Nichts ist verjährt

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Horst Bosetzky

Nichts

ist verjährt

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt seit nunmehr über dreißig Jahren als einer der erfolgreichsten deutschen Kriminalautoren der Gegenwart. Ebenso erfolgreich ist er seit den 1990er Jahren mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen. In der Krimireihe «Es geschah in Berlin» erschienen von ihm «Kappe und die verkohlte Leiche« (2007), «Der Lustmörder» (2008) sowie «Nach Verdun« (2008, mit Jan Eik).

Originalausgabe

1. Auflage 2008

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

© 2008 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520717

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

EINS 2007

ZWEI 2007

DREI 2007

VIER 2007

FÜNF 2007

SECHS 1980

SIEBEN 1980

ACHT 1980

NEUN 1980

ZEHN 1980

ELF 1990

ZWÖLF 2007

DREIZEHN 2007

VIERZEHN 2007

FÜNFZEHN 2007

SECHZEHN 2007

SIEBZEHN 2007

ACHTZEHN 2007

NEUNZEHN 2007

ZWANZIG 2007

In der Reihe «Berliner Mauerkrimis» sind bisher erschienen:

Ebenfalls bei Jaron die Krimireihe: «Es geschah in Berlin …»

Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren;

Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann.

William Shakespeare, Romeo und Julia

EINS
2007

NIEMAND, DER AM MORGEN AUFSTEHT, weiß, was ihm am Tage widerfahren wird. Und bleibt er aus Angst vor dem Ungewissen im Bett, hilft ihm das nur wenig, denn die meisten Menschen sterben im Bett, zumeist weil ihr Lebenslicht erloschen ist, aber auch wegen eines Brandes oder eines außer Kontrolle geratenen Flugzeuges, das ihr Haus zum Einsturz bringt.

Es soll aber auch Menschen geben, die sich auf das freuen, was geschehen wird. Vielleicht lernen sie die große Liebe ihres Lebens kennen, vielleicht gewinnen sie in der Lotterie, vielleicht kommen sie ins Fernsehen.

Solche Optimisten waren auch René Ratajczak und Timo Zott. Beide hatten im letzten Jahr ihren Bachelor gemacht, der eine als Archäologe, der andere als Historiker, und waren seitdem auf der Suche nach einem für sie angemessenen Arbeitsplatz. Bis sie den gefunden hatten, verdingten sie sich als Praktikanten oder jobbten irgendwo. Im Augenblick halfen sie bei einem Onkel Timos aus, dem Architekten und Bauunternehmer Günther Grauen.

«Bauen mit Grauen», hatte Timo vorgeschlagen, als er im Familienkreise nach einer zündenden Idee für eine Werbekampagne gefragt worden war. Es war dann aber doch bei Bauen mit GG – eine Pfundsidee geblieben.

Heute ging es mit der S-Bahn und der Straßenbahnlinie 68 nach Schmöckwitz, wo ein Einfamilienhaus zu renovieren war.

«Was fällt dir ein, wenn du das Wort Schmöckwitz hörst?», fragte Ratajczak und dachte dabei an die steinzeitlichen Waffen und Werkzeuge aus Feuerstein, die man hier gefunden hatte, vor allem die eigenartigen Walzenbeile.

Timo Zott befand sich aber auf einer ganz anderen Spur. «Bei Schmöckwitz denke ich zuerst einmal an Vincenz Müller.»

«Ich kenne Gerd Müller und den Müller von der Wanderlust – aber wer ist Vincenz Müller?»

«Deutschlands vielleicht merkwürdigster General.» Timo Zott begann, sein Referat vom Sommersemester 2005 in einigen wenigen Sätzen zusammenzufassen. «Geboren 1894 in Aichach als Sohn eines strenggläubigen katholischen Gerbermeisters, diente er nacheinander dem Kaiser, den Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Adolf Hitler und schließlich Walter Ulbricht als Offizier und General. Im Sommer 1944 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, kam mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland in Berührung und war in der späteren DDR maßgeblich am Aufbau von Volkspolizei und Volksarmee beteiligt. 1955 und 1956 traf er sich heimlich mit Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU), um über die deutsch-deutsche Verständigung zu reden. Bald darauf ging er in den Ruhestand – oder wurde gegangen. Am 12. Mai 1961 wurde sein Tod gemeldet. Die einen sagen, er sei an einer schweren Herzkrankheit gestorben, die anderen, er sei hier in Schmöckwitz vom Balkon gesprungen, um seiner Verhaftung zu entgehen. Anhänger von Verschwörungstheorien halten es aber auch für möglich, dass man ihn beiseitegeschafft hat. Mitarbeiter der Stasi war er, und westliche Geheimdienste waren an ihm interessiert.»

Dies alles referierte er, während der S-Bahn-Zug der Linie 46 zwischen Adlershof und Grünau unterwegs war. Rechts zweigte die Linie ab, die über Altglienicke den Flughafen Schönefeld erreichte, der nun endlich ausgebaut werden sollte. Jetzt nach San Francisco oder Sydney fliegen …

In Grünau war umzusteigen. Mit ihren knapp dreißig Jahren konnten sie sich gerade noch daran erinnern, dass für sie als West-Berliner hier einmal die Welt zu Ende gewesen war, denn der nächste Bahnhof, Eichwalde, lag nicht mehr auf Ost-Berliner Gebiet, sondern schon in der DDR, und man brauchte einen besonderen Passierschein dafür.

«Wir hatten immer nur einen Passierschein für die Hauptstadt der DDR», sagte Ratajczak.

Timo Zott lachte. «Und wir überhaupt keinen, denn mein Vater war ja hoher Polizeioffizier und durfte nicht rüber.»

Sie überquerten das Adlergestell und warteten auf die Straßenbahn nach Schmöckwitz, die Linie 68, die von der BVG schon längst eingestellt worden wäre, wenn die Bürger nicht erregt dagegen protestiert hätten.

«Schließlich ist es Berlins schönste Straßenbahnstrecke», erklärte Ratajczak. «Aber die Berliner sind ja Meister darin, alles abzureißen, was schön ist. Nimm nur das Stadtschloss oder den Anhalter Bahnhof.»

Die Bahn war um die Ecke gebogen und hielt. Sie betätigten sich als Bergsteiger und enterten einen der hohen Tatrawagen. Die Klingeln schrillten, los ging es. Zuerst durch den Wald, dann bis Karolinenhof immer am Langen See entlang, eine Ausweitung der Dahme. Regattatribünen, Sportpromenade, Strandbad Grünau, Richtershorn … Am anderen Ufer ragten die Müggelberge, laut Fontane ein Mittelgebirge à la miniature, bläuend in den märkischen Himmel.

Nur fünfzehn Minuten brauchten sie bis zum Dorfanger von Alt-Schmöckwitz, und als sie ausgestiegen waren, sang Ratajczak, Louis Armstrong nachahmend: « The time stood still …» Auf dem Hügel zu ihrer Linken gab es zwar keine Blaubeeren, dafür aber die sehr schlichte Dorfkirche aus dem Jahre 1799. Die Häuschen längs der Wendeschleife der Linie 68 wie auch das Ensemble aus Straßenbahnremise, Feuerwache und Grundschule ließen Ratajczak jubeln.

«Alles so wie damals, kein Fertighaus und kein moderner Architekt mit pathologischem Selbstverwirklichungsdrang.»

Die Magistrale des Ortes war Berlins längste Straße, das Adlergestell, das schon in Schöneweide begann und hier in Schmöckwitz auf dem Damm lag, der den Zeuthener vom Langen und dem Seddinsee trennte.

Zwischen dem Adlergestell und der Straße am Seddinsee gab es drei Verbindungen, den Imkerweg, den Beutenweg und, als weitaus wichtigste, die Wernsdorfer Straße, die zur Brücke führte und den Verkehr mit Rauchfangswerder und Wernsdorf ermöglichte.

 

Die Grundstücke auf der westlichen Seite des Imkerweges reichten bis zu einer Ausbuchtung des Langen Sees hinunter, die Schmöckwitzer Hafen genannt wurde und mit Bootsstegen gesäumt war. Ureinwohner erinnerten sich noch, dass es hier einst einen Sumpf gegeben hatte und mit ihm einen Siedler namens Schulze, den Sumpf-Schulzen, nicht zu verwechseln mit dem Turm-Schulzen aus der Goulbierstraße.

Schräg gegenüber des Grundstückes, das jenem Sumpf-Schulzen einst gehört hatte, stand ein zweistöckiges, nicht unbedingt pompös zu nennendes Landhaus aus wilhelminischer Zeit, das mit viel Schinkel an der Fassade einiges herzumachen versuchte, aber inzwischen so stark in die Jahre gekommen war, dass sich sein Besitzer in vielen schlaflosen Nächten gefragt hatte, was denn sinnvoller sein würde: sanieren oder abreißen. Er hatte sich schließlich für die erste Alternative entschieden und der Baufirma von Günther Grauen die Sache übertragen.

So waren Ratajczak und Timo Zott zu ihrem Job in Schmöckwitz gekommen. Rabitzwände mussten abgetragen werden, damit die Räume größer wurden, Sauerkrautplatten, die nur noch schlecht isolierten und nach Marderkacke stanken, waren von den Dachschrägen zu reißen, Furchen in den Putz zu ziehen, um elektrische Leitungen unter den Putz zu legen, uralte Heizkörper abzuschrauben und in den Schuttcontainer zu tragen, dicke Farbschichten von den Türen und Fensterrahmen zu schleifen, zu brennen und zu laugen und Tapeten aus dem Jahre 1962 von den Wänden zu lösen.

Diese Aufgabe übernahm Timo Zott, denn als Makulatur hatte man damals Exemplare des Neuen Deutschland, benutzt, und bei der Lektüre konnte er manch neue Erkenntnis gewinnen. Ratajczak dagegen schlug und kratzte gern blühenden Putz von den Wänden, denn das erinnerte ihn immer an ein Praktikum in Pompeji und Herculaneum, bei dem sie mit viel beruflicher Lust und privater Liebe römische Villen freigelegt hatten.

Zum Frühstück trugen sie Tisch und Stühle aus dem Haus, um es sich auf der Streuobstwiese hinter dem Haus gemütlich zu machen.

«Richtig so, hier zu frühstücken», sagte Timo Zott. «Als Gutmenschen müssen wir natürlich etwas für die Zecken tun. Überall werden sie verteufelt und gejagt.» Er entblößte sein rechtes Bein. «Kommt nur her, ihr Lieben, an unserem Blute könnt ihr euch laben.»

Ratajczak wusste nicht so recht, ob das Tun seines Freundes den strengen Regeln der Political Correctness entsprach, und lachte nur unter Vorbehalt. «Ich sprühe mich lieber mit Autan ein.»

«Pfui, Chemie!»

«Besser als Borreliose.»

«Mit Borrelien in der Hose griff er nicht an ihre Dose», reimte Timo Zott.

Ratajczak verzog das Gesicht. «Langsam geraten wir unter unser Niveau.»

«Nur dort wohnt das Glück», erklärte Timo Zott. «Wo wohnt aber der Glück, Alois Glück, der bayerische Landtagspräsident? Wahrscheinlich in München, aber: Further research is needed.»

Ratajczak spitzte die Ohren. «Ich glaube, wir bekommen Besuch.»

«Was ’n Glück!»

Am Zaun erschienen Günther Grauen, der die Sanierung des Hauses übernommen hatte, und der Psychologie-Professor Dr. Siegfried Schwellnuss aus Friedenau, der spätestens zu Beginn des Wintersemesters hier einziehen wollte. Man kannte sich schon, und die Begrüßung fiel kurz und geschäftlich aus.

«Nun wird doch alles anders, was das Souterrain betrifft», sagte Grauen. «Keine Abstellräume, sondern eine richtige Einliegerwohnung.»

«Ja», ergänzte Professor Schwellnuss, «meine Mutter will da einziehen.»

Ratajczak lachte. «Ich verstehe: Sie schreiben doch gerade ein Buch über pathologische Mutterbindung.»

Professor Schwellnuss zog die Augenbrauen hoch und seufzte hörbar. «Ja klar, wir Psychologen haben dieses Fach nur gewählt, um uns selber therapieren zu können.»

«Ich habe mir ja mein Haus auch selbst gebaut», sagte Grauen.

Ratajczak überlegte einen Augenblick. «Auf meine Profession bezogen hieße das, dass ich in tausend Jahren meine eigenen Knochen ausgraben möchte.»

«Lass dich rechtzeitig klonen», riet ihm Timo Zott, «dann geht das schon. Aber warum bin ich Historiker geworden?»

«Um vielleicht selbst einmal in die Geschichte einzugehen», meinte Professor Schwellnuss.

«Danke für Ihr Vertrauen in mich und meine Produkte.»

Grauen nahm das auf. «Bitte! Und darum fangt nachher gleich mal an, die Grundmauern freizulegen, wir müssen ja nun um die Einlegerwohnung herum alles isolieren.»

«Meine Mutter mit ihrem Rheuma!», rief Professor Schwellnuss. «Bloß keine feuchten Räume.»

«Also, Jungs, gleich in die Hände gespuckt, wenn wir wieder weg sind», sagte Grauen. «Einen Meter Breite, bis auf die Hausplatte runter.»

Die beiden machten sich sofort ans Werk, denn es war allemal besser, draußen an der frischen Luft zu schippen, als drinnen im Haus im Dreck zu wühlen. Um das Haus herum waren Gehwegplatten verlegt, damit die Erde nicht gegen den grauweißen Putz spritzte, wenn es regnete oder man beim Sprengen den Wasserstrahl nicht richtig reguliert hatte. Die länglichen Platten stammten noch aus DDR-Zeiten, erkennbar an den gelben und rötlichen Pastelltönen und der typischen Oberflächenstruktur. Beim Hochheben zerbrachen viele von ihnen.

«Macht nichts», sagte Timo Zott. «Mein Onkel schwört ohnehin auf Waschbeton und wird dem Schwellnuss sowieso welchen aufschwatzen.»

Nachdem sie die Platten abgeräumt hatten, konnten sie beginnen, das Mauerwerk freizulegen. Wurzeln gab es hier nicht viele, es war nur darauf zu achten, die ins Haus gehenden Leitungen nicht zu zerstören. Beide gingen nicht ins Fitnessstudio, und da ihre Lieblingssportart das Schachspiel war, ließen sie es ruhig angehen. Der Nachbar rief herüber, ob er seinen Zweijährigen mit dem Buddeleimer rüberschicken solle, damit sie schneller vorankämen.

Nach etwa einer Stunde schrie Ratajczak auf. «Mensch, was ist denn das?»

«Bist du auf Kupfer gestoßen?», fragte Timo Zott. «Reichen die Lager von der Lausitz bis nach Schmöckwitz rauf?»

«Nein, das sind Knochen.»

Timo Zott lachte. «Was soll ein Archäologe auch anderes finden? Der Vorbesitzer wird ’nen Hund gehabt haben.»

«Quatsch!» Ratajczak sprang in die Grube hinunter, um mit den Händen das freizulegen, was er für einen menschlichen Oberschenkelknochen hielt.

ZWEI
2007

HANS-JÜRGEN MANNHARDT blieb noch eine Viertelstunde, nachdem der Wecker geklingelt hatte, im Bett liegen und fand einfach nicht die Kraft, die Füße auf den Boden zu setzen und ins Bad zu gehen. Der Tag seiner Pensionierung rückte immer näher, und das lähmte ihn. Alles, was ihm durch den Kopf ging, hing mit Abschied und Vergänglichkeit zusammen.

Aber der Wagen, der rollt … Alles hat seine Zeit … The rest is silence … Der Rest ist Sterben …

Abschied ist ein scharfes Schwert, hatte Roger Whittaker gesungen, und was den Abschied von der Arbeit anging, da glaubte Mannhardt, dass ihm dieses Schwert den Kopf vom Rumpf schlagen würde. Seine Mordkommission war sein Leben, und wer sie ihm nahm, tötete ihn.

Kam er Heike, seiner Lebensgefährtin, mit seinen Depressionen, dann lachte die nur: «Was hast du all die Jahre über geklagt, dass du ausgebrannt bist, dass du es hasst, Mörder zu jagen, dass du nur deine Ruhe haben willst!» Und systematisch suchte sie ihm Sprüche heraus, die alles relativierten, wie etwa: Füge dich der Zeit, erfülle deinen Platz und räum ihn auch getrost: Es fehlt nicht an Ersatz! von Friedrich Rückert.

Ein schriller Schrei aus dem Kinderzimmer ließ ihn hochschnellen. Er lief über den Flur.

«Silvio, was ist?»

Der Junge zitterte am ganzen Leibe. Wie sich herausstellte, hatte er von einem Amokläufer geträumt.

«Der war auch in unserer Schule, Papa, und hat auf mich geschossen!»

Mannhardt verfluchte diese Welt. Es war unmöglich, die Kinder von allem abzuschirmen. Irgendwie kamen sie immer an Zeitungen und Magazine heran oder schalteten das Erwachsenenfernsehen ein, wenn die Eltern dachten, sie sähen Kika, den Kinderkanal.

«Ach, nimm das nicht so tragisch», sagte er zu seinem Sohn. «Ich habe den Krieg überlebt, da wirst du auch den Frieden überleben.»

Da erschien auch schon Heike auf der Bildfläche, nahm Silvio in den Arm und tadelte Mannhardt wegen seiner Worte. «Es wäre schön, wenn du einmal kindgerecht kommunizieren könntest.»

Wortlos entfernte er sich, um erst die Kaffeemaschine in Gang zu setzen und dann ins Bad zu gehen. Vielleicht konnten sie in Silvios Schule einen privaten Wachdienst installieren und ihn zum Chef bestimmen. Ehrenamtlich natürlich. Dann hätte er wenigstens etwas Sinnvolles zu tun.

«Ich rufe dann auf dem Schulhof alle Messerstecher zusammen, und wir organisieren richtige Berliner Meisterschaften. 2012 werden wir dann olympisch, und der erste Olympiasieger kommt aus Berlin. Mit Migrationshintergrund, aber voll integriert. Durch mich.»

Als er am Frühstückstisch saß, stellte sich heraus, dass Heike ihn schon verplant hatte.

«Wenn du erst pensioniert bist, kannst du ja vormittags für mich recherchieren, wenn ich etwas nicht schaffe.»

Sie war Journalistin und freute sich auf eine kostenlose Hilfskraft.

«Und nachmittags?», fragte er.

«Nachmittags kümmerst du dich um Silvio, machst mit ihm Schularbeiten und fährst ihn zum Sport und zum Klavierunterricht.»

Mannhardt lächelte selig. «Es war schon immer mein Traum, Hausmann und ‹alleinverziehender› Vater zu sein. Du musst mir nur genug Puderzucker hinstellen.»

Heike hing sofort vor Wut an der Decke, denn nichts ärgerte sie mehr als sein Vorwurf, sie würde dem Sohn pausenlos «Puderzucker in den Arsch blasen», wie er gern sagte.

«Ich weiß, deine großen Kinder …»

Die hatte er aus seiner ersten Ehe, und wenn sie mit denen anfing, verstand er das als Kriegserklärung. So stand er auch heute abrupt vom Frühstückstisch auf. «Ich gehe jetzt lieber …»

«Erst fährst du Silvio zur Schule, du bist heute dran.»

«Okay, erst die Pflicht, dann die Flucht.»

Also blieb er, obwohl er sich den Stress, der nun begann, gern erspart hätte, denn Silvio ging nur sehr ungern zur Schule. Mannhardt hatte volles Verständnis dafür, so sehr Heike ihn deswegen auch verwarnte. Sie hätte gern ein Kind gehabt, das in Deutsch so sprachgewaltig war wie Günter Grass, in Mathematik so beschlagen wie Leonhard Euler, in Physik so genial wie Albert Einstein, in Kunst so einzigartig wie Pablo Picasso und in Sport so talentiert wie Dirk Nowitzki. Für Mannhardt dagegen war das Glück das Maß aller Dinge, und er hasste es, wenn Kinder in der Schule abgerichtet wurden, um vielleicht einmal an einer der Eliteuniversitäten studieren zu können. Ihm hätte es gereicht, wenn sein Sohn ein glücklicher Fahrer bei der Berliner S-Bahn geworden wäre.

«Papa, bist du eigentlich immer gern zur Schule gegangen?», fragte der Sohn, als sie im Auto saßen.

«Natürlich», log Mannhardt. «Es ist doch ein Segen, dass es die Schule gibt. Stell dir mal vor, wir würden nicht schreiben und lesen lernen. Was dann? Dann könnten wir den ganzen Tag nichts weiter tun, als vor der Glotze zu sitzen.»

«Das wär doch geil.»

Mannhardt stöhnte auf. Zum einen wegen der mit übermäßigem Fernsehgenuss verbundenen Volksverblödung, zum anderen, weil er immer heftig darunter litt, wenn die Kids das Wort «geil« verwendeten. In seiner Jugend hatte es einzig und allein für sexuelle Erregung gestanden, und als pubertierende Knaben hatten sie gereimt: «An den Akku angeschlossen, / vögelt Fickfack unverdrossen. / Kerzen, Möhren und Bananen, / ja, der Laie kann’s kaum ahnen, / was dieses geile Weib/schob sich in den Unterleib.»

Als er den Jungen vor der Schule absetzte, tat er ihm maßlos leid. Anstatt zu spielen und zu juchzen, musste Silvio sich jetzt mit Mathematik und Grammatik abquälen, und es überwog noch immer der Frontalunterricht preußischer Prägung. Was mussten jene Kinder leiden, die nicht einsehen wollten, warum es Pferd hieß und nicht Ferd, obwohl nur Bekloppte das P vorne deutlich aussprachen. Ohne kräftig Tröpfchen in die Luft zu spucken, ging das gar nicht.

Was ihn tröstete, war derselbe Operettenvers aus der Fledermaus von Johann Strauß, der schon seinen Eltern geholfen hatte: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Und wer immer strebend sich bemühte, dem wurde ja die Erlösung versprochen. Gut war nur, dass die Kinder nicht für das Leben lernten wie er früher, sondern nur für die Schule, denn das ließ hoffen.

 

Seit langem schon hatte Mannhardt auf das Auto verzichtet und setzte sich in die U-Bahn, um von Tegel aus ins Büro zu fahren. Dies war aber im Augenblick alles andere als eine Freude, denn zwischen Alt-Tegel und Kurt-Schumacher-Platz wurde die U6 runderneuert, und man musste den Bus benutzen. Und wenn er eines hasste, dann den Schienenersatzverkehr.

Heike arbeitete gerade an einer Radiosendung über die Berliner U-Bahn, und mit Vergnügen blätterte er immer wieder in ihrem Manuskript. 144,9 Kilometer Streckenlänge, 170 Bahnhöfe, seit 1902 in Betrieb. Schön waren die Geschichten um die U-Bahn. Ein George A. Goldschlag hatte sogar Die Ballade von der Untergrundbahn gedichtet, mit Versen wie: Elfmal jährlich, laut Statistik,/Springt ein Mensch mit schrillem Schrei/Als verkörperte Ballistik/Vor den Zug und wird zu Brei. Ab und an wurde auch die Mordkommission gerufen, wenn es hieß «Person im Gleis», denn es fielen nicht nur Selbstmorde und Unfälle an, sondern ab und an wurde auch jemand auf die Gleise gestoßen.

Die Busfahrt bis zum Kurt-Schumacher-Platz nervte, und an der provisorischen Endhaltestelle war der Zug in Richtung Alt-Mariendorf schon voll bis oben hin, aber er konnte sich gerade noch hineinquetschen.

Der Mensch, so hatte es bei Heike ein Psychologe ausgedrückt, sei ein Distanztier, und innerhalb von sechzig Zentimetern befinde man sich in der Intimzone des anderen. Schnell hatte Mannhardt herausgefunden, dass er sich bereits in der Intimzone von drei Frauen gleichzeitig aufhielt, ohne dabei jedoch auch nur ein Mindestmaß an Lust zu empfinden. Die eine litt unter Akne und roch nach faulendem Heu, die zweite war vom Kaliber «Alles hört auf mein Kommando!» und jagte ihm nur Angst und Schrecken ein, und die dritte war zwar jung und morgenschön, aber so dämlich, dass es schon weh tat. Wie sie mit ihren Klassenkameradinnen kommunizierte, rechtfertigte jede Befürchtung, nach der die Deutschen im intellektuellen Wettbewerb mit anderen Völkern hoffnungslos unterlegen sein würden. Da aber auch die drei Frauen ihn abscheulich fanden, war das Unbehagen geradezu mit Händen zu greifen. Man mied jeden Blickkontakt, schaute auf den Bildschirm an der Decke des Waggons, auf dem die neuesten Nachrichten flimmerten, oder in eine unbestimmte Ferne. Mannhardt erinnerte sich an eine Szene aus Heikes Feature, in der vom englischen Premierminister Tony Blair berichtet wurde, wie der einmal – ganz volksverbunden – in der U-Bahn eine Sitznachbarin angesprochen hatte und mit einem bösen Blick und eisigem Schweigen abgestraft worden war.

Um nicht der Frottage bezichtigt zu werden, dem Reiben der Genitalien am Körper eines anderen, und damit als Sittenstrolch dazustehen, versuchte Mannhardt, sich so wenig wie möglich zu bewegen und den Frauen den Rücken zuzuwenden. Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass sich in Tokio, wo das Grapschen zur Manie geworden war, die Männer demonstrativ mit beiden Händen oben an den Griffen festhielten, um nicht in Verdacht zu geraten.

Am Leopoldplatz hatte er von der U6 in die U9 umzusteigen. Eine Zeitung hatte am letzten Ersten gemeldet, die großen Clubs des American Football würden ihre Spieler zum Training auf die großen Berliner Umsteigebahnhöfe schicken, und dazu einen Star der Berlin Thunder abgebildet. Natürlich war das ein Aprilscherz gewesen, doch er hatte es für logisch gehalten und geglaubt. Auch heute wieder verspürte er eine gewisse Regung, seine Dienstwaffe zu ziehen und wenigstens in die Luft zu schießen, um den Zug auf dem unteren Bahnsteig zu erreichen. Ohne dieses Mittel hatte er keine Chance gegen die Lahmärsche, die ihm den Weg versperrten. Als er endlich unten angekommen war, hörte er nur noch das harsche «Zurückbleiben bitte!», und weg war sein Zug.

Sein Vater hatte bei solchen Anlässen immer gemurmelt: «Wieder habe ich einen fahren lassen.» Dass damit das Flatieren gemeint war, verstand heute kein Mensch mehr, ebenso wie sie ihn ahnungslos ansahen, wenn er den Kollegen erzählte, dass ihr neuer Vorgesetzter im Flur «einen Koffer« habe stehen lassen. Sein Großvater hatte immer eine diebische Freude daran gehabt, in der überfüllten U- oder S-Bahn «einen durch die Reihen schleichen« zu lassen.

Das war das Schöne an der U-Bahn, dass der nächste Zug schon nach fünf Minuten kam. Und er bekam sogar einen Sitzplatz. In seinem Alter hatte er auch einen Anspruch darauf.

Zoologischer Garten stieg Mannhardt aus und überlegte einen Augenblick, ob er in die U2 umsteigen und bis zum Wittenbergplatz fahren oder zu Fuß zu seiner Dienststelle in der Keithstraße laufen sollte. Schließlich entschied er sich für den Fußweg, denn es war immer ganz spannend, an der Rückseite des Zoologischen Gartens entlangzulaufen. Links hatte man die Kolonnaden mit ihren vielen Läden, das Aquarium und den Nebeneingang des Zoos, rechts den Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche und den Prachtbau der Grundkreditbank.

Ein Tourist aus St. Irgendwo sprach ihn an. Wo denn hier der Olof-Palme-Platz sei.

Mannhardt zuckte mit den Schultern. «Tut mir leid, nie gehört.»

Sekunden später sah er anhand der Schilder, dass er mitten auf dem Olof-Palme-Platz stand, einer Ausbuchtung der Budapester Straße an ihrer Kreuzung mit der Nürnberger und der Kurfürstenstraße. Peinlich. Besonders für einen Kriminalbeamten. Schnell machte er, dass er weiterkam.

Die Tage, die Mannhardt noch ins Büro ging, waren gezählt, und sein Nachfolger saß schon bei ihm im Zimmer, um eingearbeitet zu werden. Der Kollege hörte auf den Namen Rico Schönbier und war noch so jung, dass es eine einzige Provokation war. Mannhardt hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Schönbier sah aus wie ein hoffnungsvoller Fußballer aus der Oberliga, die Haare teilweise blond gefärbt und mit viel Gel zu Stacheln aufgerichtet und geistig nur so weit entwickelt, dass es seine Instinkte beim Passen und Toreschießen nicht sonderlich störte. Das Fitnessstudio war sein zweites Zuhause. Dort holte er sich die Kondition, um durch die Clubs der Stadt zu ziehen und ständig neue Frauen zu beglücken. Hörte er das Wort Kultur, schrie er nur «Scheiße!» und machte sich aus dem Staub. Auch von Politik hielt er nichts und vermied es, sich die Namen der Akteure zu merken. «Wenn ich die bei mir im Gehirn speichere, tue ich diesen Hanseln doch zu viel Ehre an.» Aber auch um die Heroen des Showgeschäfts, der Medien und des Sports kümmerte er sich wenig. «Was interessieren mich diese Arschlöcher?!» Er, Rico Schönbier, war das Maß aller Dinge, und an ihm gemessen waren das alles nur Blender. «Von irgendwelchen Idioten hochgepusht, um Geld mit ihnen zu machen.»

Mannhardt hasste «geistige Tiefflieger« wie Schönbier und sagte des Öfteren zu Heike, dass Oswald Spengler bei dessen Anblick den Untergang des Abendlandes neu geschrieben hätte, doch gegen Schönbier war nicht anzukommen, denn alle seine Prüfungen hatte er mit Einsen und Zweien bestanden, und auch seine dienstlichen Beurteilungen ließen nichts zu wünschen übrig.

Mühsamer als sonst stieg Mannhardt die Treppen zu seinem Büro hinauf, sich dabei selber verspottend: Der alte Mann und das Gehtnichtmehr. Wie viele Morde mochte er in seinen mehr als vierzig Dienstjahren aufgeklärt haben? Schätzungsweise 250. Nicht er allein, die Mordkommissionen, in denen er gearbeitet hatte. Und der nächste würde vielleicht der letzte sein.

Yaiza Teetzmann lief vor ihm her, seine langjährige Kollegin und engste Vertraute. Stellte er sich die Frage, was er in seinem Leben am meisten bedauerte, dann war es die Tatsache, nie mit ihr geschlafen zu haben. Blieb ihm nur sein Fontane als Trost: Eigentlich ist es ein Glück, ein Leben lang an einer Sehnsucht zu lutschen.

Sie musste ihn hinter sich gespürt haben, denn sie blieb stehen und drehte sich um. «Danke für die Einladung zu deiner Abschiedsparty.»

«Bitte.» Mannhardt schnaufte ein wenig, als er sie eingeholt hatte. «Es wird ein Top-Event werden. Wie damals im alten Rom, als Petronius Abschied von allen und allem genommen hat.»

«Wer war Petronius?»

«Ein römischer Schriftsteller und Satiriker, ein Weltmann am Hofe Neros, der ‹Schiedsrichter des feinen Geschmacks›. Als Nero ihn bezichtigte, an einer Verschwörung gegen ihn teilgenommen zu haben, und ihm die Hinrichtung drohte, beging er vorher Selbstmord. Dazu lud er alle seine Freunde ein, schnitt sich in deren Gesellschaft die Pulsadern auf, tauchte die Arme in eine Schüssel mit warmem Wasser und dämmerte langsam dahin.»

Yaiza Teetzmann verstand die Zusammenhänge nicht ganz. «Hat dir denn der Polizeipräsident angedroht, dich verhaften und einsperren zu lassen?»

«Es geht darum, dass ich stilvoll von allem Abschied nehmen möchte.»

«Eine Pensionierung ist doch kein Todesurteil.»

«Für mich schon.»

Yaiza Teetzmann lachte. «Du kannst doch versuchen, wieder Lehrveranstaltungen an der Fachhochschule zu bekommen.»

«Ja, keine schlechte Idee: Opa erzählt euch mal, wie wir damals den Berliner S-Bahn-Mörder und die Bestie vom Schlesischen Bahnhof zur Strecke gebracht haben.»

«So alt bist du doch nun auch wieder nicht.» Mannhardt stöhnte auf. «Man ist immer so alt, wie man sich fühlt – und mein gefühltes Lebensalter liegt heute bei 110.»

«Genau das richtige für einen Polizeibeamten.» Mannhardt schwieg. Yaiza Teetzmann würde ihm fehlen. Nicht nur ihres Anblicks wegen.

Schönbier wartete schon in der Tür seines Büros. Mannhardt nannte das «Zimmerbesetzung», aber er hatte sie nicht verhindern können. Wie jedes Lebewesen reagierte er erbost darauf, ein anderes Männchen in seinem Revier zu sehen.

«Grüß Gott», murmelte Mannhardt, weil er wusste, dass sich Schönbier darüber ärgerte. «Was gibt es Neues?»