen Beitrag leisten, damit die Welt sieht: Dieses Reich der Deutschen ist unüberwindlich!«

»So wie unsere Flugabwehr … Als die englischen Bomben unsere Wohnung …«

Zu diesem Thema, den ›Tommis‹, hätte sie mal den Führer hören sollen: »Wenn sie erklären, sie werden unsere Städte in großem Ausmaß angreifen – wir werden ihre Städte ausradieren!«

Rummelsburg. Emmi schreckte hoch. Noch immer brachte sie das durcheinander.

Dass erst nur Rummelsburg kam und dann der Betriebsbahnhof Rummelsburg. Sie war froh, noch nicht aussteigen zu müssen. Hier in der S-Bahn fühlte sie sich sicher, der Schrecken für sie begann erst, wenn sie in das Labyrinth der Lauben musste. Sie hoffte aber noch, eine Nachbarin zu treffen, mit der sich zumindest eine Strecke Wegs gemeinsam gehen ließ.

Dass Männer ihre Frauen abholten, kam kaum noch vor. Die saßen alle in den Kasernen oder standen im Feld.

Bis auf den einen, der die Kolonien Gutland I und II schon seit 1938 in Angst und Schrecken versetzte. Wie ein Tier hockte er irgendwo in einer Hecke und wartete auf seine Beute. Plötzlich stand er da, aufgetaucht aus dem schwarzen Nichts, und sprach die Frauen an. Ob sie mit ihm ausgehen wollten. Nein. Da fiel er dann über sie her. Getötet hatte er noch keine. Aber alle warteten darauf, dass es geschah.

 

Die Polizei tat ihrer Meinung nach wenig bis nichts dagegen und alles sehr leise. Im nationalsozialistischen Staat konnte so etwas nicht sein, weil es nicht sein durfte.

Immerhin hatte sie letzte Woche beim NSV-Amtswalter Wenzke eine Liste gesehen, auf der alles stand, was es hier im Laubengelände bisher an schweren Straftaten gegeben hatte (neben den über zwanzig anderen Sittlichkeitsverbrechen von der versuchten bis zur vollendeten Vergewaltigung):

1. Mordversuch Budzinski, 13. 8. 39, 2 Uhr nachts. Wurde von Mann verfolgt. Dieser musste sehr gelaufen sein, denn als er in ihre Nähe kam, keuchte er. Als sie im Garten stand, Schlag über den Kopf. Im Liegen 2 Messerstiche in den Rücken.

2. Mordversuch Jablinski, 14. 12. 39, 1.15 Uhr. Merkte, dass sie verfolgt wurde, begann zu laufen. Verfolger setzte sich in Trab. Erhielt 4 Messerstiche (3 Gegend des Ohrs, 1 Hals). Schrie auf, Täter floh.

3. Mordversuch Nieswandt, 27. 7. 40, 1.30 Uhr. Opfer begab sich zur Laube. Wurde von Täter angesprochen. Opfer drohte zu schreien. Täter drückte ihr Tuch vor das Gesicht. Stiche mit Taschenmesser (Hals Nähe Schlagader, Oberschenkel direkt neben Schlagader). Täter floh.

4. Mordversuch Schuhmacher, 21. 8. 40, 23.10 Uhr. Mit Taschenlampe geblendet kurz vor Tunnel Zobtener Stra­ ße. Kein Wort. Schlug Frau mit Gegenstand bewusstlos (Bleirohr, Bleikabel). Opfer ein Stück aus Regenpfütze gezogen, Geschlechtsverkehr.

Emmi hatte das alles sehr genau vor Augen. Wenn sie etwas sah, fotografierte sie es gleichsam.

Heute war der 4. September, und es sah so aus, als würden die Intervalle des Täters immer kürzer werden.

Was sollte man schon tun dagegen? Wegziehen ging ebenso wenig wie alle Laternen hell aufleuchten lassen. Man konnte nur hoffen, dass es einen selber nicht traf.

Betriebsbahnhof Rummelsburg. Außer Emmi stiegen nur drei Männer aus, allesamt in Eisenbahneruniformen. Sie sprangen sofort, als der Zug wieder aus dem Bahnhof war, auf die Gleise hinunter, um schnell an ihrem Arbeitsplatz zu sein, dem Bahnbetriebswerk nebenan. Keiner benutzte den Fußgängersteg.

Es gab hier nur einen Ausgang, und zwar am Bahnsteigende Richtung Karlshorst. Es war ein Mittelbahnsteig, und sie musste zuerst in einen Tunnel hinunter, weil das nördliche Streckengleis im Wege war. Und das als einziger Fahrgast heute Nacht. Schon hier war es gruselig genug.

Emmi begann zu rennen, schaffte die kritischen Meter, stieg wieder nach oben, verließ das Bahnhofsgebäude und überquerte mit schnellen Schritten die Straße. Kein Mensch weit und breit. Die Wolkendecke war ziemlich dicht in dieser Nacht. Kein Mondschein, das war schlecht, aber keine Luftangriffe, das war gut.

Da war schon das Tor zur Laubenkolonie. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm das Klappmesser heraus, das Albert ihr morgens mitgegeben hatte. »Stoß es ihm in den Bauch!« Wie aber, wenn der Täter sie von hinten niederschlug? Die einen sagten, er sei darauf aus, die Frauen zu betäuben, ehe er sich an ihnen verging, die anderen meinten, dass er ihren Widerstand brauchte, um etwas davon zu haben.

Emmi tauchte in das Dunkel. Sie bemühte sich krampfhaft, ganz leise zu gehen, nur die Fußballen aufzusetzen. Zugleich aber war ihr klar, dass das wenig nützen würde. Der Mann war wie eine Mücke. Die bloße Körperwärme zog ihn an. Wut stieg in ihr auf. Warum umstellten sie das Gelände nicht und suchten systematisch nach ihm? Warum stellten sie keinen Begleitschutz für alle Frauen bereit, die nachts von der Arbeit kamen? Warum war Albert nicht an ihrer Seite, sondern fuhr stattdessen wildfremde Menschen nach Hause?

Sie wusste, dass sie nach rechts musste, prallte aber gegen dichten Maschendraht, als sie es versuchen wollte. Ihr nächster Herzschlag war eine kleine Explosion. Der Mann hatte eine Falle für sie aufgestellt, einen Käfig, um sie … Ihre Beine knickten weg, sie musste sich am Drahtzaun festklammern. So hing sie da und atmete so schwer wie ihre Mutter nach einem Angina-pectoris-Anfall. Sie begann zu beten. »Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange! Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen!« Es war der 6. Psalm, und es geschah ganz automatisch, dass sie das dachte. Und es half.

Sie bekam sich wieder so weit in den Griff, dass sie es wagte, die Taschenlampe herauszuholen und kurz ihre Umgebung abzuleuchten. Der schwache, aber scharf gebündelte Strahl fiel auf einen weißen, schon von Wind und Regen gebleichten Zettel.

W A R N U N G! Mitteilung der Justizpressestelle Berlin vom 7. Juni 1940:

Karl Rose (31) wurde als Volksschädling heute früh hingerichtet. Er überfiel unter Ausnutzung der Verdunklung in Hennigsdorf eine Frau und versuchte, sie unter Anwendung brutaler Mittel zu vergewaltigen.

Wenn der Kerl, der hier sein Unwesen treibt, nicht aufhört damit, wird es ihm ebenso ergehen!

Die Siedler der Kolonie Gutland I und II.

Emmi zuckte zusammen, wusste aber wieder so in etwa, wo sie war. Noch zehn Meter geradeaus, dann ein Stückchen rechts, wieder rechts und schließlich nach links bis zur Laube ihrer Schwiegereltern. Weiter. »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!« Hatte ihr älterer Bruder immer gesagt. Der stand jetzt mit dem X VI. Panzerkorps unter General Hoeppner in Frankreich. Nicht dran denken. Kein Was-wäre-wenn.

Sie konnte ihre Taschenlampe nicht die ganze Zeit über eingeschaltet lassen. Seit einem Jahr war Krieg, und Batterien waren schwer zu kriegen. Nur hin und wieder, da, wo die Hecken ganz besonders dicht gewachsen waren, und an den Einmündungen anderer Wege knipste sie das schwache Lämpchen an. Auch, um den Kerl nicht anzulocken.

Es lähmte sie wie das Gnu im Maule des Löwen, als sie sich vorstellte, wie es war, unter ihm zu liegen. Wenn sein Glied ihr wie ein Schwert in den Körper fuhr. Sie musste wieder stehen bleiben.

Da war ein Geräusch. Ein Tier schlich durch Gras und Sträucher. Das Tier. Der Mann. Der Vergewaltiger. Und wie ihr dieses Wort durch den Kopf schoss, fiel ihr, überwach, wie sie war, in diesem Moment auch auf, dass seine letzten beiden Silben das Wort Tiger ergaben. Der Tiger lauerte auf seine Beute.

Ein unterdrückter Schrei, ein Wimmern. »Mutti!« Hatte er auch in dieser Nacht ein Opfer gefunden? Emmi lief los. Der Impuls zu helfen war stärker als die Angst, selber Opfer zu werden. Im Laufen merkte sie, dass alles aus der Laube von Frau Ditter kam. Ihr Mann war im Felde, sie lebte mit ihren beiden kleinen Kindern ganz allein hier draußen. Als Emmi näher kam, stellte sich heraus, dass das ältere der beiden Mädchen nur unter Mückenstichen litt. Emmi klingelte trotzdem und fragte nach, als Frau Ditter schemenhaft im Fenster erschien.

»Alles in Ordnung?«

»Danke, ja.« Frau Ditter war um die zwanzig und hielt ihr Jüngstes im Arm. »Und selber?«

»Bis ich mich hier draußen eingewöhnt habe … Ich bin ja großgeworden in der Skalitzer Straße. Immer die Hochbahn vorm Fenster. Und hier …«

»Wird schon werden.« Frau Ditter hatte eine angenehme Stimme, und auch sonst war sie vom Typ her Lilian Harvey ein wenig ähnlich. Irgendwie hatte Emmi die vage Hoffnung gehabt, Frau Ditter würde sie zu einem kleinen Likör in ihre Laube bitten. Nicht nur, weil es sehr angenehm sein musste, mit ihr zu plaudern, sondern auch, weil es ihr den Rest des Heimwegs erspart hätte. Vielleicht hätte sie sogar auf einem Notbett bei Frau Ditter schlafen können. Aber die rief ihr nur ein freundliches »Na, dann gute Nacht!« über den Zaun und verschloss ihre Fensterflügel wieder.

Emmi fühlte sich furchtbar allein. Am liebsten hätte sie sich hier am Zaun ins Gras gesetzt und auf den Morgen gewartet. Fast sehnte sie sich nach der Nähe der Menschen in ihrem alten Luftschutzkeller. Und fast schien es ihr auch, dass sie vor den Bomben der Engländer weniger Angst gehabt hatte als vor der Gewalt des Mannes, der hier auf Frauen lauerte.

Sie verbot sich, an das Tier zu denken, denn instinktiv war ihr bewusst, dass ihre Ängste wie Radiowellen waren, die ihn erreichen und erregen mussten, wenn er in dieser Nacht nach Beute suchte.

Die letzten zweihundert Meter waren die schlimmsten.

Plötzlich schien es ihr sicher, dass der Mann schon in ihre Laube eingedrungen war und dort hinter dem Vorhang auf sie wartete. Sie hatten ihn als klein und schwarz beschrieben. Kein Tiger, sondern ein Panther, ein schwarzer Panther.

Mädel, reiß dich zusammen! Emmi eilte weiter. Augen zu und durch. Es wird schon nichts passieren. Ich hab die Bomben überlebt, ich werd auch das überleben.

»Albert, bitte, wir ziehen wieder weg von hier!« Sie witterte ihre Parzelle. Es waren die Astern, die in voller Blüte standen. Noch der Verteilerkasten der Bewag, breit und hoch wie ein Fels, dann war es geschafft.

Da war die Männerstimme neben ihr. Ebenso wispernd wie drohend.

»Gehen Sie noch aus mit mir?« Emmi lief los und schrie aus Leibeskräften. Das Tier folgte ihr mit schnellen Sprüngen.

Kapitel 2

Berthold Borowka lief zum Appellplatz. Nur nicht zu spät kommen und den SS-Leuten irgendwie in die Augen springen. Das konnte den sicheren Tod bedeuten. Er kam am Block 9 vorbei, wo weithin sichtbar eine Tafel mit einem wegweisenden Ausspruch Heinrich Himmlers angebracht war.

Es gibt einen Weg zur Freiheit.

Seine Meilensteine heissen:

Gehorsam, Fleiss, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterlande!

Zusätzlich hatte die SS die einzelnen Worte von Gehorsam bis Liebe mit weißer Farbe und riesigen Lettern auf die einzelnen Unterkunftsbaracken malen lassen.

Abendappell. Fast elftausend Häftlinge waren sie jetzt.

Wenn der Zählappell nicht klappte, konnten sie bis zum nächsten Morgen hier stehen. Oder aber umfallen und sterben. Berthold wusste, dass die Häftlingsschreibstube ihr Bestes tat. Diejenigen, die zu Arbeiten bei der SS abkommandiert waren, und die im Krankenbau liegenden Häftlinge waren schon vorab gemeldet worden. Die Blockältesten hatten darauf achtgegeben, dass alle anderen pünktlich angetreten waren.

Alle warteten auf die SS-Blockführer. Es begann zu regnen. Immer heftiger. Unwillkürlich musste Berthold an seine Schwester denken. Emmi hatte es gern gehabt, ohne Schirm und Jacke durch den Regen zu laufen. Ob sie auch noch ins KZ gebracht wurde? Sippenhaft. Vielleicht schaffte sie es an Alberts Seite, draußen durchzuhalten. Das war ein braver Kerl, und als S-Bahn-Fahrer vorn im Führerstand war er nicht so gefährdet wie andere, die dauernd aufpassen mussten, nichts Falsches zu sagen.

Berthold war schon seit fast zwei Jahren in Sachsenhausen, und er wusste, dass der Schrecken hier seine Nuancen hatte. Dass es andere noch schlimmer traf als ihn, war ein Stück Überlebenshilfe. Und fast registrierte er es mit einem wohligen Gefühl, kein Neuzugang zu sein.

Wie damals. Als er um drei Uhr morgens in Oranienburg angekommen war. In einer Grünen Minna wurden sie abgeholt. Fünfzig Gefangene hineingeprügelt. Hier am Tor hatten sie anfangs zwei Stunden in der Hocke zuzubringen gehabt. Sachsengruß hieß das. Hockstellung, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Dazu Ohrfeigen, Kinnhaken, Schläge in den Magen, Fußtritte in den Unterleib. Ihm hatte der SS-Oberführer nur zwei Zähne ausgeschlagen, seinem Kameraden aber so in den Bauch getreten, dass er zehn Minuten später gestorben war. Bei minus fünf Grad hatten sie im Freien stehen müssen. Der SS-Hauptscharführer Herbert Bloh hatte gebrüllt: »Den Kanaken sollen erst mal die Läuse einfrieren!«

Neben Berthold stand sein alter Freund Ehrenfried Rebentisch. Sie kannten sich schon von der Buddelkiste her. Ihre Eltern hatten nebeneinander ihre Laube gehabt. Kolonie »Goldregen« in Britz. Gemeinsam waren sie auch zur Schule gegangen, im »roten Neukölln«. Und hatten sich dort einer kleinen, aber gut geführten sozialistischen Organisation zur Bekämpfung der Nazis angeschlossen, der Gruppe »Neu Beginnen«. Verhaftet worden waren sie, als sie eine Parodie des Horst Wessel-Liedes verbreitet hatten. Statt »Die Fahne hoch …« hatten sie gesungen: »Einst kommt der Tag, da wird sich uns verkünden, / wer Freiheit liebt und Todesfurcht nicht kennt. / Dann werden wir ein rotes Feuerwerk anzünden, / in dem das ganze Dritte Reich verbrennt.« Irgendwer hatte sie denunziert, sie waren vorgeladen worden zur Gestapo. Geheimes Staatspolizeiamt II A 1, Prinz-Albrecht-Straße 8, III. Stock, Zimmer 311. Sie werden hiermit ersucht … Verurteilung, Zuchthaus, Überstellung ins KZ. Wenn wir schreiten Seit an Seit …

 

Abzählen! Wenn einer nicht aufpasste, in seiner Erregung, Erschöpfung und Angst, nicht übergangslos die nächste Zahl herausschrie, konnte es sein Leben kosten.

Gott sei Dank, heute schien alles seinen normalen Gang zu nehmen. Der jeweilige SS-Blockführer kontrollierte die Anwesenheit der gemeldeten Häftlinge. Einschließlich der Schwerkranken und der Fiebernden, einschließlich derer, die im Laufe des Tages gestorben waren. Die Leichen lagen neben den Reihen.

Weitergabe des Ergebnisses an den SS-Rapportführer. Bertholds rechtes Augenlid begann zu zucken. Jetzt kam der Augenblick, der alles entschied. Fehlte jemand, war einer geflüchtet, dann begann das Strafstehen. Erschwert durch zusätzliche Torturen wie tausend Kniebeugen. Zum Zeitvertreib. Im Januar dieses Jahres, Berthold hatte es überlebt, hatten sie nach einer eisigen Winternacht vierhundert Tote weggetragen.

Doch heute schienen die Zahlen zu stimmen, von den Außenkommandos war niemand geflüchtet.

Der Rapportführer gab das Kommando: »Das Ganze stillgestanden! Mützen ab!« Dann wurde dem Lagerführer die Lagerstärke gemeldet.

»Mützen auf!« Das war die Erlösung für diesen Abend. Dachte Borowka, denn schon gab der Lagerälteste das Kommando: »Rechts und links um, im Gleichschritt marsch!«

Da betrat Herbert Bloh die Szene, einer der SS-Hauptscharführer. Ein schöner, ein schneidiger Mann. Weizenblond, mit der Figur eines Olympiakämpfers. Ein Gesicht, so scharf geschnitten und so ausdrucksvoll, wie es in den Babelsberger Studios nur wenige gab, und so intelligent, dass es allemal zum Professor an der Wehrtechnischen Fakultät der TU Berlin gereicht hätte. Wenn er denn gewollt hätte. Aber er wollte mehr, wie alle wussten.

Der Hauptscharführer griff in seine schwarze Uniform und zog einen kleinen weißen Zettel heraus, auf dem eine Häftlingsnummer stand.

»Durch übergroße Faulheit beim Arbeitseinsatz ist heute aufgefallen …«

Es war die Nummer von Ehrenfried Rebentisch. Dieser wurde noch eine Spur blasser, dann taumelte er in Richtung Bloh. Berthold litt mit Ehrenfried, und Berthold war zugleich auch froh, dass es nicht ihn getroffen hatte, sondern den anderen. Er wusste, dass es seine Menschenpflicht war, für den anderen zu kämpfen, und er wusste auch, dass sie ihn in die elektrischen Drähte treiben und erschießen würden, wenn sie von seinem Gesicht auch nur die geringste Erregung ablesen konnten, wenn er sich abwenden wollte. Also stand er da und befahl sich: Toter Käfer, steinernes Denkmal! Kein Mensch mehr sein, nur noch ein Ding ohne Leben und Gefühl.

Sie schnallten Ehrenfried Rebentisch auf den Bock, einen hölzernen Schemel, und peitschten ihn aus. Mit dem Ochsenziemer auf das nackte Gesäß. Fünfzig Schläge, und er hatte mitzuzählen.

»… fünfzehn, sechzehn …« Ehrenfried Rebentisch konnte nicht mehr. Schrie, lallte, heulte und brüllte nur noch. Dann war er still, und sie hörten nur noch den zischenden Laut der niedersausenden Peitsche. Er war nur noch ein Brocken rohen Fleisches, als sie ihn davonschleiften.

Herbert Bloh überlegte offenbar, was sich heute noch alles anstellen ließ.

Berthold wusste, dass es für die SS tausenderlei Gründe gab, sie abzustrafen: Bei Kälte Hände in den Hosentaschen; hochgeschlagener Kragen bei Eis und Wind; zu blanke Schuhe – als Zeichen dafür, dass man sich vor der Arbeit gedrückt hatte, oder nicht gründlich gesäuberte Schuhe – bei zentimeterhohem Schlamm; einmaliges Aufrichten bei Arbeiten, die in gebückter Haltung durchzuführen waren. Dann drohten der Bock, die Stehzelle, ein enges Loch in der Erde mit einem Gitter drüber, der Zellenbau, die Schuhprüfstrecke, wo man bis zum Krepieren Wehrmachtsstiefel ausprobieren musste, oder die SK, die Strafkolonne. »In die SK kommst du leicht«, sagten sie hier, »hinaus aber nur durch den Schornstein.« Zwölf Mann pro Tag war die Sterbequote in der Strafkolonne.

Glück ist die Summe des Unglücks, dem man entgangen ist. Berthold hatte immer mehr gewollt vom Leben. Nun wusste er, dass der Satz stimmte.

Herbert Bloh suchte sich zwei Dutzend Häftlinge heraus, die am morgigen Tag den Bau eines Schießstandes für die SS voranbringen sollten.

Berthold war dabei. Er wusste, was das bedeutete, es hieß Bärentanz. Der Gefangene musste einen Schaufelstiel umklammern, den Kopf auf den Stiel legen, die Augen schließen und sich auf Kommando hin immer schneller drehen. Wenn Bloh dann diesen Bärentanz abrupt unterbrach, stellte er sich so hin, dass der orientierungslos taumelnde Gefangene ihn unweigerlich rammte. Das war dann der Vorwand für ihn, den Häftling »wegen Angriffs auf einen SS-Mann« zusammenzuschlagen oder anderweitigen Strafen zuzuführen.

Vielleicht kam er auch in Blohs Kabuff …