Mach dein Glück! Geh nach Berlin!

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Horst Bosetzky

Mach dein Glück! Geh nach Berlin!

Dokumentarischer Roman über Ernst Schering

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-236-8

Coverabbildung: Schering Archiv, Bayer AG (Porträt Schering); Eduard Gärtner, Berlin, Opernhaus und Unter den Linden, 1845, (gemeinfrei) (Hintergrund)

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2017

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der foto­mechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Die besten Gardebataillone der Menschheit sind die Toten, die, biographisch wiederbelebt, unter uns wandeln.

Theodor Fontane

Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen

Joseph von Eichendorff

Prolog

Am Anfang stand die Alchemie

1889

Ernst Schering war ein großer Name in Berlin. Jeder kannte den Königlichen Kommerzienrat und seine „Chemische Fabrik auf Actien“ im Wedding an der Müllerstraße. Als am 27. Dezember 1889 bekannt wurde, dass Schering soeben verstorben war, griffen viele Männer zur Feder, um einen Nachruf auf ihn zu verfassen, so auch der Schriftsteller und Volkspädagoge Ferdinand Schmidt. Dessen Erinnerungen gingen um mehr als fünf Jahrzehnte zurück ...

1837

Das Kloster Neuzelle war im Jahre 1268 vom sächsischen Markgrafen Heinrich dem Erlauchten gegründet worden, um einmal seiner verstorbenen Ehefrau Agnes zu gedenken und um zum anderen den von den polnischen Piasten erworbenen Landstrich zwischen Oder und Schlaube wirtschaftlich besser zu erschließen. Zwischen 1300 und 1330 entstand auf einem Bergsporn, der in die Oderniederung ragte, eine prächtige dreischiffige Hallenkirche. Nach einer wechselvollen Geschichte kam die sächsische Niederlausitz 1814/15 als Folge des Wiener Kongresses an Preußen und wurde von Friedrich Wilhelm III. säkularisiert. Im Waisenhaus des Klosters wurde ein Lehrerseminar eingerichtet.

Hier nun verbrachte Ferdinand Schmidt entscheidende Jahre seiner Jugend. Er war am 2. Oktober 1816 in Frankfurt an der Oder auf die Welt gekommen und hatte seine Jugend im Klosterort Neuzelle verbracht, wo sein Vater die Stelle eines Kornschreibers innehatte. Früh hatte er sich als Pädagoge versucht und war schon im Alter von nur 15 Jahren in einer nahen Oberförsterei als Hauslehrer engagiert geworden. Nach dem Tode seines Vaters hatte er in sein Elternhaus zurückkehren müssen, nun aber besuchte er das evangelische Lehrerseminar, um staatlich anerkannte Lehrkraft zu werden. „Volkspädagoge, das steckt mir so im Blut“, pflegte er zu sagen, doch irgendwie wollte er auch als Schriftsteller reüssieren.

An diesem Vormittag nun galt es, ein Referat über die ebenso unheimliche wie faszinierende Alchemie und die berühmtesten Alchemisten zu halten. Er begann mit schwankender und etwas zu hoher Stimme, wurde dann aber zunehmend sicherer.

„Das Wort Alchemie leitet sich wohl vom Arabischen al-kīmiyā ab, und schon seit Jahrtausenden üben die Alchemie und die Alchemisten eine erhebliche Faszination auf uns alle aus. Gemeinhin wird angenommen, dass es das einzige Ziel der Alchemisten gewesen sei, aus unedlen Stoffen Gold zu machen – Gold, das schon in der babylonischen Philosophie als das Metall der Erlösung gegolten hat. Für diese Umwandlung, auch Transmutation genannt, brauchte man eine besondere Tinktur – das war der berühmte Stein der Weisen.“ Er machte eine Pause, um sich die Lippen zu befeuchten. „Heute würden wir sagen, die Alchemisten seien allesamt Irrwege gegangen und gehörten ins Irrenhaus, aber ihnen verdanken wir die Erfindung des Porzellans, des Bologneser Leuchtsteins und des Schwarzpulvers, jedenfalls was Europa betrifft. Der berühmteste Alchemist in unseren Breiten war wohl Markgraf Johann von Brandenburg, der von 1406 bis 1464 gelebt hat, aber auch unserem Prinzen Friedrich Wilhelm Ludwig von Preußen sagt man diesbezügliche Neigungen nach.“ Jetzt holte er weit aus und kam auf die philosophische Dimension der Alchemie zu sprechen, was aber seine Zuhörer nicht sonderlich interessierte. „In unseren Tagen“, so schloss er nach etwa einer halben Stunde unter dem Gelächter seiner Zuhörer, „sind die Apotheker und die Chemiker an die Stelle der Alchemisten getreten.“

Einige Tage nach diesem Vortrag unternahm das Lehrerseminar einen Ausflug ins uckermärkische Prenzlau. Unten am Ufer der Oder lagen zwei Boote bereit, und auf denen ging es bis nach Schwedt, wo auf Pferdewagen umzusteigen war.

Ihr Mentor war die ganze Zeit über damit beschäftigt, ihre Allgemeinbildung zu verbessern.

„Nennt mir berühmte Männer und Frauen, die in Prenzlau das Licht der Welt erblickt haben?“

„Keinen und Niemand“, kam es aus den hinteren Reihen.

„Doch!“ rief der Mentor und zählte dann einige Söhne und Töchter Prenzlaus auf, die er für Berühmtheiten hielt. „Christian Friedrich Schwan, Verleger und Buchhändler. Jacob Philipp Hackert, Landschaftsmaler. Friederike von Hessen-Darmstadt, Königin von Preußen ...“

„Gott!“ lachte einer. „Die war doch furchtbar unscheinbar und völlig unbegabt.“

„Ruhe! Dann haben wir noch Wilhelmina von Hessen-Darmstadt, Gattin des Zaren Paul I.“

Ferdinand Schmidt meldete sich zu Wort. „Das verstehe ich nicht: Was hat denn Prenzlau mit Hessen-Darmstadt zu tun?“

„Ganz einfach: Die Damen wurden in Prenzlau geboren, weil ihre Väter in preußischen Diensten standen und hier stationiert waren.“

„Ach, haben die Väter sie zur Welt gebracht?“

„Ich verbitte mir diese Scherze!“

Der Mentor fand, dass es einigen der Seminaristen doch erheblich an sittlicher Reife mangele. Der nächste Scherz kam ihm zum Glück gar nicht erst zu Ohren. Beim Stichwort Darmstadt fragte nämlich einer der Zöglinge Ferdinand Schmidt, ob der denn wisse, was ein Furz sei?

„Nein.“

„Eine Botschaft von Pforzheim nach Darmstadt, dass eine Fuhre Dung unterwegs ist.“

Ferdinand Schmidt sah den Kameraden tadelnd an. „An dir ist noch viel zu veredeln, bevor du auf die Jugend losgelassen wirst, sie zu veredeln.“

„Ach, in dem, was aus dem Volke kommt, steckt mehr Kraft drin als in all unserer Gelehrsamkeit.“

„Hm ...“ Ferdinand Schmidt ging mit dem Gedanken schwanger, eine Preußische Vaterlandskunde für Schule und Haus zu verfassen, so sein Arbeitstitel, und da war es vielleicht gar nicht schlecht, Wendungen und Bilder aus dem Alltag zu benutzen, um die Leser zu ködern.

Endlich waren am Horizont die Türme Prenzlaus zu erkennen, und auf dem Marktplatz angekommen, wurde der Wunsch geäußert, in ein Gasthaus einzukehren, denn man sei nach der langen Reise ausgehungert und vor allem durstig geworden.

„Abschlägig beschieden!“, rief der Mentor. „Erst treten wir an zur Stadtbesichtigung.“

Dann ging es los mit den Kirchen: St. Sabini, St. Jacobi, St. Marien, St. Nikolai …

„Und ich komme aus St. Endal“, brummte der Seminarist, der das mit der Fuhre Dung zum Besten gegeben hatte.

„Mein Vater aus St. Uttgart“, fügte ein anderer hinzu.

Ferdinand Schmidt fragte sich, wie seine Kameraden später reagieren würden, wenn ihre Schüler Derartiges zum Besten gaben. Wahrscheinlich würden sie explodieren.

Nun kamen die Türme an die Reihe. „Wir haben den Seiler-, den Hexen-, den Pulver-, den Schwedter-, den Mittel- und den Blindower Torturm.“

„Da möchte man am liebsten türmen“, meinte der Seminarist aus St. Endal.

Das aber wagte keiner, und so trabten sie solange hinter ihrem sehr verehrten Mentor hinterher, bis der selbst am Ende seiner Kräfte war und nach einem Gasthof Ausschau hielt.

„Da ist einer!“ rief er, als er das Schild mit der schönen Aufschrift „Zur Kastanie“ entdeckte. „Inhaber: Christian Friedrich Scheng.“

„Das wird ein Chinese sein“, vermutete der Witzbold vom Dienst.

Ferdinand Schmidt stellte die Sache richtig. „Der Mann heißt Schering. Die Buchstaben r und i sind nur abgefallen. Schering also.“

Sie kehrten ein, das heißt, sie nahmen draußen im Garten Platz und hatten bald herausgefunden, dass Scherings Küche vorzüglich war und auch sein Bernauer Bier nichts zu wünschen übrig ließ. Nur der Mentor war mit seinem Wein nicht so ganz zufrieden und murmelte, dass der wohl nicht vom Rheine käme, wie die Frau Wirtin ihm versichert hatte, sondern eher von der Oder, aus Grünberg vielleicht oder Tschicherzig.

„Soll ich dem Herrn etwas Zucker zum Nachsüßen bringen?“, fragte ein Junge, dessen Alter so zwischen zehn und fünfzehn liegen mochte und der sie schon die ganze Zeit über vom Nachbartisch aus beobachtet und belauscht hatte.

„Du bist ja ein richtiger Spaßvogel“, merkte der Mentor an und wurde dann amtlich. „Wie kommst du denn hierher? Wissen deine Eltern, dass du dich im Wirtshaus herumtreibst?“

„Ja. Ich bin jeden Tag hier“, entgegnete der Knabe so lakonisch, wie es nur ein echter Märker konnte.

„Dann werde ich einmal mit deinen Eltern sprechen“, fuhr der Mentor fort. „Wo kann ich die denn finden?“

„Na, auch hier.“

 

Als seine Zöglinge das schon längst begriffen hatten, merkte auch er, wen er vor sich hatte: den Filius des Wirts. „Das entschuldigt alles. Und wie heißt du?“

„Ernst Christian Friedrich, aber alle sagen nur Ernst zu mir.“

„Und, Ernst, bist du gut in der Schule?“

Der Junge überlegte. „Ja, aber ich will gar nicht gut sein.“

„Warum denn das?“

„Weil ich dann etwas studieren muss ...“

Weiter konnte sich der Mentor des Jungen nicht annehmen, denn nun kam das Essen – und das hatte absoluten Vorrang. Ernst Schering wurde zudem ins Haus gerufen, um die Herrschaften aus Neuzelle nicht weiter zu behelligen. Nach dem Essen aber ließ ihn der Mentor noch einmal rufen, um seinen Seminaristen weiter vorzuführen, wie man mit einfach gestrickten Jungen wie diesem Gastwirtssohn umzugehen hatte. Er hielt ihm einen Strauß mit Wildkräutern hin, die er vorhin bei einer kleinen Rast für sein Herbarium gesammelt hatte.

„Nun, Ernst, bist du eigentlich ein Kind der Natur?“

„Ja.“

Nun reimte der Mentor sogar. „Dann sag mir doch geschwind, was das hier all für Kräuter sind?“

Mit stoischer Ruhe tippte Ernst auf die einzelnen Pflanzen und benannte sie ohne zu zögern. „Scharfer Hahnenfuß … Wiesen-Bocksbart … Vogel-Wicke … Gemeine Schafgarbe … Acker-Vergissmeinnicht …“

„Das ist nicht zu fassen!“, rief der Mentor.

Ernst Schering war aber noch nicht am Ende und zeigte auf einen gelben Korbblütler. „Das hier ist der Kleinköpfige Pippau ...“

Da brach ein unbeschreiblicher Jubel bei den Seminaristen aus, denn ihr Mentor, der so stolz war auf seinen großen Kopf und das viele Hirn darin, hörte auf den Namen Pippau, Peter Christian Pippau.

Aber nicht nur wegen dieses lustigen Vorfalls sollte sich die Landpartie nach Prenzlau bei Ferdinand Schmidt für immer einprägen, sondern auch wegen einer Szene, die sie auf dem Rückweg zu ihrem Pferdefuhrwerk vor der Holtz´schen Apotheke erlebten. Dort hatte es, wie man ihnen erzählte, in einem Anbau eine Explosion und anschließend einen Brand gegeben. Gerade trug man einen jungen Mann auf einer aus den Angeln gehobenen Tür auf die Straße hinaus und wartete auf ein Pferdefuhrwerk, das ihn ins Krankenhaus bringen sollte.

„Das ist einer meiner Gehilfen, der Friedrich Krumbeck“, diktierte der Apotheker einem Korrespondenten in die Feder. „Der wollte sich ein wenig Geld damit dazuverdienen, dass er Knallerbsen herstellte. Und dazu benötigt man Knallquecksilber. Gibt man nun im Umgang mit diesem nicht genügend Obacht, so wird man langsam vergiftet. Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel stellen sich ein. Von dem muss Krumbeck erfasst worden sein, und da ist er wohl in eine offene Flamme gestürzt.“

„Das ist doch ein Alchemist gewesen!“, rief einer der Nachbarn. „Der hat aus Quecksilber Gold machen wollen.“

Ferdinand Schmidt trat an der Seite des Mentors in den Hof der Apotheke, wo alles lagerte, was man aus dem brennenden Anbau noch hatte retten könnten. Darunter befand sich auch ein Haufen mit Chemikalien der verschiedensten Art, unter anderem ein Tütchen mit der Aufschrift Pottasche.

Der Mentor hob es auf und ließ das weiße Pulver zu Boden rieseln. „Den Mann möchte ich sehen, der aus dieser Asche Gold machen kann!“

Schmidt lachte. „Warten wir´s ab.“

Vor ihrer Rückreise kaufen sie sich noch ein paar Rosinenbrötchen in der Bäckerei Nickholz, die am Anfang der Klosterstraße gelegen war. Komischer Name, dachte Ferdinand Schmidt, und schrieb ihn in ein Büchlein. Er sammelte seltene Namen wie andere Schmetterlinge. Vielleicht würde er einmal einen Roman schreiben, und da brauchte man sicherlich viele einprägsame Namen.

Kapitel Eins

Tage in Prenzlau, unvergesslich

1837

Ernst Schering ging gern zur Schule, was in Prenzlau für einen Dreizehnjährigen recht ungewöhnlich war. Sein Bruder August sagte von ihm, er habe einen wachen Geist, der ständig gefüttert werden müsse. Ja, das stimmte schon, aber er war darüber durchaus nicht glücklich, sondern beneidete die, von denen es in der Bibel hieß „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr“. Auch fürchtete er, seine Eltern würden meinen, dass er etwas Besonderes wäre und ihn wie seinen Bruder August zum Studium in die Ferne schicken. Was ihm vorschwebte, war ein einfaches Leben, eines ohne viel Gelehrsamkeit und immer in Gottes freier Natur. Im Gasthof seines Vaters hatte es immer viel Trubel gegeben und da war er oft in die Wälder südlich Prenzlaus geflüchtet, zumindest aber an die Ufer des langgestreckten Unteruckersees.

Nun, bei seinem Vater waren viele interessante Menschen eingekehrt und hatten von ihren Geschäften und ihren Abenteuern berichtet, und er hatte ihnen immer zugehört, mal offen, mal heimlich, weil das viel spannender war als all das, was in seinen Kinderbüchern und seiner Fibel stand. Die vielen Reize, die dabei auf ihn eingedrungen waren, hatten sein Gehirn dahin gebracht, später auch hoch Kompliziertes verstehen zu können. Und so war es gekommen, dass er in der Schule, auch noch auf dem Gymnasium, mit dem Lernen keine Mühe hatte, alles flog ihm nur so zu. Nie strebte er nach etwas, immer geschah es mit ihm, und er staunte nur, wenn er irgendwo angekommen war. Ludwig Kuhz, sein Klassenlehrer, hatte ihn einmal einen Somnambulen genannt, einen Schlafwandler.

Solch Kommentar war für Kuhz sehr ungewöhnlich, denn das Seelenleben seiner Schutzbefohlenen interessierte ihn im allgemeinen herzlich wenig. Hauptsache, sie lernten Gehorsam, die Liebe zum König und dazu ein wenig Lesen und Schreiben sowie das, was im kleinen Katechismus stand. Vornehmlich war er mit sich selbst beschäftigt, denn als junger Mann war er in der Schlacht bei Großbeeren in französisches Feuer geraten und hatte stundenlang in einem Graben ausharren müssen, nur mit dem Körper seines toten Pferdes als Kugelfang. Seitdem spielten seine Nerven immer wieder verrückt, aber er hätte nie daran gedacht, sich vom Schuldienst entbinden zu lassen, denn Fahnenflucht war das Schlimmste für ihn. Heute war das Werden Brandenburg-Preußens zu behandeln, und folglich war er mit besonderer Hingabe bei der Sache.

„Was fällt euch ein, wenn ich den Namen Friedrich nenne?“, fragte er mit leuchtenden Augen.

„Der Friedrich, der Friedrich, das ist ein arger Wüterich“, reimte Gottfried Nickholz, Scherings Freund und Banknachbar, in Vorwegnahme des Struwwelpeters.

So leise er gesprochen hatte, Kuhz waren seine Worte nicht entgangen, und er stürzte nach vorn, riss den Jungen aus der Bank, stieß ihn nach vorn, befahl ihm, sich über das Katheder zu beugen und versohlte ihn mit seiner Haselrute so kräftig, dass es denen noch weh tat, die in der hintersten Reihe saßen. Gottfried Nickholz stieß keinen Schmerzenslaut aus, denn er war von zu Hause aus Prügel gewohnt. Gelobt sei, was hart macht, hieß es dort. Was ihn außerdem noch trug, waren sein Hass auf den Lehrer und die Vorfreude auf den Tag, da er Kuhz alles heimzahlen konnte.

Der Lehrer gab sich alle Mühe, gleichmütig zu wirken. „Zurück zum Vornamen Friedrich. Wer trug in Preußen als Erster diesen Namen?“

In vielen Gesichtern zuckten es, denn es lag den Jungen auf der Zunge zu rufen „Mein Großvater!“, doch sie beherrschten sich gerade noch rechtzeitig, um der Haselrute zu entgehen. Keiner wagte sich zu melden.

Kuhz stieß Gottfried Nickholz die Spitze seiner Haselrute in die Brust. „Nun …?“

Die Antwort kam prompt. „Na, Friedrich der Große.“

Den ins Feld zu führen, konnte nie falsch sein, doch Kuhz verdrehte dennoch die Augen. „Mensch, das ist doch Friedrich II., wie kann denn der Alte Fritz der erste Friedrich sein!? Es muss doch auch einen Friedrich I. gegeben haben …? Schering, na …!?“

Eher gelangweilt kam die Antwort. „Ja, Friedrich I. war unser erster König, König in Preußen, 1701, aber eigentlich war er schon unser dritter Friedrich, das heißt, als Markgraf von Brandenburg war er Friedrich III. Was aber auch wieder nicht so ganz stimmt, denn der erste Hohenzollern in der Mark Brandenburg war ja der Burggraf von Nürnberg, Friedrich VI., und der ist dann in Brandenburg als Markgraf zu Friedrich I. geworden.“

„Hör auf, mir meine Schüler zu verwirren!“, rief Kuhz, sichtlich verärgert, und wandte sich wieder Gottfried Nickholz zu. „Und – wo ist denn Friedrich I. zum König in Preußen gekrönt worden, na!?“

Die Antwort war so einfach, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand so dumm sein konnte, sie nicht parat zu haben, aber Gottfried Nickholz hatte wirklich keine Ahnung von allem. Da flüsterte ihm Ernst Schering „Königsberg“ zu – und wieder hörte es Kuhz.

„Wenn ich etwas hasse, dann ist es das Vorsagen!“, schrie er. „Wenn du glaubst, Gottfried, mich täuschen zu können, dann … ! Du hast mich betrügen wollen – das ist schmählich! Du und der Ernst. Zur Strafe sitzt ihre beide heute eine Stunde nach. Du wegen deiner Untat, Schering, und du, Nickholz, wegen deiner Dummheit!“

Beide waren furchtbar wütend auf Kuhz. Ernst Schering, weil es für ihn ein hoher Wert war, einem Freund zu helfen, und er es furchtbar ungerecht fand, dafür bestraft zu werden, Gottfried Nickholz, weil es ihn schmerzte, als Dämlack gebrandmarkt zu werden. Sein Vater war Bäcker, und er selbst verstand vom Backen mehr als Kuhz von preußischer Geschichte.

Wie auch immer, die beiden Jungen mussten im Klassenzimmer bleiben, als ihre Klassenkameraden nach der letzten Stunde jubelnd aus der Schule stürzten. Kuhz hatte sich eine ganz besondere Strafarbeit für sie ausgedacht: Sie sollten den Psalter durchgehen und sich fünfzehn Verszeilen aus der Bibel heraussuchen, sie abschreiben und danach auswendig lernen. Gottfried Nickholz liebte alles Martialische und wollte mit 3/8 beginnen. „Auf, Herr, und hilf mir, mein Gott! Denn du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne.“

Ernst Schering hatte nichts dagegen einzuwenden, auch wenn er fand, es müsste auf „die Backen“ heißen. Er selbst begann mit 37/5: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.

Nach etwa einer halben Stunde kam Kuhz herein, um zu prüfen, ob sie auch das taten, was ihnen aufgetragen ward. Und er ließ sich auch hinterm Katheder nieder. Einmal, um zu verhindern, dass die beiden sich möglicherweise noch amüsierten, zum anderen aber, weil er den Anblick hübscher Knaben durchaus anregend fand. Sein Vergnügen wurde aber nachhaltig gestört, als es über dem Uckerland plötzlich zu gewittern begann. Was zuerst harmlos erschien, wuchs sich in wenigen Minuten zu einem heftigen Unwetter aus. Blitz und Donner folgten immer rascher aufeinander, und schließlich schlug es zweimal hintereinander in den Turm des Prenzlauer Gymnasiums ein. Ein Wolkenbruch folgte und setzte die Stadt im Nu unter Wasser.

Den beiden Jungen machte all das nichts aus, Ludwig Kuhz aber zitterte am ganzen Körper und betete. „Gott, hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele.“

Gottfried Nickholz grinste. „Das ist der 69. Psalm, Vers zwei.“

Ernst Schering liebte es, nach der Schule in die Gaststube zu treten, sich an einen freien Tisch zu setzen und sich wie ein Herr von und zu bedienen zu lassen. Im Gymnasium waren sie nur darauf aus, ihn zu diminuieren, und da tat es ihm wohl, wenn er sich einmal in der Rolle eines gemachten Mannes gefallen konnte. Meist bekam er nur das vorgesetzt, was die zahlenden Gäste verschmäht hatten, aber das störte ihn wenig. Weil er hatte nachsitzen müssen, war es später als sonst geworden und von den Herren, die ihren Mittagstisch bei Christian Schering einnahmen, waren alle schon wieder gegangen – nur sein Bruder August, der für ein paar Tage aus Berlin heraufgekommen war, saß noch am Fenster und plauderte mit einem der renommierten Söhne Prenzlaus, mit Karl Gottlieb Richter, der seit 1825 als Regierungspräsident in Minden lebte. Ernst Schering konnte große Teile ihres Gespräches verstehen, denn beide Männer waren Juristen und verstanden es, sich in Szene zu setzen.

August Schering hatte vor kurzem sein Studium beendet und war zur Zeit noch Auskultator, befand sich also in Phase eins der dreistufigen Ausbildung zum höheren Justizbeamten, und brachte dem Älteren ein hohes Maß an Verehrung entgegen.

„Wenn ich mir so Ihre Karriere ansehe, Herr Regierungspräsident, dann kann ich nur ausrufen: Chapeau! Wann haben Sie hier in Prenzlau Ihren Schulabschluss gemacht?“

 

Karl Gottlieb Richter musste einen Augenblick nachdenken. „Im vorigen Jahrhundert noch. 1777 bin ich auf die Welt gekommen – das kann ich mir wegen der drei Sieben noch merken, aber das andere … 1794 muss es gewesen sein. Anschließend habe ich in Halle studiert – Rechtswissenschaften und Theologie. Dann kamen der Gerichts-Referendar und der Gerichts-Assessor – und sie haben mich zur königlichen Kriegs- und Domänenkammer nach Posen geschickt.“

„Es folgten Potsdam, Halberstadt, Breslau und jetzt Minden“, fuhr August Schering fort.

Karl Gottlieb Richter lachte. „Sie sind ja bestens informiert, junger Mann!“

August Schering senkte die Stimme. „Ich habe gestern den Rat belauscht, da ist das alles erörtert worden.“

Der Regierungspräsident tat erschrocken. „Mein Gott – Prenzlau will mich wohl zum Ehrenbürger machen!“

„Wenn es einer verdient hat, dann Sie, und den Roten Adlerorden II. Klasse mit Eichenlaub, den haben Sie ja schon.“

Wie wunderbar musste es sein, ging es Ernst Schering durch den Kopf, von allen so verehrt zu werden und sich wie ein Halbgott fühlen zu dürfen! Die Menschen zogen Hut oder Zylinder, wenn sie an einem vorbeiflanierten, in den Läden machten sie eine Verbeugung, trat man ein, man saß im Theater mit anderen Honoratioren zusammen in der Loge des Königs und durfte hochdekoriert ins Ausland reisen, um Preußens Interessen zu vertreten. Und das Schönste war, dass man solch ein Leben haben konnte, obwohl man nur aus Prenzlau kam. Im Konfirmationsunterricht wie auch bei Ludwig Kuhz hatte er das Vaterunser auswendig lernen müssen: Dein Wille geschehe! Ob es Gottes Wille war, ihn auch so etwas werden zu lassen, wie es Karl Gottlieb Richter geworden war? Oder hatte der HERR seinen ach so tüchtigen Bruder August im Auge und nicht ihn?

Ein Zuruf seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken: „Ernst, beim Apotheker Holz ist die Köchin erkrankt, du möchtest ihm sein Mittagessen nach Hause bringen!“

„Ja, sofort, ich muss nur noch schnell aufessen!“

Beim Nachwürzen bemerkte er, dass sich wieder einmal schwarze Krümel im Salz befanden. Was immer das war, es ärgerte ihn. Ebenso beim Zucker. Sie schafften es nicht, ihn so herzustellen, dass keine braunen Körner dazwischen waren. Seine Mutter hatte schon geklagt, er habe einen „Reinlichkeitsfimmel“, doch das störte ihn nicht.

Noch mit dem letzten Bissen im Mund trabte er los. In der Tür der Holtz´schen Apotheke wartete schon der Gehilfe Friedrich Krumbeck, der sich von seinem Unfall weithin erholt hatte und alsbald zu einer stadtbekannten Persönlichkeit geworden war. Ernst Schering übergab dem „Alchemisten-Fritz“ das mit einem karierten Tuch abgedeckte Tablett und machte sich schnell wieder auf den Heimweg. Als er am Dominikanerkloster vorbeikam, lief er seinem Freund Gottfried Nickholz in die Arme, der gerade angeln gehen wollte.

„Kommste mit an´n See runter?“

„Ja.“

Ernst Schering hatte die wenigen Schularbeiten schnell gemacht, und bis die Leute zum Abendschoppen kamen und er wieder beim Bedienen helfen musste, hatte er noch ein wenig Zeit. Sie liefen zum langgestreckten Unteruckersee hinunter, und nahe der Stelle, an dem das Flüsschen mit dem Namen Ucker den See wieder verließ, warf Gottfried Nickholz seine Angelrute aus. Den Blick auf die rotweiße Pose gerichtet, unterhielten sie sich leise.

„Oben in Vorpommern heißt die Ucker Uecker“, sagte Ernst Schering. „Weißt du das?“

„Nein, interessiert mich auch nicht.“

„Aber Kuhz könnte mal danach fragen.“

„Dieses Arschloch!“ rief Gottfried Nickholz.

In dieser Einschätzung ihres Lehrers waren sie sich beide einig. Auch darin, dass man ihm mal eins auswischen müsste. Die Idee dazu hatte dann Ernst Schering.

„Haste gesehen, was der für ´ne Angst vorm Gewitter hat.“

Der Freund nickte. „Ja, klar. Meinste, ich bin blind!?“

„Na, wenn er solche Angst vorm Gewitter hat, dann müssen wir eben dafür sorgen, dass es bei ihm vorm Fenster ein mächtiges Gewitter gibt!“ rief Ernst Schering.

„Pssst!“ zischte Gottfried Nickholz. „Die Fische beißen nicht, wenn de so schreist!“ Dann tippte er sich gegen die Stirn. „Wie willste denn dafür sorgen, dass es ein Gewitter gibt: Vielleicht in die Kirche gehen und beten?“

„Nein“, beharrte Ernst Schering. „Aber wir können doch einen Böller basteln und den bei ihm vorm Fenster losgehen lassen, das ist doch auch wie Blitz und Donner.“

„Gute Idee!“ Gottfried Nickholz war begeistert. „Und das Pulver dafür, das besorge ich mir von Alchemisten-Fritze, den kenn´ ich ganz gut. Wenn ich dem ein paar Fische für sein Abendbrot schenke, dann tut der uns den Gefallen.“

Als Gottfried Nickholz nach einer Stunde ein paar Barben und Elritzen im mitgebrachten Eimer hatte, machten sie sich auf den Weg zur Holtz´schen Apotheke, wo der Alchemisten-Fritze gerade damit beschäftigt war, einem kleinen Jungen das Laufen beizubringen. Sie trugen ihm ihr Anliegen vor.

Friedrich Krumbeck grinste. „Wenn ihr inzwischen auf den Jungen aufpasst, auf den Julius, besorge ich euch, das was ihr braucht, damit es richtig knallt und blitzt.“

Nach ein paar Minuten kam er mit einem Tütchen Schwarzpulver und einer Handvoll roter Tonerde zurück. „Das mischt ihr, steckt es in eine Pappröhre, presst es zusammen, nehmt einen eingefetteten Bindfaden als Lunte und haltet ein Streichholz dran.“

Sie bedankten sich, schlichen sich in den Schuppen der Schering´schen Gastwirtschaft und machten sich ans Basteln. Schwer war das Herstellen eines mächtigen Böllers für zwei geschickte Jungen wie sie nun wahrlich nicht, und sie waren schon fertig, bevor die Sonne nach Templin zu hinter den Kiefern versank.

„Wir müssen warten, bis es halbwegs dunkel geworden ist“, sagte Ernst Schering. „Sonst ist der Effekt nicht eben groß.“

„Nun gut.“

Sie verabredeten sich für 10 Uhr abends, und als die Kirchturmuhren von St. Jacobi und St. Marien fast zeitgleich schlugen, kletterten sie aus den Fenstern ihrer Schlafzimmer und schlichen sich zur Grabowstraße, wo Ludwig Kuhz, ein Hagestolz, also bekennender Junggeselle, allein mit seiner Haushälterin in einem einstöckigen Häuschen wohnte. Wo sein Zimmer lag, das wussten sie, weil er sich gern von seinen Schülern, hatte man eine Klausur geschrieben, die prall gefüllte Tasche nach Hause tragen ließ.

Unter dem Zimmer des Lehrers angekommen, machten sie sich ans Werk. Gottfried Nickholz hielt den Böller in der Hand, Ernst Schering riss ein Streichholz an und hielt die Flamme an die Lunte. Sie fing sogleich Feuer und begann abzubrennen. Mit ein paar schnellen und absolut lautlosen Schritten war er am Fensterbrett und legte den Böller auf das Zinkblech. Dann lief er zurück.

„Drei … zwei … eins“, zählte Ernst Schering.

Gleich würde es blitzen und donnern und Kuhz mit einem Aufschrei hochfahren und sich gar nicht mehr einkriegen.

Doch nichts geschah.

Gottfried Nickholz wartete einen Augenblick, dann sprang er zum Fensterbrett, um den Böller hochzunehmen und zu sehen, warum die Sache nicht funktionierte hatte.

Als er ihn in der Hand hatte, gab es eine mächtige Explosion.