Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof

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Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof
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Horst Bosetzky



Die Bestie vom

 Schlesischen Bahnhof



Roman



Jaron Verlag





Taschenbuchausgabe



1. Auflage dieser Ausgabe 2013



© 2004 Jaron Verlag GmbH, Berlin



Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller



seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.



Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,



Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.





www.jaron-verlag.de





Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin,



unter Verwendung eines Fotos des Landesarchivs Berlin



(Waldemar Titzenthaler: Engelbecken, 1925)



Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin



ISBN 9783955522001




Inhaltsverzeichnis





Cover







Titel







Impressum







Prolog







Eins







Zwei







Drei







Erster Teil







Vier  1870







Fünf  1876 bis 1879







Sechs  1880 bis 1895







Sieben  1896 bis 1899







Acht  1899 bis 1913







Neun  1914 bis 1921







Zweiter Teil







Zehn  12. Januar 1921







Elf  4. April bis 24. Mai 1921







Zwölf  28. Mai 1921







Dreizehn  Juni und Juli 1921







Dritter Teil







Vierzehn  August 1921







Vierter Teil







Fünfzehn  13. und 14. August 1921







Sechzehn  17. August 1921







Siebzehn  18. August 1921







Fünfter Teil







Achtzehn  20. August 1921







Neunzehn  21. August 1921







Zwanzig  22. und 23. August 1921







Einundzwanzig  24. bis 27. August 1921







Zweiundzwanzig  8. bis 28. September 1921







Sechster Teil







Dreiundzwanzig  24. Oktober 1921







Vierundzwanzig  30. Juni bis 3. Juli 1922







Fünfundzwanzig  5. Juli 1922







Epilog







Sechsundzwanzig







Anhang






      Eins






Zwei







Schlussbemerkung und Danksagung







Literatur








Prolog



Ein Wurstverkäufer rückt ins Blickfeld





Eins



Der Mann riss das Brotmesser vom Tisch und kam auf sie zu. »Du weißt doch: Bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!«



Grete Tschau sprang aus dem Bett und raffte ihre Kleider zusammen. »Hör auf, sonst schreie ich das ganze Haus zusammen!«



»Entweder du machst, was ich von dir will – oder du fliegst raus hier. Und gehst draußen vor die Hunde.«



Sie war schon an der Tür. »Zur Polizei werd’ ich gehen.«



»Wenn du das machst – dann geht’s dir wie …«



Sie sprang ins Treppenhaus und hastete nach unten. Erst im Hausflur zog sie sich an. Ihr Erschrecken hielt sich in Grenzen. Die meisten Männer, die den Krieg überlebt hatten, waren nicht mehr ganz richtig im Kopf. Und Maximilian hatte nicht nur zu lange vor Verdun gelegen, er war auch noch Theaterregisseur. Zuzutrauen war ihm alles: dass er es nur noch machen konnte, wenn er Blut sah – und dass er bereits einige Freundinnen zugrunde gerichtet hatte.



Sie hätte wirklich zur Polizei gehen sollen. Doch sie tat es nicht, denn wenn sie Pech hatte, brachte man sie nach Breslau zu ihren Eltern zurück. Und das war viel schlimmer, als in Berlin auf der Straße zu sitzen. So wie sie gebaut war, fand sie immer einen, der sich ihrer annahm.



Grete trat auf den Bürgersteig hinaus. Um zu wissen, wo sie war, musste sie erst zur nächsten Ecke gehen und auf das Straßenschild schauen. Das Pflaster schien ein wenig zu schwanken. Mehrmals stolperte sie. Der viele Sekt. Nach knapp 100 Metern war sie an einer großen Kreuzung angekommen und las

Kottbusser Damm

 und

Pflügerstraße

. Sie überlegte. Nach Neukölln war sie also gestern Nacht geraten. Wenn sie nun noch gewusst hätte, welcher Tag heute war … Sie blieb vor einem Zeitungskiosk stehen und las:

Mittwoch, 17. März 1920

. Und ansonsten: Immer noch der ganze Schlamassel. Mist! Seit letztem Sonnabend ging das nun schon so. Die Erlebnisse der letzten Tage überfluteten sie:



Sie fährt mit der Stadtbahn zum Metropol-Theater, um dort vorzusprechen, und sieht sich plötzlich inmitten von Stacheldrahtverhauen, Maschinengewehren, Feldgeschützen und kampfbereiten Offizieren und Soldaten. An den Gebäuden flattern die alten schwarz-weiß-roten Fahnen des versunkenen Kaiserreichs und die Kriegsflagge der Marinebrigade. Automobile jagen vorüber. Sie kann sich gerade noch in ein Café flüchten. Dann gibt es den Generalstreik. Bahnen und Busse fahren nicht mehr. In den Abendstunden liegen die Straßen in tiefer Dunkelheit. Die großen Gasthausbetriebe haben geschlossen. Immer wieder fallen Schüsse. Vor den Bäckerläden bilden sich endlose Schlangen. Die Brotvorräte sind schnell ausverkauft. Die Warenhäuser schließen. In vielen Stadtbezirken versagt die Wasserversorgung, und auch der Gasdruck wird immer schwächer. Schnell spricht sich in der ganzen Stadt herum, wo was passiert ist. In der Schloßstraße in Steglitz gibt es die ersten Todesopfer. Bei einem Streit zwischen Militär und Zivilisten werden acht Menschen getötet. Am Halleschen Tor überfällt die Menge einen Militärlastwagen mit Soldaten. Diese feuern. Mehrere Tote bleiben zurück, darunter ein junges Mädchen. Am Friedrich-Wilhelm-Platz werfen Soldaten Handgranaten. In allen Stadtteilen werden Menschen erschossen. Leuchtkugeln steigen zischend in die Nacht, Scheinwerfer suchen den verdunkelten Himmel nach Flugzeugen ab.



Grete Tschau war ein wenig ratlos. Konnte man sich schon wieder in die Innenstadt wagen oder nicht? Sie fragte den Zeitungshändler, der heute nicht viel zu verkaufen hatte.



»Können Se nich, junge Frau, können Se noch nich. Der Kapp und der Lüttwitz, die ham zwar bald ihren letzten Pup gewinselt, aba janz aus isset mit die noch nich. Und die Kommunisten schießen ooch noch.«



Trotzdem machte sie sich auf den Weg. Den Kottbusser Damm hinauf Richtung Hochbahn. In der Brückenstraße wohnte ihre Freundin Valeska, und von der war am ehesten Hilfe zu erwarten. Als Langschläferin war sie sicher noch zu Hause. Grete überlegte, wie lange sie zu Fuß zur Jannowitzbrücke brauchen würde. Kottbusser Tor, Adalbertstraße, Köpenicker Straße, Brückenstraße … Das waren um die vier Kilometer, also bei ihrem Tempo eine gute Stunde. Bahnen und Busse fuhren ja noch immer nicht. Sie schimpfte leise vor sich hin. Aber es war ja erst kurz vor neun. »Auf, auf!« Sie machte sich Mut. Ihr erstes Ziel war die Kottbusser Brücke. Trotz ihrer hochhackigen Schuhe ging es ganz gut. Zu Hause in Breslau hatte sie viel laufen müssen. Bis sie davongelaufen war … »Na bitte!« Sie war zufrieden mit sich.

 



Doch schon kurz hinter dem Landwehrkanal war es vorbei mit dem raschen Vorankommen, denn hin zum Hochbahnviadukt gab es einen riesigen Menschenauflauf. An der Einmündung der Admiralstraße hatten sie sogar eine Barrikade errichtet. Grete Tschau wollte sich durch die Menge hindurchquetschen, blieb aber bald stecken. Zu dicht waren die Leiber aneinander gedrängt. Vorn gab es Schreie. Eine Patrouille der Sicherheitspolizei war dabei, die Menge auseinanderzutreiben, wurde aber ganz offensichtlich zurückgeschlagen. Wie von einer Riesenwelle wurde Grete Tschau ein paar Meter nach hinten geworfen. In Panik flüchtete sie sich in einen Hauseingang. Gerade rechtzeitig, um nicht von einem Lastwagen erfasst zu werden, auf dem Reichswehrsoldaten anrückten.



Doch kaum waren sie auf die Straße gesprungen, wurden sie von einigen kräftigen Männern gepackt und unter dem Johlen der Menge ins Wasser geworfen. Jubelschreie stiegen in den grauverhangenen Himmel, und Grete Tschau dachte, dass die Sache damit zu Ende wäre. Sie verließ ihren schützenden Unterstand, um sich in Richtung Adalbertstraße vorzuarbeiten. Da hörte sie ein unheilvolles Zischen – und dann sah sie direkt vor sich, wie auf einer großen Freilichtbühne, Bilder des Schreckens: Mitten in der Menschenmenge explodierte eine schwere Mine, abgefeuert von einer Reichswehrabteilung aus weiter Entfernung. Zerfetzte Körper flogen durch die Luft, und noch dicht neben Grete wurden Demonstranten von herumfliegenden Geschosssplittern niedergemäht. Der Fahrdraht der Straßenbahn fiel auf die Erde, die Hochbahntrasse schien sich zu neigen. Unter furchtbaren Schreien und Hilferufen stob die Menge auseinander. Grete kam erst wieder zu sich, als sie am U-Bahnhof Schönleinstraße an einem Gitter lehnte. Ihre linke Hand war voller Blut. Sie erschrak, konnte aber nirgendwo eine Wunde entdecken. Einer der Verletzten musste sie angefasst haben. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Am Hohenstaufenplatz fand sie eine Pumpe und wusch sich die Hände. Dann kühlte sie sich die Stirn und trank das Wasser aus der Schale ihrer Hände. Das Geld, sich am Hermannplatz in ein Café zu setzen, hatte sie nicht.



»Hauptsache, wir leben noch«, sagte einer hinter ihr. Er hieß Fritz und hatte vor dem Krieg an der Kurbel gestanden, wie er es ausdrückte, also als Straßenbahnfahrer sein Geld verdient.



»Aber det jeht ja nu nich mehr.« Sie hatten ihm in den letzten Kriegstagen den linken Arm abgeschossen. Er zeigte ihr den leeren Ärmel. Eine richtige Wohnung hatte er nicht mehr, aber eine Laube in der Weserstraße. In die nahm er Grete mit und schlachtete ihr zuliebe sogar eines seiner Kaninchen. Das ging mit einem Arm nur schwer, und sie musste ihm dabei assistieren. Wieder war einiges an Blut abzuwaschen. Als Liebhaber war Fritz gleichermaßen enttäuschend wie erholsam: Nach dem ersten Mal hatte er sein ganzes Pulver verschossen, und sie konnte ungestört bis Mittag schlafen.



»Die Regierung Kapp-Lüttwitz ist gestürzt«, sagte Fritz, der schon lange auf war und mit seinen Nachbarn gesprochen hatte. »Ich geh’ zum Anhalter Bahnhof und guck’ mal, ob schon ’n Zug nach Dessau fährt.« Er wollte zu seiner Mutter und sehen, ob er dort Arbeit fand.



»Ich komm’ gleich mit.« Grete Tschau zog sich an und hoffte, dass er keinen Appetit mehr hatte, doch sie irrte sich. Sie ließ es über sich ergehen. Es gab Schlimmeres. Aus Dankbarkeit schenkte er ihr ein Stück Kaninchenbraten. Sie schlang es hinunter. Ein Schluck Muckefuck war auch noch da. So ließ sich’s leben. Wer weiß, wann sie wieder etwas zu essen bekäme.



Sie zogen los, kamen aber zunächst nicht weiter als bis zum Hermannplatz. Dasselbe Bild wie gestern am Kottbusser Tor: Die Menge hatte eine Kompanie der Reichswehr umringt und war gerade dabei, sie zu entwaffnen. Die Soldaten waren feldmarschmäßig ausgerüstet und hatten Hakenkreuze an den Stahlhelmen.



»Ihr Kapp-Banditen!«, schrie einer. »Raus hier, ihr Pack!« Das hier war das rote Neukölln und gehörte den Arbeitern.



»Gleich kommt wieder eine Mine angeflogen und krepiert hier.« Grete Tschau zitterte und presste sich an Fritz. Der schlang seinen heilen Arm um sie.



»Nehmt doch Vernunft an!«, schrie der Offizier, ein bildhübscher Mensch von knapp 30 Jahren. »Wir sind Deutsche wie ihr und wollen nur das Beste für euch!«



Fritz stutzte. »Den kenn’ ich doch, das war doch mein Kommandeur.«



Ein Panzerautomobil kam herangerast, die bedrohten Kameraden zu retten. Doch zu spät. Einer der Arbeiter hatte dem Offizier die Pistole entrissen und an die Schläfe gesetzt.



Bevor man ihn zurückreißen konnte, hatte er abgedrückt. Der Offizier stürzte aufs Pflaster.



»Martha!«, rief er noch.



Eine für das Neuköllner Milieu viel zu mondäne junge Dame drängte sich durch die Menge, kniete sich neben den Offizier, der offensichtlich ihr Geliebter war, und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Zugleich riss sie sich einen seiden glänzenden, weißen Schal vom Hals, um ihn als Verband zu nutzen. Im Nu war der mit seinem Blut durchtränkt.



Grete war zutiefst erschüttert und nahe daran zusammenzubrechen.



Fritz musste sie stützen. »Was ist denn mit dir?«



»Wie bei mir«, stammelte sie. »Nein, aber … So wie die da wäre ich auch gerne … Mein Ludwig ist in Frankreich gefallen … Und keiner hat neben ihm gekniet, als er gestorben ist.« Ihr ganzes Elend war ihr wieder bewusst geworden. Schlagartig. Wegen Hauptmann Ludwig von Lellichow hatte sie ihren Bräutigam in Breslau verlassen und war schließlich in Berlin gestrandet.



Wieder floh Grete Tschau, und irgendwie verlor sie Fritz im Gedränge auf dem Hermannplatz. Egal. Abhaken. Das fortsetzen, was sie gestern begonnen hatte: Valeska finden und sehen, ob die mit ihren vielen Beziehungen jemanden kannte, der ihr weiterhalf.



Diesmal schaffte sie es bis zur Brückenstraße und hatte doppelt Glück, denn Valeska war zu Hause – und allein. Was erstaunlich war, denn fragte man sie nach ihrem Beruf, so antwortete sie ohne Scham und Umschweife: »Ich verdiene mir mein Geld mit meiner Pflaume.« Eigentlich war sie nach Berlin gekommen, um Tänzerin in einer der großen Revuen zu werden. Dunkelhaarig, langbeinig und rassig, wie sie war.



»Das ist doch alles schrecklich«, stöhnte Valeska. »Wo gibt es heute noch Männer mit Niveau? Alle ausgestorben. Gefallen, erschossen. Und richtig Geld hat auch keiner mehr.«



Grete fragte sie, ob sie nicht einen vom Film oder vom Theater kennen würde. »Ich brauch’ dringend ’ne Rolle.« Valeska musste nicht lange überlegen. »Der Collini sucht gerade seine Schauspieler für Woltersdorf zusammen. Ich werd’ auch dabei sein.« Sie begann, von Woltersdorf zu schwärmen. Dort, vor den Toren Berlins, am Kalksee, hatte sie vor einem Jahr durch Collinis Fürsprache bei Joe May eine kleine Rolle in seinem ersten großen Kinoschinken bekommen, in

Die Herrin der Welt

. »Nächstes Jahr will er wieder was drehen:

Das indische Grabmal – Teil 1: Die Sendung des Yogi, Teil 2: Der Tiger von Eschnapur

. Und wieder mit dabei: die große Mia May.«



Grete lachte und zitierte das, was langsam alle kannten: »Harry Piel sitzt am Nil, / wäscht sich seine Stange mit Persil. / Mia May sitzt dabei, / schaukelt ihm das rechte Ei.«



Valeska steckte sich eine Zigarette an. »Collini soll im Adlon residieren. Kann man’s denn schon riskieren, zum Brandenburger Tor zu laufen?«



»Was, du kannst dir keine Droschke leisten?«



»Du kriegst keine, weder für Geld noch für gute Worte.«



»Die Baltikumtruppen marschieren ab, sagen die Leute. Und wenn wir noch ’n bisschen warten, dann … Ich bin ja auch lebendig hergekommen.« Gretes ganze Hoffnung ruhte auf diesem Carl Collini, wie er sich nannte. Wahrscheinlich hieß er Karl-Egon Kolloschinski – oder so.



»Na schön.« Valeska briet ihnen Kartoffelpuffer. »Die mochte doch dein Bräutigam immer besonders gern. Was macht der eigentlich jetzt?«



»Friedrich? Keine Ahnung. Nach’m Krieg ist er nach Breslau zurück. Bei der Zeitung soll er sein und außerdem studieren. Was, weiß ich nicht. Ist mir auch egal.«



»Komm, er kann doch nichts dafür, dass du dich mit deinen Eltern so verkracht hast und mit dem Lellichow durchgebrannt bist.«



»Nein, aber er hätte sich zu mir bekennen müssen. Als ich noch gar nichts mit Ludwig hatte, sondern nur mal tanzen mit ihm war. Aber was hat er getan: mich fallen lassen. Erst dann bin ich ja mit Lellichow auf und davon.« Grete Tschau presste die Hand auf den Magen, in dem es plötzlich rumorte.



»Komm, ich will nichts mehr davon hören!«



Am späten Nachmittag machten sie sich dann auf den Weg zum Adlon. Über die Wallstraße und den Spittelmarkt kamen sie zur Leipziger Straße. In langen Kolonnen sahen sie Kanonen stehen, hochbepackte Proviantwagen, bespannt und zum Abmarsch bereit. Auch die Truppen waren marschfertig. Offiziere, den Sturmhelm auf dem Kopf und Pistolen im Gürtel, gingen die Reihen entlang. Die letzten Fahnen der Putschherrschaft wurden eingezogen. »Wir ziehen jetzt nach Lichterfelde!«, hörten sie einen jungen Offizier. »Wenn ihr unterwegs angepöbelt werdet, dann rücksichtslos …«



Die beiden jungen Frauen beeilten sich, ins Adlon zu kommen. An der Rezeption fragten sie nach Collini. Der sei nicht auf seinem Zimmer. Ob er eine Nachricht hinterlassen habe, wo er zu finden sei? Man möge sich einen Augenblick gedulden. Sie setzten sich ins Foyer, und Grete fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben das Geld haben würde, sich hier ein Zimmer zu nehmen. Als Gnädige Frau. Warum denn nicht! Welch unendlich langer Weg aber war es bis hin zu diesem Ziel. Aber das war es ja, warum sie aus Breslau abgehauen war. Ihr Elternhaus war für sie ein schreckliches Gefängnis und ihr Vater ein widerlicher Sklavenhalter gewesen.



Schüsse rissen die beiden Frauen aus ihren Gedanken. Das war scharfes Feuer. Der Türsteher rief ins Foyer, dass die Menge das Brandenburger Tor völlig versperrt und die anrückenden Truppen angegriffen habe. »Erst ’n paar Schreckschüsse und dann immer rin in die Leute.« Schon wurden die ersten Opfer ins Hotel getragen, Tote und Verletzte. Grete und ihre Freundin flüchteten sich in die hinteren Räume. Dort hielten sie sich eine knappe Stunde verborgen und erfuhren dann, dass Collini in der Madaistraße am Schlesischen Bahnhof drehen würde. Sie sollten sich auf den Weg machen. Bitte durch einen Hinterausgang. Das taten sie dann auch und hatten das Glück, von einem Lastwagen bis zur Schillingbrücke mitgenommen zu werden. Jetzt bräuchten sie nur noch um die Andreaskirche herum, in die Koppenstraße rein und unter den Gleisen der Stadtbahn hindurch – ihre Spannung wuchs.



»Vielleicht lässt er mich gleich mitspielen, wenn du mit ihm redest«, hoffte Grete.



»Der macht noch ganz was anderes, wenn ich ihn darum bitte.« Valeska fand, dass er ihr geradezu hörig wäre.



Doch als sie in die Madaistraße einbogen, erschraken sie.



»Keine Scheinwerfer, kein Collini. Da muss doch einer gesponnen haben.«



»Vielleicht dreht er im Bahnhof drin.«



Sie gingen hinein, doch so verzweifelt sie auch suchten, sie konnten den Produzenten nirgends finden.



»Das ist ja vielleicht ’ne Enttäuschung«, sagte Valeska. Grete Tschau hatte Tränen in den Augen. »Was nun?«



»Essen wir erst mal was.«



Neben dem Eingang zum Bahnhof fanden sie einen Wurstverkäufer.

Karl Großmann

 stand auf einem Pappschild. Valeska stieß Grete an. »Mann, ist der hässlich!«



Grete sagte das, was ihre Mutter immer gesagt hatte: »Aber dafür hat er bestimmt einen guten Charakter.«



»Mir reicht schon, wenn seine Langen Wiener gut sind.« Valeska orderte zwei Paar Würstchen mit Weißbrot und Senf und nutzte die Gelegenheit, nach Collini und seinen Filmleuten zu fragen.



»Da kann ick nicht mit dienen, meine Damen«, sagte der Wurstmaxe, während er mit einer hölzernen Zange die Würstchen aus seinem dampfenden Kessel fischte. »Det hätte mir garantiert müssen uffallen, wenn er hier wäre jewesen.«



»Schade«, sagte Valeska. »Meine Freundin hier hätte gerne ’ne kleine Rolle gehabt.«



»Die kann sogar ’ne jroße Rolle ham.«



»Wie? Wo?«



»Na, bei mir. Ick suche jerade ’ne neue Wirtschafterin, die mir meinen Haushalt führen tut. Die alte ist weg, zurück zu Hause bei ihr. Leichte Arbeit, juter Lohn.« Er zog seine Brieftasche unter der weißen Schürze hervor und ließ ein Bündel gutsortierter Geldscheine sehen.





Zwei



Richard Jerxheimer saß in seinem Laden in der Kreuzberger Adalbertstraße, wartete auf Kundschaft und kam sich albern vor. Wer kaufte sich in diesen lausigen Zeiten schon was Neues zum Anziehen!

Hoffen und Harren macht manchen zum Narren.

 Recht hatten die Leute. Nu, hatte er Zeit zu lesen. Im Regal stapelten sich die Ausgaben des

Berliner Tageblattes

. Am 13. März war es losgegangen. »Natürlich am 13.«, murmelte Jerxheimer. Aber schon am Tag davor, in der Ausgabe vom Freitag, dem 12. März 1920, hatte es entsprechende Überschriften gegeben:

Vereitelung eines reaktionären Putschversuchs. Alarmbereitschaft der Berliner Garnison. Mehrere Beschuldigte in Schutzhaft genommen

. Jerxheimer las die amtliche Bekanntmachung Satz für Satz:

 





Von zuständiger Stelle wird mitgeteilt: In Berlin hat seit einiger Zeit das Treiben einer rechtsradikalen Clique eingesetzt, deren Bestrebungen auf gesetz- und verfassungswidrigen Umsturz hinauslaufen, und die versucht hat, auch militärische Stellen für ihre Pläne zu gewinnen. Es kann festgestellt werden, dass die in Opposition gegen die Regierung stehenden Rechtsparteien der Nationalversammlung sowie der preußischen Landesversammlung dieser Sache fern stehen. Selbst weite Kreise altkonservativer Richtung lehnen die Desperadopolitik dieser rechtsspartakistischen Clique restlos ab.





Das aber konnte die Putschbewegung nicht stoppen, und so lautete die Schlagzeile im

Berliner Tageblatt

 am nächsten Tage denn auch:

Bedrohung Berlins durch einen Militärputsch

. Etwa 8000 Mann gegenrevolutionärer Truppen, die sich in Döberitz um die Brigaden von Lüttwitz und von Löwenfeld gruppiert hatten, marschierten nach Berlin und versuchten, Dr. Wolfgang Kapp, den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor, an die Macht zu bringen.

Die Tage der Säbelherrschaft,

 wie sie das

Berliner Tageblatt

 nennen sollte, hatten begonnen. Das Erste, was der Reichskanzler Dr. Kapp dann anordnete, war die militärische Besetzung der Berliner Zeitungsredaktionen, und auch das

Berliner Tageblatt

 musste seinen Betrieb einstellen. Dann hatte es den Generalstreik und die vielen Straßenkämpfe gegeben. Ein Nachbar, der Polizeibeamter war, hatte ihm erzählt, dass fast 150 Tote registriert worden waren.



Heute nun, am Mittwoch, dem 24. März 1920, bot Berlin ein ganz anderes Bild als an den Vortagen. Das geschäftliche Leben hatte fast in vollem Umfang wieder eingesetzt, und Verkehr wie Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung kamen langsam wieder in Gang. Am glücklichsten war Jerxheimer aber, dass er endlich wieder sein geliebtes

Berliner Tageblatt

 in den Händen halten konnte. Was hatte man seit einer Woche gehabt, wenn man wissen wollte, was in Berlin geschah? Nur Flugblätter und die Gerüchteküche. Geradezu begierig las er die Meldungen. Man jubelte über den

Siegestag des Volkes,

 und es hieß unter anderem:





Die Truppen, die sich in den Dienst der reaktionären Verschwörung gestellt, an der Überrumpelung Berlins teilgenommen hatten, zogen ab. Eine Gruppe ehrgeiziger, auf Volk, Recht und Freiheit dreist herabnäselnder Gewaltmenschen hat durch einen Handstreich die Macht an sich zu reißen versucht.





Der politische Generalstreik war für beendet erklärt worden. Jerxheimer ließ die Zeitung wieder sinken. Da waren sie ja noch einmal glimpflich davongekommen. Abgesehen vom Verdienstausfall und der Tatsache, dass die Putschmänner angeordnet hatten, das Mehl, das die alte Regierung für die Juden zu Ostern reserviert hatte, zu beschlagnahmen und an die Arbeiter zu verteilen.



»Das hätte ja was gegeben, wenn die ans Ruder gekommen wären«, sagte er mit einem Seufzer zu Leah, seiner schönsten und einzigen Schaufensterpuppe. Seit dem Tode seiner Frau war sie dazu bestimmt, sich anzuhören, was ihm durch den Kopf ging. »Müssen wir den Kommunisten und den Rotgardisten Dank sagen, dass sie gekämpft haben gegen die Reaktionäre, schön aber auch, dass se nich ganz nach oben gekommen sind. Obwohl, is se ja feige gewesen, unsere Regierung.« Reichspräsident Ebert und mehrere Mitglieder der Regierung waren nach Dresden und weiter nach Stuttgart geflohen. »Und was mir noch so auffällt, Leah, das ist, dass se so viele Offiziere und Soldaten ins Wasser geschmissen haben. Das scheint so ne richtje Mode gewesen zu sein.« Und er las Leah beim Überfliegen des

Berliner Tageblattes

 die entsprechenden Passagen vor:





In den Mittagsstunden wird der Leutnant Barth, der zur Besatzung der Reichsdruckerei gehörte, überfallen und von der Ritterbrücke ins Wasser geworfen … Als darauf eine Patrouille der Reichswehr erschien, umringte sie die Menge und warf mehrere Soldaten ins Wasser … Von der Adalbertbrücke warf die Menge einen Offizier ins Wasser; der Offizier ertrank … Aus dem Landwehrkanal wurde die schwer verstümmelte Leiche eines Reichswehroffiziers gelandet … Am Kottbusser Tor wurden ein Offizier und ein Soldat ins Wasser geworfen …





Darüber philosophierte er noch eine Weile – was es bedeutete, dass die Menschen ihre Opfer ins Wasser warfen. Sie taten es, um ihnen die letzte Ehre zu nehmen. Katzen ertränkte man. Und nichts war schlimmer, als wenn ein Mensch als Wasserleiche endete. So aufgedunsen wie ein Tierkadaver. Wenn die Verwesung langsam einsetzte. Jerxheimer schüttelte sich.



Der Vormittag verging quälend langsam, und kein Kunde ließ sich blicken. Die Leute hatten heute anderes im Sinn, als sich neue Sachen zu kaufen. So beschloss er, sein Geschäft schon um 16 Uhr zu schließen und die gewonnene Zeit zu nutzen, ein paar Gänge zu erledigen. Es gab Leute, die vergaßen, ihre Kledasche abzuholen, wenn sie nach dem Kauf noch zu ändern war. Meistens waren die Hosen unten zu lang und oben zu weit. Bei einem gewissen Gustav Witzke aus der Langen Straße war es genau umgekehrt gewesen. Aber nicht nur deswegen war ihm der Mann in Erinnerung geblieben, sondern auch wegen seines Auftretens. Er hatte ihn ganz genau taxiert: Das war einer, der mit allen Wassern gewaschen war und bald nach oben kommen würde. Den hatte er sich als Kunden warm zu halten, und sicherlich würde es ihm Witzke dankbar anrechnen, wenn er ihm den geänderten Anzug persönlich nach Hause brachte.



Also packte er das gute Stück in eine Tüte und machte sich auf den Weg zum Schlesischen Bahnhof. Weit war es nicht. Er brauchte nur die Adalbertstraße hinaufzugehen, kurz rechts in die Köpenicker Straße abzubiegen, um dann links zur Schillingbrücke zu gelangen. Hinter der Spree begann die Andreasstraße, die dann gleich nach Unterquerung der Stadtbahn die Lange Straße kreuzte. Er wäre zwar gern mit dem Auto gefahren, doch er hatte keines mehr. Zu schlecht gingen die Geschäfte. Nun, es würde wieder aufwärts gehen, wenn die neue Regierung erst gekommen war.



Die Straßen waren frei von sämtlichen Militärs, doch überall standen die Leute zusammen und diskutierten leicht hysterisch. Reichswehrminister Noske sollte zurückgetreten sein, und auf Anordnung des Generals von Seeckt seien Admiral von Trotha und General von Lüttwitz festgenommen worden. Man erwäge die Bildung einer reinen Arbeiterregierung, unter Berücksichtigung der Gewerkschaften. Das fanden die einen gut, die anderen aber regten sich fürchterlich darüber auf.



»Das ist doch nur eine Minderheit, und deren Versuch, die Regierung an sich zu reißen, ist doch gerade am Widerstand des Volkes gescheitert.« Ein anderer schrie, dass man die radikale Gefahr ebenso abwehren müsse wie die reaktionäre. Gott, der Gerechte, dachte Jerxheimer, die Berliner sind so abgehärtet, dass sie bei jedem Straßengefecht die Ruhe bewahren, aber am Durchdrehen sind, wenn statt der Kugeln Gerüchte durch die Lüfte schwirren.



Mit diesen Gedanken kam er in die Lange Straße und suchte nach dem Haus mit der Nummer 88. Besonders anheimelnd war die Gegend nicht, und er beeilte sich, in den Hausflur zu treten. Der Stille Portier verriet ihm, dass die Witzkes im vierten Stock des Seitenflügels wohnten. Auch das noch. Jerxheimer hasste das Treppensteigen wegen seines beginnenden Asthmas und verfluchte seinen Einfall, Witzke den Anzug nach Hause zu bringen. Außerdem gab es über ihm erheblichen Lärm. Hoffentlich geriet er in keine Prügelei hinein. Als er näher kam, konnte er jedes Wort verstehen, das oben gesprochen wurde. Offenbar kam die Frau, die da redete, von der Sozialkommission.



»Ich sage Ihnen, Herr Wachtmeister, so kann das nicht weitergehen. Dieser Großmann ist ein Unhold. Die tollsten Dinge passieren hier in seiner Kochstube. Jede Menge Frauenzimmer von der Straße bringt er her. Und zume