Mit Feuereifer

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Horst Bosetzky

Mit Feuereifer

Kappes 14. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von ihm die Werke «Kempinski erobert Berlin» (2010), «Bücherwahn» («Es geschah in Berlin 1928», 2010), «Am Tag, als Walter Ulbricht starb» (mit Jan Eik, in der Reihe «Berliner Mauerkrimis», 2010) und «Rumbalotte» (2010).

Originalausgabe

1. Auflage 2011

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520137

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINS

MAN SCHRIEB den 30. Juni 1934. Es sollte der Tag werden, an dem in Deutschland ein Morden ohnegleichen begann. Bis zum 2. Juli mussten über zweihundert Menschen ihr Leben lassen.

Eugen von Kessel saß in seinem Büro am Rande des Tiergartens und unterhielt sich mit einem englischen Journalisten über dieses und jenes. Wer mit Nachrichten handelte, hatte seine Kontakte zu pflegen. Geben und nehmen hieß die Devise.

Auf dem Notizzettel von Mr. Hounslow stand einiges über Eugen von Kessel: Geboren 1890 in Frankfurt am Main. Im Krieg bei der Artillerie, 1918 Oberleutnant. Nach Kriegsende beim Freikorps des Obersten Reinhard, möglicherweise an einigen Fememorden beteiligt. In der Weimarer Republik im Polizeidienst, zuletzt Polizeihauptmann. Danach privates Nachrichten-Bureau. 1933 Eintritt in die NSDAP. Zusammenarbeit mit der Gestapo.

Mr. Hounslow schrieb an einem Artikel über Ernst Oberfohren, den Reichstagsabgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei, der DNVP, den man am 7. Mai 1933 erschossen in seiner Wohnung aufgefunden hatte.

«Herr von Kessel, Oberfohrens persönliche Feindschaft mit dem NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse ist bekannt. Es gibt Gerüchte, dass sein Mörder aus den Kreisen um Lohse kommt.»

«Es handelt sich eindeutig um einen Freitod», erklärte Eugen von Kessel. «Oberfohren wollte Front gegen Hugenberg machen und ist damit kläglich gescheitert. Als die Braunschweigische Landeszeitung ihn an den Pranger gestellt hatte, war er völlig isoliert und hat keinen anderen Weg mehr gesehen.»

Sie diskutierten noch eine Weile über den Fall Oberfohren, dann wollte Eugen von Kessel wissen, ob es in den USA, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Schweden ernsthafte Versuche gäbe, die Olympischen Spiele in Berlin zu boykottieren. Informationen zu diesem Thema ließen sich die Herren Heydrich, Göring und Goebbels immer etwas kosten.

Mr. Hounslow überlegte einen Augenblick. «Was die USA betrifft, so rate ich der Reichsregierung, in der Judenfrage umsichtiger vorzugehen. Was im Deutschen Reich mit den Juden geschieht, löst drüben große Empörung aus, und ich bin mir sicher, dass die Fair-Play-Bewegung einen Boykott der Olympischen Spiele durch die USA durchsetzt, wenn auch nur ein jüdischer Sportler daran gehindert wird, in Berlin an den Start zu gehen. Aber auch in Paris brodelt es, und man denkt an die Gründung eines Comité international pour le respect de l’esprit olympique.»

Eugen von Kessel bedankte sich bei Mr. Hounslow und ließ sich, nachdem der Brite gegangen war, von seiner Sekretärin neuen Kaffee aufbrühen, um über das Gehörte nachzudenken. Hitler brauchte die Olympischen Spiele, um sich der Welt als Friedensfürst und Meister der Organisation zu präsentieren, und dazu war es nötig, Gestapo, SA und SS gehörig zu bremsen. Was die anpackten, erschien von Kessel zu blind und zu plump, und was sich in ihren Reihen tummelte, war in seinen Augen zumeist Pack und Gesindel. Es war Zeit, dem Führer die Augen zu öffnen.

Während Eugen von Kessel über die nächsten Schritte nachdachte, hörte er draußen im Vorzimmer Tumult. Stühle fielen um, seine Sekretärin schrie auf. Er erhob sich, um nachzusehen, was da im Gange war.

In diesem Augenblick wurde seine Tür aufgestoßen, und ein Trupp SS-Männer stürmte herein. Auch Gestapo-Leute waren dabei. Einen von ihnen kannte er, den Zäcklau. Doch ehe er fragen konnte, was um Gottes willen denn los sei, hatten die Eindringlinge ihre Pistolen herausgerissen.

«Seid ihr denn verrückt geworden!»

Ohne ein Wort zu verlieren, schossen die Männer ihre Magazine leer.

Eugen von Kessel sank hinter seinem Schreibtisch zusammen.

Konrad Zäcklau genoss diesen Tag. Später sollte er seiner Frau erzählen, er sei sich wie ein Kammerjäger vorgekommen. «Alles Ungeziefer muss ausgerottet werden!»

Jetzt ging es zum Reichsverkehrsministerium in der Wilhelmstraße, um mit dem Ministerialdirektor Dr. Erich Klausener abzurechnen. Der stand aus zweierlei Gründen auf der Abschussliste, die ihnen der Gestapo-Chef Reinhard Heydrich am Vormittag in die Hand gedrückt hatte: Zum einen galt Klausener als «gefährlicher Katholikenführer» und hatte Kundgebungen gegen kirchenfeindliche Gruppierungen organisiert, und zum anderen war er vor 1933 als Beamter im preußischen Innenministerium gegen die Ausschreitungen der Nationalsozialisten vorgegangen.

Vor Zäcklau lief der SS-Hauptsturmführer Kurt Gildisch, der in Heydrichs Gunst ganz weit oben stand und, wenn alles glattging, mit einer Beförderung zum SS-Sturmbannführer rechnen konnte: «Sie übernehmen den Fall Klausener, der von Ihnen persönlich zu erschießen ist!» Zäcklau beneidete Gildisch um diesen Auftrag. Er hasste alle Katholiken, zumal die meisten auch noch schwul waren.

Im Verkehrsministerium angekommen, ließ Gildisch das Begleitkommando unten auf der Straße warten und ging mit Zäcklau in das erste Stockwerk, wo die von Dr. Klausener geleitete Schifffahrtsabteilung untergebracht war. Gildisch trug seine SSUniform und hatte einen Stahlhelm aufgesetzt. Im Koppel steckte in einer Ledertasche seine Dienstpistole, eine Parabellum vom Kaliber 9 Millimeter. Außerdem führte er in der rechten Hosentasche eine geladene Privatpistole bei sich, eine Mauser vom Kaliber 7,65 Millimeter.

Als sie einen Amtsgehilfen nach dem Zimmer von Klausener fragten, trat dieser gerade in Hemdsärmeln auf den Flur hinaus.

«Herr Doktor, hier sind zwei Herren, die Sie zu sprechen wünschen.»

Klausener machte kehrt, begrüßte Gildisch und Zäcklau und hielt ihnen die Tür auf. «Bitte sehr, meine Herren, treten Sie ein. Womit kann ich dienen?»

Gildisch wartete, bis alle im Zimmer waren, und schloss dann die Tür. «Ich habe den Befehl, Sie im Auftrag der Geheimen Staatspolizei wegen staatsfeindlicher Umtriebe zu verhaften.»

Klausener nahm das äußerst gefasst zur Kenntnis und bat Gildisch, noch einiges im Schreibtisch einschließen zu dürfen: «Mein Gehalt, das ich eben erhalten habe, sowie einige Wertsachen.»

«Ja, machen Sie», beschied Gildisch und wies Zäcklau mit einer energischen Handbewegung an, zum offenstehenden Fenster zu gehen, um einen möglichen Fluchtversuch Klauseners zu vereiteln.

 

Zäcklau tat, wie ihm geheißen, obwohl es an sich gegen die Ehre eines Gestapo-Mannes verstieß, sich von der SS etwas befehlen zu lassen. Vom Fenster aus konnte er genau verfolgen, was nun geschah.

Klausener ging, nachdem er Geld, Uhr und Ringe im Schreibtisch eingeschlossen hatte, zum Kleiderschrank, zog sein Jackett an und wandte sich daraufhin zum Garderobenständer neben der Tür, um nach seinem Hut zu greifen.

In diesem Augenblick drehte er Gildisch den Rücken zu, und der zögerte nun keine Sekunde mehr. Schnell hatte er seine Privatpistole aus der Hosentasche gezogen und auf Klausener gefeuert. Aus einer Entfernung von anderthalb Metern traf ihn die Kugel rechts hinten in den Schädel. Klausener stürzte sofort tot zu Boden.

«Wieder ein Schwein weniger», sagte Gildisch und kniete sich neben Klausener, um sich von dessen Ableben zu überzeugen. Danach erhob er sich und ging zum Diensttelefon, um Heydrich zu informieren.

«Gut gemacht, Gildisch! Und jetzt legen Sie Ihre Pistole neben Klauseners Arm, damit es nach Selbstmord aussieht.»

Die am 30. Juni sowie dem 1. und 2. Juli 1934 von Angehörigen der SS, der Gestapo, einzelner Landespolizeigruppen und der Reichswehr begangenen Morde und Massaker sollten unter dem Begriff Röhm-Putsch in die Geschichte eingehen. Dabei hatte Ernst Röhm, Hitlers alter Weggefährte und Stabschef der SA, an diesen Tagen gar keine offene Revolte im Sinn gehabt, sondern seine SA nach einem Gespräch mit dem Führer in den Urlaub geschickt und sich selbst zur Kur nach Bad Wiessee begeben. In der Pension «Hanselbauer» war er untergekommen, und dort stand Hitler eines Nachts mit einer Peitsche in der Hand in seiner Schlafzimmertür, hinter sich zwei Kriminalbeamte mit entsicherten Pistolen.

«Röhm, du bist verhaftet!»

Schlaftrunken blickte Röhm aus den Kissen seines Bettes und stammelte: «Heil, mein Führer!»

«Du bist verhaftet!», brüllte Hitler ein zweites Mal.

Röhm wurde ins Gefängnis München-Stadelheim geschafft und dort auf Hitlers Befehl erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, mit einer in die Zelle gereichten Pistole Selbstmord zu begehen.

Damit war die Machtfrage geklärt. Röhm, ohnehin schon zweiter Mann hinter Hitler, und die SA-Führung hatten ihre Organisation als eigentliche Trägerin der nationalsozialistischen Bewegung gesehen und sie mittelfristig zur neuen Reichswehr machen wollen, was die Karrierechancen der NSDAP-Größen Göring, Himmler und Goebbels minderte und den Generälen gar nicht schmeckte. Neben aktiven SA-Leuten in ganz Deutschland wurden «in einem Aufwasch» auch Oppositionelle aus Politik und Kirche verhaftet und erschossen, darunter Gregor Strasser, General Ferdinand von Bredow, der ehemalige Reichskanzler General Kurt von Schleicher und der ehemalige bayerische Ministerpräsident Gustav Ritter von Kahr. Beseitigt wurden aber auch Männer, die zu viel wussten.

In der NS-Presse wurde Hitler als Opfer eines hinterhältigen Putsches dargestellt und die Liquidierung der Gegner mit einem nachträglich erlassenen «Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr» legalisiert.

«Ich habe den Befehl gegeben, die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu erschießen, und ich gab weiter den Befehl, die Geschwüre unserer inneren Brunnenvergiftung … auszubrennen bis auf das rohe Fleisch», erklärte der Führer am 13. Juli 1934 in einer Rundfunkrede.

Für alle Schwulen im Deutschen Reich sollte der Röhm-Putsch tragische Folgen haben, denn Erich Röhm hatte seine Homosexualität vergleichsweise offen ausgelebt, und nun wurden Homosexuelle als Staatsfeinde betrachtet, so dass sich alle pathologisch homophoben Menschen ans Werk machen konnten, den deutschen Volkskörper zu reinigen. Ihre Waffe war der Paragraph 175, und in den Konzentrationslagern hatten zwischen zehn- und fünfzehntausend Homosexuelle den «Rosa Winkel» zu tragen. Die Sterberate lag bei über fünfzig Prozent.

ZWEI

HERMANN KAPPE schlug mit der flachen Hand so kräftig auf den lärmenden Wecker, dass der fast vom Nachttisch fiel, und verfluchte den neuen Tag, was auch immer er bringen würde, denn etwas Gutes konnte es kaum sein. Wie denn auch im Jahre drei nach A. H., also nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, und angesichts der Tatsache, dass er, Hermann Kappe, unaufhaltsam auf die fünfzig zuging? Gestern, am 11. Februar 1936, hatten sie seinen 48. Geburtstag gefeiert und dabei nicht wenig getrunken. Kein Wunder, dass er heute einen ziemlichen Brummschädel hatte.

«Hermännchen, aufwachen!» Seine Frau begann ihn wachzurütteln.

«Heute ist Montag», brummte Kappe. «Blauer Montag. Ich bin noch blau, und ich mache heute blau.»

Klara wurde energisch. «Das kannst du nicht, der Kinder wegen. Wenn die das weitererzählen, dann …»

Kappe fuhr hoch. Die Worte HJ und BDM waren gar nicht gefallen, aber er wusste genau, dass die Führer und Führerinnen in beiden Jugendorganisationen nichts unversucht ließen, Hartmut und Margarete über ihn auszuforschen, stand er als alter SPDMann doch im Verdacht, Kontakte zum Widerstand zu unterhalten. Und seinen Gegnern kam es nur zupass, wenn er sich dienstlich etwas zuschulden kommen ließ. Hatte man früher ein paar Dienststunden geschwänzt, war man angeraunzt und höchstens als fauler Sack beschimpft worden, heute aber war das gleich Sabotage am deutschen Volke und Hochverrat. Also raffte er sich auf, wusch sich mit eiskaltem Wasser und versuchte, seinen Kater mit starkem Kaffee und einem Rollmops zu bekämpfen.

Ihm grauste es vor dem unaufhörlichen Händeschütteln, das ihn im Dienst erwartete, vor allem, wenn seine Vorgesetzten ihm die Ehre erwiesen. Da gab es sicherlich auch noch ein paar aufrechte Männer, aber das Sagen hatten diejenigen, die aus der NSBAG hervorgegangen waren, der Nationalsozialistischen Beamten-Arbeitsgemeinschaft, an ihrer Spitze Alfred Mundt, Erich Liebermann von Sonnenberg und Arthur Nebe. Die beiden Letztgenannten standen in enger Verbindung zu Kurt Daluege, einem früheren Wegbegleiter Adolf Hitlers, der für die NSDAP im preußischen Landtag gesessen hatte und im Auftrag Hermann Görings die Polizei zuerst von roten Elementen und dann von Anhängern Ernst Röhms gesäubert hatte. Er war derzeit Leiter der Polizei-Abteilung im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern, sollte aber bald Himmlers Stellvertreter als «Chef der Deutschen Polizei» werden.

Unter den Mordkommissaren gab es «so ’ne und solche». Im Kreise der einen war Kappe ziemlich isoliert, denn die hatten durchweg eine andere soziale Herkunft als er und schon früh auf die Karte NSDAP gesetzt. War er der Sohn eines einfachen Fischers aus Wendisch Rietz und hatte wegen einer Stoffwechselkrankheit nicht Soldat werden müssen, entstammten die anderen zumeist der zwischen 1890 und 1900 geborenen «jungen Frontgeneration» des Bürgertums, hatten das Abitur gemacht, als Soldaten im Weltkrieg gekämpft und im Anschluss daran an Freikorpsoperationen teilgenommen. Vor oder während ihrer Kommissarausbildung hatten sie studiert, waren aber 1930 im Beförderungsstau steckengeblieben und dann aus Frust zu den Nationalsozialisten übergelaufen.

Auch mit den Kollegen, die aus der alten kaiserlichen Beamtenschaft stammten und die Weimarer Republik von Anfang an gehasst hatten, konnte Kappe nicht viel anfangen. Zu seinem Glück existierte noch eine dritte Gruppe: Männer, die meist überzeugte Hitlergegner waren, zumindest aber den Nationalsozialisten keinerlei Sympathien entgegenbrachten, an ihrer Spitze Ernst Gennat. Aber auch anderen war Kappe freundschaftlich verbunden, so Wilhelm Meyer von der Politischen Polizei, Kriminaldirektor Fritz Scherler, dem Leiter des Straßendienstes der Abteilung IV, und Kriminalpolizeirat Reinhard Heller.

Kappe konnte also mit Kollegen rechnen, die ihre Hand schützend über ihn hielten, auch wenn er mit Bernhard Weiß seinen einflussreichsten Förderer verloren hatte. Weiß, Jude und wie Walther Rathenau Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, hatte als Chef der Kriminalpolizei und stellvertretender Polizeipräsident erbittert gegen die Nationalsozialisten gekämpft und war in mehr als sechzig Prozessen gegen Goebbels vorgegangen. Er hatte aber 1932 alle Ämter verloren und 1933 aus Deutschland fliehen müssen.

Noch gab es für die Kriminalkommissare keine Zwangsmitgliedschaft in der NSDAP. Um bei der Kripo arbeiten zu können, musste man aber den «Ariernachweis» erbringen, Mitglied in einer der Gruppierungen der NSDAP sein und eine «unbedingte politische Zuverlässigkeit» vorweisen. Was den ersten Punkt betraf, hatten sowohl Kappe als auch seine Frau einen einwandfreien Stammbaum, und beim zweiten Punkt konnte er gleich zwei Mitgliedschaften vorweisen, zum einen die im Reichsbund der Deutschen Beamten und zum anderen die in der NS-Volkswohlfahrt. Nur beim dritten Kriterium stand in seiner Personalakte ein großes Fragezeichen.

Wie jeden Morgen marschierte Kappe mit dem Gedanken «Auf in den Kampf!» ins Büro. Seit sie von der Hufeisensiedlung in Britz in die Große Frankfurter Straße gezogen waren, nahe der Kreuzung Lebuser Straße, brauchte er nicht mehr mit der Straßen- und der S-Bahn ins Büro zu fahren, obwohl er das eigentlich ganz gern getan hatte. Da kam man so richtig unter Menschen. Klara war das immer ein wenig «popelig» vorgekommen, und sie träumte davon, mit der ganzen Familie schon bald in einem der KdF-Wagen zu sitzen, von denen im Februar viel in der Zeitung gestanden hatte, dem sogenannten Volkswagen.

Kappe brauchte zu Fuß nicht länger als siebzehn Minuten bis zum Präsidium, heute aber, da ihm ein wenig taumelig war, lief er lieber zum Strausberger Platz und setzte sich in die U-Bahn. Am Alexanderplatz kaufte er sich einen Völkischen Beobachter. Das war das «Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands» und zeigte oben in der Mitte einen Adler, der einen Ährenkranz in den Fängen hielt. Darin schwebte ein vergleichsweise kleines Hakenkreuz. Zwar hasste er diese Zeitung und hätte sie am liebsten in handliche Stücke zerschnitten und auf die Toilette gehängt, aber sie war unentbehrlich für ihn. Ging er damit durch die Gänge des Polizeipräsidiums, machte das bei den hohen Herren einen guten Eindruck und schützte ihn vor jeder Verdächtigung.

Gustav Galgenberg, sein altgedienter Kollege, war noch nicht zugegen, und so konnte Kappe erst einmal ein paar Minuten den entgangenen Nachtschlaf nachholen. Er musste richtig eingenickt sein, denn er erschrak fürchterlich, als Galgenberg plötzlich im Zimmer stand und rief: «Hände hoch! Kriminalpolizei!»

Kappe fasste sich an den Kopf. «Mann, hast du mich erschreckt.»

«Zankt euch nicht, und haut euch nicht, spuckt euch lieber in’t Gesicht», sagte Galgenberg, dann gratulierte er Kappe zum Geburtstag.

«Du warst doch gestern schon da und hast mir gratuliert.»

«Ja, aber nachträglich is doch viel schöner.» Galgenberg ließ seinen Hut elegant auf den Garderobenhaken segeln. «Wenn det ’n Wettbewerb bei der Olympiade wäre, würde ick die Goldmedaille jewinnen.» Dann plumpste er auf seinen Stuhl, borgte sich den Völkischen Beobachter und machte sich an die Lektüre. Zwar fehlte ihm sein Berliner Tageblatt, aber was sollte man machen.

«Was gibt’s denn Neues?», fragte Kappe.

«Noch drei Tage bis zu den Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen.»

«Ich mag weder Eis noch Schnee», brummte Kappe.

«Hier, det wär ’n Jeburtstagsgeschenk für dich jewesen: Großempfänger Mende 215 WH - Die neueste Schöpfung von Mende. Damit kannste jede Rede des Führers janz laut hören.»

Kappe konnte darauf nichts entgegen, denn in diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft, und auf sein «Ja, bitte, herein!» erschien sein Neffe Otto, Sohn seines älteren Bruders Oskar.

Otto war 25 Jahre alt und im letzten Jahr von der Schutzpolizei zur Kripo gekommen, nicht ganz ohne Kappes Mithilfe. Er war ihm ähnlicher als sein eigener Sohn, und Kappe hatte irgendwie einen Narren an ihm gefressen. Otto hatte all das, was er selbst nicht hatte, vor allem die schnelle Intelligenz und eine gewisse Weltgewandtheit. Klar, er war ja auch nicht in Wendisch Rietz und Storkow aufgewachsen, sondern in Berlin.

«Jetzt steht endlich fest, wann wir heiraten!», rief Otto. «Am 27. Juni.»

«Na, phantastisch!», rief Kappe und staunte selber, wie temperamentvoll und emphatisch er auf diese Nachricht reagierte.

«Heirate, und du lachst dir tot», sagte Galgenberg.

Als Otto Kappe wieder gegangen war, machten sie erst einmal Frühstück, und danach erschien Konrad Zäcklau bei ihm im Büro, um seine Geburtstagsglückwünsche an den Mann zu bringen.

 

«Herzlichen Dank», sagte Kappe, während er dachte: Die Mörder sind unter uns. Er wusste, dass Zäcklau während des Röhm-Putsches mehrere unschuldige Menschen erschossen hatte, und betete immer wieder, dass einst der Tag kommen möge, an dem man Zäcklau und seinesgleichen den Prozess machen konnte. Aber noch sah es so aus, als würde Hitlers Reich wirklich tausend Jahre dauern.

Kappes Schreibtisch war aufgeräumt, ein neuer Fall lag nicht an. Da galt es, sich um die «nassen Fische» zu kümmern, die ungelösten Fälle, aber dazu hatte er heute Morgen wenig Lust. In solchen Phasen seines Berufslebens bestand die große Kunst darin, ungemein geschäftig zu wirken, damit keiner der Vorgesetzten merkte, dass man eigentlich nichts zu tun hatte, und einem eine Tätigkeit aufhalste, die grausam war. Er entschied sich, vor dem Aktenstudium noch die Toilette aufzusuchen.

«Mach det», sagte Galgenberg, als Kappe ihm sein Vorhaben angekündigt hatte. «Und sei froh, det de kannst. Meine Frau braucht imma ’n Abführmittel, det mischt se sich unters Essen. Aus Vasehn hab ick am Sonnabend ihren Tella jekriegt … Und nachher hatten wa unsa Klosett schön braun jestrichen, det hätte jlatt ’n SA-Lokal sein könn’.»

«Pst!»

Auf dem Weg zur Toilette lief Kappe Kriminalrat Dr. Walter Zirpins über den Weg.

«Hallo, mein Lieber, zu Ihnen wollte ich gerade!»

Kappe war mehr erschrocken als erfreut über diese Mitteilung, denn er hielt den SS-Sturmbannführer für einen üblen Burschen.

«Wieso, habe ich was verbrochen?»

«Nein, das nicht, aber was nicht ist, kann ja noch werden.» Dr. Zirpins lachte. «Im Ernst, ich soll mir für das Polizeiinstitut Charlottenburg etwas einfallen lassen, damit sich Fälle wie die von unserem Onkel Ticktack nicht mehr wiederholen. Dazu müsste ich zum Prozess nach Schwerin, bin aber im Augenblick unabkömmlich und schlage deshalb vor, dass Sie mich dort vertreten.»

Das Wort Schwerin löste bei Kappe sofort positive Assoziationen aus, denn der Feldherr Christoph Graf von Schwerin, der 1757 in der Schlacht bei Prag für Friedrich den Großen den Heldentod gestorben war, stand bei ihm hoch im Kurs.

«Schwerin», murmelte Kappe. «Ja, natürlich.» Bei Dr. Zirpins nicht auf der Abschussliste zu stehen war fast so etwas wie eine Lebensversicherung. Und der Fall Seefeldt war ja hochinteressant … Adolf Seefeldt, am 6. März 1870 in Potsdam geboren, hatte zwischen 1923 und 1935 als reisender Uhrmacher - daher sein Spitzname Onkel Ticktack - mindestens zwölf, möglicherweise aber über hundert Jungen umgebracht, alle mit einem Matrosenanzug bekleidet. Dass eine solche Mordserie in NS-Deutschland möglich war, musste den Machthabern mehr als peinlich sein, und man kam bei der Kripo nicht umhin, über neue Arbeitsweisen nachzudenken.

Als Kappe vierzehn Tage später in Schwerin ankam, staunte er nicht schlecht. Er hatte eine verschlafene Residenzstadt erwartet, und nun war bei seiner Ankunft mehr Betrieb als in Berlin. Der Bahnhof hatte nur ein paar Gleise, dennoch war es hier voller als auf dem Anhalter oder dem Stettiner Bahnhof. Erst als er die vielen Hakenkreuzfahnen erblickte, die in langen Bahnen an den Fassaden hingen, fiel ihm ein, warum das so war: Heute wurde Wilhelm Gustloff beigesetzt, und der Führer war im Anmarsch, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In seiner Heimatstadt Schwerin, wo er 1895 zur Welt gekommen war, wollte man Wilhelm Gustloff ein Denkmal errichten und das größte KdF-Passagierschiff, das gerade gebaut wurde, sollte nicht nach Adolf Hitler, sondern nach ihm benannt werden.

Gustloff, gelernter Bankkaufmann, war wegen eines chronischen Lungenleidens nicht eingezogen worden und 1917 nach Davos gegangen, um sich dort auszukurieren. In der Schweiz geblieben, war er 1929 der NSDAP beigetreten und 1932 Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation geworden. In dieser Funktion hatte er antisemitische Hetzschriften verbreitet und fünftausend Auslandsdeutsche für die NSDAP gewonnen. Am 4. Februar 1936 war er in seiner Davoser Wohnung von dem Medizinstudenten David Frankfurter, dem Sohn eines Rabbiners, erschossen und von den Nationalsozialisten als «Blutzeuge der Bewegung» zum Helden gemacht worden. Nun war der Sarg mit einem Sonderzug in Schwerin angekommen, und 35 000 Menschen standen Spalier.

Kappe grauste es vor diesem Trauerspektakel. Er quetschte sich durch die Menge, um schnell in sein Hotel zu kommen, das in der Nähe der St.-Anna-Kirche gelegen war.

Als er am nächsten Morgen zum Landgericht eilte, stieß er auf dem Demmlerplatz mit Karl-Heinz Wanzka zusammen, einem windigen Burschen aus Berlin, der sich als Einbrecher, Hehler und Erpresser einen Namen gemacht hatte, aber immer mit milden Strafen rechnen konnte, weil er für die Polizei als V-Mann unentbehrlich war. Zwar suggerierte die gleichgeschaltete Presse den Deutschen, dass im NS-Staat alle individuelle Kriminalität nahezu ausgerottet sei, doch gab es immer noch eine erhebliche Anzahl schwerer Eigentums- und Rohheitsdelikte, und das Berufsverbrechertum war längst nicht zerschlagen. Die alten Ringvereine bestanden im Geheimen weiter, und Zuhälter und Prostituierte dominierten wie früher bestimmte Lokale und Straßenstriche in Kreuzberg und Friedrichshain. Selbst Erich Liebermann von Sonnenberg, seit 1936 Chef der Berliner Kriminalpolizei, musste eine gewisse Machtlosigkeit einräumen: «An der Front fühlt man schon, dass der Schock, den der scharfe Zugriff der nationalsozialistischen Polizei dem gesamten Verbrechertum beigebracht hat, an Wirkung zu verlieren beginnt.»

Vor diesem Hintergrund musste Kappe zu einem Mann wie Wanzka, den er eigentlich nur eklig fand, scheißfreundlich sein.

«Was machen Sie denn hier in Schwerin?», fragte er, während sie sich die Hände schüttelten. «Ein Verwandtenbesuch?»

Wanzka grinste. «Nee, und ick verbitte mir diese Beleidigung!»

«Ah, haben Sie hier wieder eine Stelle als Kellner gefunden?»

«Auch nicht.» Wanzka nahm Haltung an. «Ich bin amtlich geladener Zeuge im Prozess gegen Onkel Ticktack.»

Kappe staunte. «Sie kennen Adolf Seefeldt?»

«Ja, er hat sich auch mal an mich rangemacht, als ich noch ein Junge war, aber ich bin ihm nicht auf den Leim gegangen.»

Jetzt begriff Kappe die Zusammenhänge. Es war bekannt, dass Wanzka der Berliner Schwulenszene angehörte und auch Seefeldt Homosexueller war.

Sie plauderten noch ein wenig, dann trennten sich ihre Wege. Wanzka hatte sich bei einem Justizwachtmeister zu melden, Kappe orientierte sich in Richtung Sitzungssaal.

«Bis bald einmal», sagte Kappe.

Wanzka grinste. «Nee, Herr Kommissar, wenn ick ooch ’n Aas bin, ’n Mörder bin ick nich.»