West-Berlin

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West-Berlin
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Horst Bosetzky

West-Berlin

Erinnerungen eines Inselkindes

Jaron Verlag

Abbildungen

Günter Schneider, Berlin: S. 9, 105, 128, 146, 197

Landesarchiv Berlin: S. 33, 75; S. 96, 101 (Fritz Eschen);

S. 177 (Edmund Kasperski); S. 48, 59, 62 (Horst Siegmann)

Taschenbuchausgabe

2. Auflage 2017

© 2006, 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Fotos des Landesarchivs Berlin/​Karl-Heinz Schubert

(Kurfürstendamm 1966)

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95552-224-7

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort 2013

Der West-Berliner als der große Gewinner

Am Anfang war das Ende – Die Entstehung des West-Berliners

Dem Osten trotzen (I): Die Blockade

Frontstadthelden mit Charisma

Dem Osten trotzen (II): Das Eingemauertsein

Viel Feind, viel Ehr

Die Heiligsprechung durch John F. Kennedy

Besuche in Ost-Berlin – Zwischen Mitleid und Herablassung

Worauf der West-Berliner ganz besonders stolz ist

West-Berlin als Keimzelle alternativen Lebens

Die Glaubenssätze des West-Berliners

Der West-Berliner als der große Verlierer

Der Verlust an Bedeutsamkeit alles West-Berlinischen

Der Verlust an heiligen Kühen

Der Verlust an Lebensqualität

Der Verlust jeder Zukunft

Ein Schlusswort

Literatur

Vorwort 2013

Es ist zwar nur ein Gerücht, dass sich die Gesellschaft für bedrohte Völker schon des in diesem Buch so ausführlich beschriebenen West-Berliners angenommen habe. Aber dass dieser mal recht starke mitteldeutsche Stamm langsam ausstirbt, dürfte unbestritten sein. Nur wer 1989 zur Wendezeit als Eingeborener in einem der zwölf West-Berliner Bezirke gewohnt hat und mit dem dort vorherrschenden Wertesystem sozialisiert worden ist – sagen wir, wer damals mindestens zehn Jahre alt gewesen ist, dürfte doch das richtige tribalistische Bewusstsein entwickelt haben und sich heute als echter West-Berliner fühlen. Nach dem, was ich im Freundes- und Bekanntenkreis, bei Lesungen und anderen Veranstaltungen erlebe, gibt es aber kaum noch bekennende West-Berliner, die nicht grauhaarig sind. Und vererben lässt sich das echte »ein West-Berliner Sein« leider nicht, wie ich bei meinen eigenen Kindern immer wieder schmerzlich erleben muss.

2006 ist die Originalausgabe dieses Buches erschienen, und wir West-Berliner haben seitdem das Schlachten weiterer heiliger Kühe erleben müssen. Am 30. Oktober 2008 war Schluss mit dem Flughafen Tempelhof, Tegel verlieren wir auch noch, und Schönefeld ist für einen alten West-Berliner noch immer negativ besetzt. Er erinnert sich mit Grausen an die auf dem Boden aufgemalten Umrisse eines rechten und eines linken Fußes, auf die man bei der Abflugkontrolle treten musste, um unbemerkt von oben herab geröntgt zu werden. Im Juni 2011 schloss das legendäre Broadway Filmtheater in der Tauentzienstraße. Am 3. Dezember 2011 ist mit der Sprengung der Deutschlandhalle begonnen worden. Weiteres Ungemach droht, denn mindestens eines der Boulevard-Theater am Kurfürstendamm soll verschwinden, das ICC wird nach seiner Sanierung den Status als Kongress-Zentrum verlieren, und mit der Eröffnung des Humboldt-Forums im wiederaufgebauten Stadtschloss können wir uns vom Museumsstandort Dahlem verabschieden. Und dass Hertha BSC in der Saison 2012/​13 wieder mal in der vielgeschmähten Zweiten Bundesliga spielen musste, versetzte einen erheblichen Teil der West-Berliner Männer in eine gewisse präsuizidale Stimmung.

Trotz allem ist es für einen Nachruf noch zu früh, denn es gibt auch Positives aus der alten Frontstadt zu berichten. Die Freie Universität Berlin, ein echtes Kind des alten West-Berlin, ist im Oktober 2007 zum ersten Mal zur »Exzellenz-Universität« gekürt worden und hat diesen Titel im Jahre 2012 verteidigen können. Ich fühle mich mit ihr geehrt, war ich doch in den Jahren 1960 bis 1970 dort in Dahlem Student und Assistent. Und die Rütli-Schule, die ich auch einmal besucht habe, ist möglicherweise die bekannteste Grundschule Deutschlands geworden, weil sie die Neuköllner unter der Ägide des wackeren Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky von einem Ort der Katastrophen zu einem Vorzeigeprojekt gemacht haben. Groß herausgekommen ist auch die Steglitzer Einkaufsmeile Schloßstraße, wo sich zwischen den U-Bahnhöfen Walther-Schreiber-Platz und Rathaus Steglitz mit Schloss-Straßen-Center (SSC), Forum Steglitz, Karstadt, Boulevard Berlin und Schloss gleich fünf Shopping-Tempel aneinanderreihen. Der Bierpinsel – noch mehr West-Berlin geht eigentlich nicht – hat überlebt, und dank Dieter Hallervordens Tatkraft wird seit September 2009 im nahen Schlossparktheater wieder gespielt.

Das Wahrzeichen West-Berlins: Die Gedächtniskirche

Auch die Gegend um den Bahnhof Zoo ist keine innerstädtische Wüstenei geworden, sondern ist voll des Lebens und macht, was die Bauten betrifft, ein wenig auf Manhattan. Die Eröffnung des Waldorf Astoria Berlin lässt den alten West-Berliner singen: »Der Insulaner hofft unbeirrt, dass sein Bahnhof wieder ’n schöner ICE-Halt wird.« Das Bikini-Haus am Zoo wird restauriert und nicht abgerissen, und was den Zoologischen Garten selbst betrifft, so steht er bei den Berlinern und den anrückenden Touristen höher im Kurs als der Tierpark, sein Ost-Berliner Pendant, und schlägt ihn (in Millionen Besuchern) locker mit drei zu eins. Die Krönung ist aber die Meldung der B.Z. vom 20. Juni 2012: »Kudamm ist Berlins Nummer 1 bei Facebook. Shopping vor Sightseeing: Bei den Facebook-Nutzern rangiert unter den Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt nicht etwa das Brandenburger Tor an der Spitze der Beliebtheitsskala, sondern die Flaniermeile Kurfürstendamm.« Viele scheinen Sehnsucht nach ihm zu haben, auch wenn sie Hildegard Knefs Song noch nie gehört haben. WB steht also nicht nur für West-Berlin, sondern auch für WIR BLEIBEN, wir sind nicht totzukriegen.

Am 28. Juni 2012 hatte ich die Ehre und das Vergnügen, von der Berliner Abendschau des rbb auf dem Breitscheidplatz, also am Fuße der Gedächtniskirche, zum Thema Befindlichkeiten des alten West-Berliners interviewt zu werden, und habe am Schluss mit Nachdruck die Schaffung eines West-Berlin-Museums gefordert. Beifall brandete auf, und hinterher wurde ich von mehreren älteren Mitbürgern geradezu umarmt. Nun, dieses Museum wird es so schnell nicht geben – begnügen wir uns deshalb mit diesem Buch aus dem Jahre 2006, dessen Text unverändert in die Neuausgabe übernommen worden ist.

 
Der West-Berliner als der große Gewinner

Am Anfang war das Ende – Die Entstehung des West-Berliners

Es heißt, ich sei im Februar 1938 auf die Welt gekommen. Zwar glaube ich das nicht, mit zunehmendem Alter immer weniger, aber nehmen wir einmal an, es sei wirklich so gewesen. Fest steht auf alle Fälle der Ort des Geschehens: die Lindenstraße im Bezirk Köpenick, später Ost-Berlin und Teil der Hauptstadt eines Landes mit dem Namen DDR. Hätte meine Mutter damals ausgerufen: »Horst ist ein Ostberliner!«, wäre sie auf totales Unverständnis gestoßen. Zunächst einmal lag und liegt Köpenick im Südosten der Stadt, und ganz abgesehen davon kannte die Umgangssprache damals weder den Ost- noch den West- oder den Südberliner, sondern einzig und allein den Nordberliner, lebend in den Bezirken Reinickendorf, Pankow und Weißensee. Nicht ohne Grund gibt es heute noch den Nord-Berliner als normale Tageszeitung, wenn er auch nur einmal in der Woche erscheint. Unterhielt man sich im Alltag über seinen Wohnort, dann spielte – neben Bezirk, Ortsteil, Kiez und Straße, versteht sich – die damalige postalische Zuordnung eine große Rolle. Die großen innerstädtischen Postbezirke waren aber nicht nur nach den vier Himmelsrichtungen – plus C für die Mitte – sortiert, sondern auch noch unterteilt in NW, NO, SW und so weiter, wobei Bezeichnungen wie SO 36 auch noch im 21. Jahrhundert eine gewisse Rolle spielen, zum Beispiel beim Quartiersmanagement.

»Berlin W«, das gab es schon, das war das vergleichsweise mondäne Berlin in der Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und den Kurfürstendamm, festzumachen an Institutionen wie dem Kaufhaus des Westens, dem KaDeWe, und dem Theater des Westens. Im Pharus-Plan des Jahres 1928 finden wir das dicke gelbe »W« aber auf Höhe des Bendlerblocks, zwischen Landwehrkanal und Tiergarten, also viel weiter östlich. Wer dort wohnte, mochte zwar wohlhabend und arrogant sein, sah sich aber mit Sicherheit nicht als West-Berliner beziehungsweise als solchen ohne Bindestrich. Über diesen siehe weiter unten.

Ziehen wir also eine erste Bilanz: Vor 1945 gab es keinen West-Berliner. Da er aber anschließend nachweisbar in die Weltgeschichte eingegangen ist, muss er nach Kriegsende entstanden sein. Und wir können es schon vorab ganz präzise fassen: Er ist ein Kind des Kalten Krieges, und den wiederum hätte es ohne das Hitler-Regime und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Erinnern wir uns kurz – unter besonderer Berücksichtigung dessen, was sich in Groß-Berlin und speziell auf dem Gebiet der späteren West-Berliner Bezirke ereignet hat …

Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler, den Führer der NSDAP, zum Reichskanzler. Nach der Machtergreifung werden Andersdenkende zunehmend terrorisiert, und nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 werden die Bürgerrechte durch eine Notverordnung erheblich eingeschränkt. SA und SS besetzen die Gewerkschaftshäuser, und am 21. März 1933 wird das KZ Oranienburg eingerichtet. Julius Lippert, Führer der NSDAP-Fraktion, wird von Hermann Göring, dem preußischen Innenminister, zum Staatskommissar für die Verwaltung Berlins ernannt, und er beginnt, der »marxistischen und jüdischen Verseuchung« der städtischen Ämter, Betriebe und Einrichtungen ein Ende zu bereiten. An die Schaufenster jüdischer Warenhäuser und Geschäfte werden Plakate geklebt, die zum Boykott aufrufen. Am 10. Mai 1933 werden in der von Joseph Goebbels, dem Propagandaminister, ins Leben gerufenen »Aktion wider den undeutschen Geist« 20 000 Bücher auf dem Opernplatz verbrannt, darunter die Werke von Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Erich Kästner, Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Joseph Roth und Robert Musil. Die SPD wird verboten, ihre Mitglieder werden verfolgt, jede Opposition wird ausgeschaltet. Mit einem besonders billigen Radio, dem »Volksempfänger«, gelangt die NS-Propaganda in jedes Haus: »Ganz Deutschland hört den Führer mit dem Volksempfänger.« Der Exodus der Intellektuellen, insbesondere der jüdischen, beginnt. Die Olympischen Spiele in Berlin 1936 und die 700-Jahr-Feier der Stadt 1937 nutzt das Regime, um sich als grandios zu inszenieren. Dann beginnt am 9. und 10. November 1938 mit der »Reichskristallnacht«, mit dem Morden und dem Niederbrennen von Synagogen, Warenhäusern und Läden, ein neuer Abschnitt in der Judenverfolgung. Die ersten NS-Monumentalbauten werden eingeweiht, so die Reichsbank und die Neue Reichskanzlei.

Am 1. September 1939 entfesselt Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Am 24. August 1940 gibt es den ersten Luftangriff auf Berlin, geflogen von der britischen Royal Air Force (RAF) als Vergeltungsschlag für einen Nachtangriff der Luftwaffe auf London. Beim nächsten Angriff der britischen Bomber regnet es Brand- und Sprengbomben auf Kreuzberg, und in der Gegend um die Skalitzer Straße und das Kottbusser Tor gibt es die ersten Toten, zwölf an der Zahl. Am 2. März 1943 bombardieren dann 257 RAF-Flugzeuge Berlin und legen ganze Stadtteile in Schutt und Asche. Ende März folgen zwei weitere Großangriffe. Durch die Angriffe im März sterben 711 Menschen. Ende 1943 sind 68 000 Häuser total zerstört, und 400 000 Berliner haben ihre Wohnung verloren. Die Evakuierung von Frauen, Kindern und Pensionären in weniger gefährdete Gebiete des Reiches beginnt. Als aber Goebbels am 18. Februar 1943 im Sportpalast die Anwesenden fragt: »Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastung zu folgen?«, da bejahen diese es unter frenetischem Beifall und wollen den »totalen Krieg«. Am 20. Juli 1944 scheitern das Attentat auf Hitler und der Staatsstreich, und die Offiziere unter den Verschwörern werden auf dem Hof des Bendlerblocks am Tiergarten standrechtlich erschossen. Berlin wird zur Festung erklärt. Am 16. April 1945 beginnt die Schlacht um Berlin, am 21. April erreichen die ersten Stoßkeile der Roten Armee im Norden und Nordosten die Stadtgrenze, am 30. April 1945 begeht Hitler Selbstmord, am 2. Mai kapituliert der Kampfkommandant von Berlin, am 8. Mai das Deutsche Reich. Berlin ist auf einer Gesamtfläche von 9,5 Quadratkilometern zerstört, und 1,5 Millionen Menschen haben ihre Wohnung verloren. Ein Drittel der Straßen ist nicht befahrbar, keine Bahn verkehrt, die Strom- und Wasserversorgung ist zusammengebrochen, es gibt keine Lebensmittel mehr zu kaufen. Die Stadt bildet das größte zusammenhängende Trümmerfeld der Weltgeschichte.

Am 5. Juni 1945 vereinbaren die Oberbefehlshaber der sowjetischen, amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsstreitkräfte in einer Villa in Wendenschloss im Hinblick auf die Reichshauptstadt Folgendes: »Das Gebiet von Groß-Berlin wird von den Truppen einer jeden der vier Mächte besetzt. Zwecks gemeinsamer Verwaltung (…) wird eine interalliierte Behörde (russisch: Kommendatura) errichtet, welche aus den vier von den Oberbefehlshabern ernannten Kommandanten besteht.« Die Einteilung der Sektoren war bereits am 12. September 1944 vorgenommen und im »Londoner Protokoll« festgehalten worden. Demnach umfasst der Sektor der UdSSR Pankow, Weißensee, Prenzlauer Berg, Mitte, Lichtenberg, Friedrichshain, Treptow und Köpenick. Zum Sektor der USA gehören Schöneberg, Steglitz, Tempelhof, Neukölln, Kreuzberg und Zehlendorf. Und der britische Sektor soll bestehen aus Reinickendorf, Wedding, Spandau, Charlottenburg, Wilmersdorf und Tiergarten. Am 1. Juli rücken die Amerikaner und die Briten in ihren Sektor ein. Am 30. Juli beschließen die Alliierten dann, auch den Franzosen zwei der 20 Berliner Bezirke zuzuerkennen, und zwar Reinickendorf und Wedding.

Lange Rede, kurzer Sinn: Als Zeugungsstunde des West-Berliners können wir damit den 12. September 1944 festhalten, geboren allerdings wird er erst Jahre später. Bei Kriegsende ist noch nicht einmal abzusehen, dass es ihn als solchen jemals geben wird, denn die Deutschen klammern sich an einen Satz Stalins: »Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.« Und wenn der deutsche Staat bleibt, dann ja wohl auch Berlin als seine Hauptstadt! Und selbstverständlich ist der neue Magistrat, den der sowjetische Stadtkommandant General Nikolai E. Bersarin zusammenstellt, für die ganze Stadt zuständig. Neuer Oberbürgermeister wird Arthur Werner, ein parteiloser pensionierter Regierungsbaubeamter; und unter den 18 Stadträten sind drei, deren Namen einen großen Klang haben beziehungsweise noch haben werden: Für Gesundheit zuständig ist Ferdinand Sauerbruch, der große Chirurg, für Volksbildung Otto Winzer, der spätere Außenminister der DDR, und für das Bau- und Wohnungswesen Hans Scharoun, der Architekt der Philharmonie und der Staatsbibliothek. In Berlin erwacht neues Leben. Insbesondere die Frauen leisten Heldenhaftes, als »Trümmerfrauen« wie bei den »Hamsterfahrten«. Auf dem schwarzen Markt gibt es für die »Zigarettenwährung« oder zu horrenden Preisen fast alles. Am 14. Mai fährt die U-Bahn wieder, wenn auch nur zwischen ein paar Stationen in Neukölln; am 20. Mai gibt es in Lichtenberg das erste Fußballspiel nach dem Krieg; und am 4. September findet die erste Opernaufführung, Fidelio, im wenig beschädigten Theater des Westens statt.

Wer das alles, minutiös nachgezeichnet und grandios geschrieben, nachlesen möchte, der greife zu Berlin Berlin – 1945 – 1953 von Curt Riess, dem Journalisten, der Anfang Juli 1945 zusammen mit den amerikanischen Truppen nach Berlin kommt.

Am 10. Juni 1945 werden durch Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) in Berlin Parteien und Gewerkschaften wieder zugelassen, und es scheint so, als würde in ganz Berlin an die Traditionen und Muster der Weimarer Demokratie angeknüpft werden.

Der Schein trügt aber, denn der Kalte Krieg beginnt. Die erste Runde im Ringen um Berlin haben die Westmächte bereits verloren, denn als sie Anfang Juli 1945 ihre Sektoren in Besitz nehmen, haben die Sowjetunion und die »Gruppe Ulbricht« schon vorgearbeitet: Im Magistrat von Groß-Berlin und den Bezirksverwaltungen sind alle wichtigen Positionen mit Kommunisten besetzt. Die Konflikte beginnen. Als man in Moskau merkt, dass die SPD weitaus mehr Zulauf hat als die KPD, inszeniert man die (Zwangs-)Vereinigung zur SED. Aber die bekommt, als es am 20. Oktober 1946 bei einer Wahlbeteiligung von 92,3 Prozent die ersten – und letzten – freien Wahlen in allen vier Sektoren gibt, nur 19,8 Prozent der abgegebenen Stimmen, während es die alte SPD auf 48,7 Prozent, die CDU auf 22,2 Prozent und die LDP auf 9,3 Prozent bringen. Der SPD-Politiker Otto Ostrowski wird zum neuen Oberbürgermeister von ganz Berlin gewählt, kann aber nicht so schalten und walten, wie es dem Amt entspräche, weil die SED in vielen Fragen andere Vorstellungen hat und stark genug ist sich durchzusetzen. Als Ostrowski dann auf der Suche nach Kompromissen mit der SED-Führung verhandelt, ohne seine Partei darüber zu informieren, bringt die SPD im April 1947 einen Misstrauensantrag gegen ihn ein, dem die Stadtverordnetenversammlung auch mehrheitlich zustimmt. Daraufhin tritt Otto Ostrowski zurück, und am 24. Juni 1947 wird Ernst Reuter (SPD) zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Doch die sowjetische Besatzungsmacht verhindert mit ihrem Veto seine Amtsübernahme. Er sei antikommunistisch eingestellt, heißt es. Schließlich wird Louise Schroeder (SPD) mit der vorübergehenden Ausübung der Amtsgeschäfte betraut.

Im Laufe des Jahres 1947 verschärft sich der Ost-West-Konflikt. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman verkündet in einer Botschaft an den Kongress, dass die USA alle Völker unterstützen werde, die »sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen«, während Oberst Sergej I. Tulpanow von der SMAD auf dem 2. Parteitag der SED von der Notwendigkeit spricht, die Westzonen vom »amerikanischen Monopolkapitalismus« zu befreien. Immer mehr Menschen, die sich den Sowjets und der SED widersetzen, verschwinden, werden verhaftet oder entführt. Man spricht von 5000 Fällen.

Im Jahr 1948 eskaliert dann alles. Am 15. Juni sperren die Sowjets wegen angeblicher Bauarbeiten an der Elbbrücke die Autobahn von Helmstedt nach (West-)Berlin, vier Tage später ordnet die SMAD die Einstellung des gesamten Auto- und Eisenbahnverkehrs an. Am 23. Juni wird in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in Ost-Berlin die Reichsmark durch das »Ostgeld« ersetzt, und am 24. Juni wird in den drei Westsektoren das »Westgeld«, das heißt die Deutsche Mark (DM), eingeführt. Am 25. Juni beginnt die Versorgung der West-Berliner durch die Luftbrücke. Am 1. Juli verlässt der sowjetische Vertreter die Alliierte Kommandantur. Ende Juli erfolgt die Teilung der Polizei, und nach ihren Präsidenten heißt sie im Osten Markgraf- und im Westen Stumm-Polizei. Am 6. September sprengen SED-nahe Demonstranten die im sowjetischen Sektor tagende Stadtverordnetenversammlung. Die Mehrheit der Abgeordneten zieht in den Westen der Stadt, ins Charlottenburger Studentenhaus (und später ins Schöneberger Rathaus). Professoren, die sich dem Diktat der SED nicht beugen wollen, verlassen die Universität Unter den Linden und gründen im Steglitzer Titania-Palast die Freie Universität, die ihren Lehrbetrieb am 15. November in Dahlem beginnt. Am 30. November wählen die verbliebenen linientreuen Berliner Stadtverordneten einen »provisorischen demokratischen Magistrat« und Friedrich Ebert (SED) zum Oberbürgermeister von Ost-Berlin. Die West-Berliner treten am 5. Dezember an die Urne, und ihre neue Stadtverordnetenversammlung (später: Abgeordnetenhaus) wählt am 7. Dezember Ernst Reuter zum Oberbürgermeister (später: Regierenden Bürgermeister) von West-Berlin. Die Spaltung der Stadt ist also besiegelt. Bei Curt Riess heißt es dazu: »Ironie des Schicksals: dass jetzt, drei Jahre nach Beendigung des Krieges, als das Leben in Berlin langsam wieder normal hätte werden können, diese Stadt zur anormalsten Stadt Europas, ja, vermutlich der Welt wurde: zu einer Stadt, durch deren Mitte eine Grenze verlief, die nicht so sehr die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin war als vielmehr die zwischen den Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Sowjetunion. – Diese Grenze ging bald mitten durch das Leben der meisten Berliner.«

 

Hinzuzufügen wäre dem, dass viele West-Berliner, da sie nun schon an der Ostgrenze der USA lebten, davon träumten und ernsthaft davon redeten, auch deren Bundesstaat zu werden, der 50. – noch vor Hawaii.

Riess hält sich zu dieser Zeit in Zürich auf, liest Zeitungen aus der Schweiz, aus Belgien, Frankreich und England, und es scheint ihm, »dass nirgends ein wirklich entschiedener Ton gegen die Russen angeschlagen wurde, außer in den Berliner Zeitungen. Sie, deren Redakteure und Mitarbeiter nur einige Kilometer von den Russen entfernt lebten und abends nie wissen konnten, ob sie nicht im Verlaufe der Nacht von den Russen gefangen genommen werden würden, riskierten zu sagen, genau zu sagen, was sie von den Russen dachten.« Man kolportiert, dass prominente Amerikaner gesagt haben sollen, Europa könne gegen die Russen bestenfalls an den Pyrenäen verteidigt werden. Riess trifft Menschen, die sagen, sie würden sofort ein Visum nach Südamerika beantragen, wenn die Amerikaner Berlin räumten, denn dann sei ganz Europa verloren; und er kommt zu dem Schluss: »Wenn die Russen damals hätten marschieren wollen, hätte nichts sie daran hindern können, bis zum Kanal, zum Atlantischen Ozean oder auch zu den Pyrenäen vorzustoßen. Nichts – außer Berlin.«

Präzise hätte es heißen müssen: Außer West-Berlin, außer dem West-Berliner. Wie auch immer: Der West-Berliner wird zur entscheidenden Figur der Weltgeschichte.

Ehe wir den West-Berliner nun ganz in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen rücken, müssen wir noch ein wenig theoretisch werden. Zuerst einmal ist zu entschuldigen, dass immer nur vom West-Berliner gesprochen wird – und ganz selten nur von der West-Berlinerin. Der Einwand von feministischer Seite, so gehe das nicht, ist berechtigt, doch es würde das Buch leider unlesbar machen, wenn es immer hieße: »die West-Berlinerin beziehungsweise der West-Berliner« oder »der/​die West-BerlinerIn«. Und durchgehend nur »die West-Berlinerin« zu schreiben, wie es mir die Gefährtin des Lebens, eine West-Berlinerin, nahegelegt hat, löst das Problem meines Erachtens auch nicht sonderlich elegant. Also: Wie der Begriff Menschheit, obwohl zugegebenermaßen männerlastig, auch beide Geschlechter umfasst, so auch der Begriff West-Berliner. Ein fauler Kompromiss, aber eben landesüblich.

Dass es »den West-Berliner« als solchen nicht gibt, muss nicht weiter diskutiert werden. Hier genügt der Verweis auf Max Weber: Der West-Berliner der Jahre 1948 bis 1989, ob er nun als Mann oder als Frau daherkommt, ist ein Konstrukt im Sinne des von Weber herausgearbeiteten Idealtypus. Der wird gewonnen »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen« und ist ein künstliches Gedankengebilde, das in »seiner begrifflichen Reinheit (…) nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar« ist. Mit Scherz, Satire und Ironie soll der West-Berliner analysiert werden. Persönliche Erfahrungen und Anekdoten werden sich mit Versuchen mischen, den politischen Kontext zu beleuchten und die »Frontstadt« in ihren Strukturen und ihrem Überbau verständlich zu machen.

Der Autor hat zwar im Köpenicker Ortsteil Schmöckwitz (sowjetischer Sektor) die schönsten Tage seiner Kindheit und Jugend verbracht, war jedoch in den hier zur Debatte stehenden Jahren in den Bezirken Neukölln (amerikanischer Sektor), Charlottenburg und Wilmersdorf (britischer Sektor) sowie Reinickendorf (französischer Sektor) polizeilich gemeldet, ist also selber genuiner West-Berliner. Verleiht ihm das einerseits die nötige Kompetenz zum Schreiben dieses Buches, so birgt es andererseits jene Gefahren, die alle teilnehmende Beobachtung mit sich bringt. Man sei selber zu sehr in das Geschehen involviert, zu sehr von seinen Emotionen beherrscht und mitgerissen, heißt es in der empirischen Soziologie, identifiziere sich zu sehr mit der Gruppe, in der man lebt, und könne den nötigen Abstand nicht wahren.

Nun, dies ist ja keine wissenschaftliche Arbeit, und die Distanz zu meinem Subjekt versuche ich dadurch zu wahren, dass ich es mit Ironie verfolge. Doch nie bestreite ich, selber ein bekennender West-Berliner gewesen zu sein und als solcher gefühlt und gedacht zu haben. Natürlich bin ich froh und glücklich, heute wieder ein richtiger (das heißt wieder vereinigter Groß-) Berliner zu sein, der es Tag für Tag genießt, dass seine Insel wieder ’n schönes Festland ist und er friedlich durch die Bezirke flanieren kann, die für ihn 40 Jahre lang formal im Ausland lagen. Doch so wie die Ost-Berliner das Recht haben, in Ostalgie zu schwärmen und bei ihren Ostpro-Messen leuchtende Augen zu bekommen, so dürfen wir West-Berliner uns die Freiheit nehmen, laut zu sagen, wie herrlich wir doch unsere alten Inselzeiten fanden und wie viel wir seither – bei allen Riesengewinnen – doch verloren haben.

Eine Warnung sei noch ausgesprochen: Ich bin Soziologe und Schriftsteller und kein Essayist und halte es mit Theodor Fontane: »(…) geistreich-sein ist bloß gefährlich wie schön-sein und ruiniert den Charakter.« Auch ist es mir zuwider, die Stadt mit intellektueller Arroganz zu betrachten und alle Berliner und Berlinerinnen ohne Universitätsabschluss in den Geisteswissenschaften und die richtige links-alternative Gesinnung als dumpfe Spießbürger anzusehen, über die man nur lästern kann. Es ist ebenso amüsant wie ärgerlich, wenn der Schwanz, das heißt die höchst selbstreferentielle »geistige Elite«, mit dem Hund, das heißt dem Volk, zu wedeln versucht.

Meine vermeintlich frei schwebende »Ich-bin-ich-Haltung« ist natürlich ebenso angreifbar, und so empfehle ich als Korrektur wie Ergänzung die West-Berlin-Bücher von Olaf Leitner (West-Berlin! Westberlin! Berlin (West)!), Ulf Mailänder und Ulrich Zander (Das kleine Westberlin-Lexikon) und auch – erfrischend unprätentiös – jenes von Kerstin Schilling (Insel der Glücklichen).

Nun zu dem, was den West-Berliner recht eigentlich geschaffen hat: dem Kalten Krieg und seinem eigenen Kampf gegen die kommunistische Bedrohung.