Der König vom Feuerland

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Der König vom Feuerland
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Horst Bosetzky

Der König

vom Feuerland

August Borsigs Aufstieg in Berlin

Roman

Jaron Verlag

Taschenbuchausgabe

1. Auflage dieser Ausgabe 2019

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes von Karl Eduard Biermann (Borsig’s Maschinenbauanstalt zu Berlin) Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-95552-250-6

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Epilog

Literatur

Prolog 15. März 1854

»Borsig!«, stöhnte Ludwig Rellstab, wieder einmal bei Varnhagen von Ense eingeladen. »Hören Sie auf mit unserem König der Lokomotiven! Ich soll für die Vossische Zeitung zu seinem fünfzigsten Geburtstag im Juni eine ganze Seite über ihn schreiben, ein umfassendes Lebensbild entwerfen – und habe bis jetzt nicht eine einzige Zeile zu Papier gebracht.«

»Da geht es Ihnen wie mir«, fügte Friedrich von Gräbendorff an. »Ich sitze an der Rede, die mein Minister bei der großen Feier am 25. dieses Monats halten soll.«

Karl Varnhagen von Ense brauchte einige Sekunden, bis ihm die Zusammenhänge klargeworden waren. »Sie meinen also unseren preußischen Handelsminister August von der Heydt. Geht es um Borsigs fünfhundertste Lokomotive?«

Der Assessor nickte. »So ist es. Aber ich bekomme das Phänomen August Borsig nicht in den Griff, ich verstehe nicht, wieso ausgerechnet dieser Mensch zu dem geworden ist, was er heute ist. Es hätte eigentlich nicht sein dürfen. Aller Logik zufolge hätte es dieser Mann höchstens bis zum Meister einer kleinen Zimmerei im hintersten Winkel Preußens bringen können.«

»Versuchen Sie es mit dem Begriff telos!«, riet ihm Gottfried Keller, der aufmerksam zugehört hatte.

»Pardon, wenn Sie mir bitte einmal …« Friedrich von Gräbendorff war Jurist und wusste mit dem Begriff telos nichts anzufangen.

Gottfried Keller war so weit mit allen philosophischen Grundbegriffen vertraut, dass er ihm in knappen Worten erklären konnte, worum es hierbei ging: »Aristoteles zufolge hat alles ein telos, ein ihm eigenes Ziel, und strebt an, es zu erreichen – mit anderen Worten, das zu werden, was ihm vorgegeben ist. Eine Eichel hat das telos, eine Eiche zu werden. Das ist ihr Endzweck. Ein immanenter Endzweck ist Bestandteil der Grundstruktur aller Wirklichkeit.«

»Ah …«, machte von Gräbendorff, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er noch immer nicht so richtig verstand, was es mit der Teleologie auf sich hatte.

Varnhagen versuchte, ihm mit einem Scherz auf die Sprünge helfen. »Ich schlendere die Linden hinunter und treffe meinen Freund Samuel Goldstein mit seinen beiden Enkelkindern. Wie alt denn die Kleinen seien, will ich wissen. Antwortet Goldstein: ›Der Leibarzt des Königs ist fünf, der Geheime Oberregierungsrath wird sieben.‹«

Ludmilla Assing, Varnhagens Nichte, die Gottfried Keller wie auch den Assessor ins Haus gebracht hatte, verfolgte eine ähnliche Spur. »Das erinnert mich an Calvins Prädestinationslehre. Die Geschichte wird bedingt durch die Errettung der Auserkorenen und die Bestrafung der Zurückgewiesenen. Für Calvin bleibt es unergründlich, warum Gott in der Vorhersehung die einen zum Glück und die anderen zum Verderben bestimmt.«

Varnhagen verzog ein wenig das Gesicht. »Warum denn alles so verkomplizieren! Es war ganz einfach die Zeit, die Menschen wie Borsig hervorgebracht hat. Die entscheidenden Erfindungen waren außerhalb Preußens gemacht worden, und wenn wir nicht hinter alle anderen Staaten zurückfallen wollten – insbesondere hinter England –, musste in unserem Lande etwas geschehen, mussten wir Verkehr und Maschinenbau entwickeln. Beuth hat das als Erster begriffen, und ohne Beuth hätten wir keinen Borsig. Es lag ganz einfach in der Luft.«

Seine Nichte wollte sich damit nicht zufriedengeben. »Schön und gut, lieber Onkel, doch diese Rolle, diese Aufgabe hätten auch hundert andere übernehmen und erfüllen können. Warum aber gerade unser Borsig?«

Ludwig Rellstab, der August Borsig schon einige Male begegnet war, hatte eine zusätzliche Erklärung parat: »Weil er ein Besessener ist!«

Gottfried Keller nickte. »So ist es. Letztlich siegen immer die, die von einer Idee oder einer Mission besessen sind, die voller Hingabe an die für sie heilige Sache sind und alles andere in ihrem Leben nur diesem einen großen Ziel unterordnen.«

Varnhagen lachte. »Da spricht jemand aus Erfahrung!« Alle wussten, dass der Schweizer jeden Tag und jede Nacht in seiner kleinen Wohnung am Gensdarmen-Markt saß und in qualvoller Arbeit seinen Roman Der grüne Heinrich zu vollenden suchte.

»Langsam beginne ich zu begreifen«, sagte von Gräbendorff.

»Wie schön«, sagte Ludmilla Assing, wobei sie sich des spöttischen Tons nicht ganz enthalten konnte. »Auch wenn alles letztendlich unbegreiflich ist. Soweit ich August Borsig kenne, ist er nicht ganz frei von Selbstüberhöhung.«

Varnhagen konnte nicht anders, als ihr zuzustimmen. »Ganz recht. Ich erinnere nur an die Frage eines Besuchers, warum er denn am Eingang zum Fabrikgelände keine Statue des Königs habe aufstellen lassen, sondern die eines Schmiedes. Die Antwort: ›Hier passt kein König her, hier ist der Schmied der König.‹ Wobei anzumerken ist, dass sich Borsig selbst in erster Linie immer als Schmied gesehen hat und nicht als Zimmermann, Maschinenbauer oder Fabrikherr.«

Gottfried Keller blickte zu Ludmilla Assing hinüber. »Das wäre doch ein Roman für Sie …«

Varnhagens Nichte winkte ab. »Nein, eher für Sie oder unseren wackeren Rellstab hier. Ich schlage den Titel vor: Mutmaßungen über Borsig

»Ich bin in erster Linie Musikkritiker und Dichter!«, rief Ludwig Rellstab.

Auch Gottfried Keller winkte ab. »Ich habe mit Der grüne Heinrich genug zu tun, und dann sind Die Leute von Seldwyla an der Reihe. Außerdem bin ich kein Preuße.«

Varnhagen lachte. »Schiller war auch kein Franzose und Goethe kein Holländer, und sie haben trotzdem Die Jungfrau von Orleans und Egmont zu Papier gebracht.«

Der Assessor stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das alles kann ich doch meinen Minister nicht referieren lassen! Er ist Bankier von Hause aus.«

Ludmilla Assing, die als Feuilletonistin und Romanautorin viele Erfahrungen gesammelt hatte, wusste einen Ausweg. »Gehen Sie bei Borsig vorbei und lassen sich von ihm erzählen, wie das alles gewesen ist in seinem Leben. Sie brauchen ja nicht damit anzufangen, wie er in der Wiege gelegen hat und was er als Knabe alles so gedacht und gemacht hat.«

»Eine vortreffliche Idee!«, sagte Varnhagen. »Aber so viel Aufwand für ein paar Worte des Ministers? Dazu ist unser lieber Borsig doch viel zu beschäftigt, als dass er die Zeit dafür hätte.«

 

»Ich komme mit!«, rief Ludwig Rellstab. »Bei mir wird er nicht so leicht ablehnen können. Und ich kenne einige Leute, die uns die Türe öffnen könnten, Heinrich Strack zum Beispiel, seinen Hofarchitekten.«

Friedrich von Gräbendorff bedankte sich und verließ, Ludwig Rellstab im Schlepp, die kleine Gesellschaft, um in das Dienstgebäude des Handelsministers zurückzukehren, in die ehemalige Gold- und Silbermanufactur in der Wilhelmstraße 79. Dort war es in letzter Zeit sehr laut, denn das Gebäude wurde nach Plänen von Friedrich August Stüler um ein Stockwerk erhöht. An seinem Schreibtisch angekommen, läutete er nach dem Bureaudiener und fragte das devote Männlein, ob etwas Wichtiges anliegen würde. Das war nicht der Fall.

»Gut, dann bin ich den Nachmittag über außer Haus. Sollte der Herr Minister nach mir fragen, so richten Sie ihm bitte aus, dass ich wegen der Rede zur fünfhundertsten Borsig-Lokomotive unterwegs bin.«

Damit verließen die beiden Männer das Ministerium und schlenderten zum Gensdarmen-Markt, denn es war zu vermuten, dass sich Heinrich Strack zu dieser Zeit im Café Stehely aufhalten würde. Und richtig, er saß dort im Roten Salon an einem der hinteren Tische und war in die Lektüre der Vossischen Zeitung vertieft. Rellstab trat näher, entschuldigte sich für die Störung, stellte von Gräbendorff vor und bat, kurz sein Anliegen vortragen zu dürfen.

»Aber natürlich!«, rief Heinrich Strack, hörte sich alles an und versprach, mit Borsig in den nächsten Tagen zu reden. »Ich vermute einmal, dass der Gute sich geschmeichelt fühlen und Ihrem Besuch zustimmen wird.«

Keine Woche später saßen sie August Borsig in dessen Moabiter Villa gegenüber und fragten ihn, wie denn wohl bei ihm alles angefangen und seinen Lauf genommen habe.

»Nun, meine Herren …« Borsig schloss die Augen, um sich zu sammeln. »Ich sehe alles noch genau vor mir … Auch wie ich als Kind durch die Werkstatt meines Vaters laufe und mir überall Splitter einreiße … Aber ich will nicht zu weit ausholen … Die Zeit der französischen Besatzung lassen wir am besten beiseite und beginnen erst mit den Tagen, da ich schon ein reifer Knabe war, dreizehn Jahre alt, und mich darin übte, ein tüchtiger Zimmermann zu werden. Anderes schien in meiner Familie auch gar nicht möglich. Nun denn, wir schreiben das Jahr 1817 und begeben uns nach Breslau in die Neudorfstraße …«

Kapitel eins 1817

Obwohl er Klassenbester war, ging August Borsig nicht gern zur Schule, aber sie gehörte halt zum Leben. Und die längste Zeit hatte er schon hinter sich, bald wurde er konfirmiert und kam in die Lehre.

»Wo war ich stehengeblieben?«, fragte der Lehrer hoch oben vom Katheder her.

»Nirgendwo«, antwortete Walter Rawitsch, Borsigs Freund und Nebenmann. »Sie sitzen doch.«

Das Gelächter der anderen quittierte Wilhelm Mistek damit, dass er Rawitsch nach vorne kommandierte. Das konnte er gut, denn er war ein altgedienter preußischer Feldwebel. Rawitsch musste die Finger seiner rechten Hand ausstrecken und nach oben drehen. Die fünf Hiebe mit der Haselrute steckte der Junge weg, ohne aufzuschreien. Er galt als harter Hund, und alle bewunderten ihn – auch Borsig. Mit Leuten wie Walter Rawitsch hätten sich die Preußen 1806 bei Jena und Auerstedt nicht so schmählich in die Flucht schlagen lassen.

»Beim Hausbau bin ich stehengeblieben«, sagte Mistek. »Da liegen Steine, Ziegel, Mörtel und Balken auf dem Boden herum – und ein Jahr später steht dort ein wunderschönes Haus. Wie kommt das?«

Mehrere Finger schnellten in die Höhe, denn die Antwort schien nicht schwer. »Weil da Maurer, Zimmerleute und Dachdecker am Werke waren.«

Mistek nickte. »Richtig! Aber kommen die am Morgen einfach so auf die Baustelle und fangen nach Lust und Laune an, der eine greift sich einen Stein, der andere einen Balken – und dann macht jeder Seins?«

»Nein, da ist noch ein Polier, der aufpasst!«, rief Walter Rawitsch.

Der Lehrer herrschte ihn an: »Du schreibst zu Hause fünfzig Mal: Ich habe mich in der Schule zu melden, bevor ich den Mund aufmache. Doch ansonsten gut beobachtet. Da ist also ein Polier, der alles überwacht. Aber reicht das?«

Nun gab es nur noch einen, der sich meldete – und das war August Borsig. »Nein, da muss vorher einer sein, der sich ausgedacht hat, wie das Haus gebaut werden soll.«

»Bravo, Borsig! Und wie nennt man einen solchen Mann?«

Und wieder wusste nur Borsig, was gemeint war. »Einen Baumeister. Knobelsdorff.«

Mistek war beeindruckt. Was dieser Zwölfjährige schon alles wusste! Dennoch musste er schmunzeln. »Nun, der Erbauer des Berliner Opernhauses und des Schlosses von Sanssouci wird nicht gerade zum Breslauer Ring kommen, um hier ein Bürgerhaus zu errichten, zumal er seit 1753 tot ist. Aber es stimmt, dass es neben den Materialien und der menschlichen Arbeitskraft jemanden geben muss, der eine Idee hat und sie zu Papier bringt, also Zeichnungen anfertigt, nach denen sich der Polier und die Maurer und Zimmerleute zu richten haben. Aber wer ist es, der dem Baumeister seine Idee eingibt?« Keiner meldete sich, was Mistek etwas verstimmte. Nur gut, dass der Pfarrer nicht im Schulhaus war und ihn wegen dieses Mangels tadelte! August Borsig war seine letzte Hoffnung. »Nun, wer fehlt uns noch, wenn ein vortreffliches Haus entstehen soll?«

Borsig überlegte einen Augenblick. »Na, der Bauherr.«

Mistek runzelte die Stirn. »Wie?«

»Na, einer muss doch das Geld haben und dem Architekten sagen, wie er das Haus haben will, und nachher die Arbeiter und die Steine und Balken und das alles bezahlen.«

»Gut, das mag ja sein, aber die alles entscheidende Kraft ist Gott. Ohne den Willen und die Gnade des Herrn geht es nicht.« Und er erhob sich, um an die Tafel zu gehen und zu schreiben:

Johannes 4, 24: Gott ist Geist.

Markus 9, 23: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.

Seit der Völkerschlacht bei Leipzig und dem Ende der Befreiungskriege waren nicht einmal dreieinhalb Jahre vergangen, und im Januar 1817 zeigte sich das preußische Bürgertum ebenso erschöpft wie resigniert. Die Erschöpfung rührte vom langen Kampf gegen Napoleon her, die Resignation hatte ihren Grund in den geplatzten Träumen, denn beim Wiener Congress war allen liberal-demokratischen und patriotisch-nationalen Bestrebungen ein Riegel vorgeschoben worden. Der König hatte seinem Volk eine Verfassung versprochen, dieses Versprechen aber niemals eingelöst. Das fortschrittliche Bürgertum zog sich in seine vier Wände zurück, die Zeit der Restauration und des Biedermeiers begann. In Europa gingen die Uhren nun langsam und in Breslau noch etwas langsamer, doch aufzuhalten war das neue Zeitalter – das der Industrie – nicht mehr. Keiner hatte eine Ahnung von dem, was in den nächsten fünfzig Jahren passieren sollte, auch August Borsig nicht, obwohl er eine herausragende Persönlichkeit dieses neuen Zeitalters werden sollte.

Trafen sie sich im kleinen Haus des Zimmermannes Johann George Borsig in der Neudorfstraße, um zu Abend zu essen, dann redeten sie weniger über die Zukunft als über das, was gewesen war. Den Ton gab der Vater an, und auch heute kam er wieder auf die Schlacht bei Großgörschen zu sprechen, die am 2. Mai 1813 geschlagen worden war und an der er als Kürassier im Regiment von Dolffs teilgenommen hatte.

»Wir haben beim Dorfe Starsiedel gestanden, und als die Brigade Klüx die Franzosen angegriffen hat, sind wir nach links herausgerückt, um deren Flanke zu decken. Doch schnell ist alles ins Stocken geraten.«

August Borsig hörte zwar zu, aber das Ganze interessierte ihn nur wenig. Als Napoleon Einzug in Berlin gehalten hatte, war er noch zu klein gewesen, das alles zu begreifen, und erst die schrecklichen Berichte und Bilder vom Russlandfeldzug 1812/13 hatten sich bei ihm eingebrannt. Da war er schon acht Jahre alt, und Alpträume quälten ihn. Wie der Sturm über die Ebene an der Beresina fegte und plötzlich eine Hand aus einer hohen Schneewehe ragte … Ein dunkelblauer Uniformärmel mit rotem Aufschlag folgte ihr … Ein französischer Grenadier kam zum Vorschein … In seiner Brust steckte ein Bajonett. Da schrie August dann mitten im Schlaf auf. Auch an die vielen Soldaten musste er denken, die durch Breslaus Straßen gelaufen waren, an die blauen Grenadiere des Franzosenkaisers, an die schwarzen Kosacken, an die bunten Jäger und Reiter. Der Vater war auf einem Braunen als stolzer Kürassier durch Breslau geritten, und seine prächtige Uniform hing noch immer im Schrank. Auch den langen, breiten Säbel hatte er aufbewahrt, den Helm, das Bandolier und die schweren, hohen Reiterstiefel mit den angeschnallten Sporen. Das alles erfüllte den Jungen eher mit Angst denn mit Ehrfurcht. Krieg und Soldatensein waren einfach nicht seine Sache. Dazu war er zu weich, das fühlte er, nahm es aber nicht als Mangel, zumal für ihn feststand, dass es, solange er lebte, keinen Krieg mehr geben würde.

Der Vater kam von seinen Erinnerungen nicht mehr los. »Fast vier Jahre sind es nun her … Mitte März, Schnee und Eis waren gerade weggetaut, da zieht der Zar in Breslau ein … Und unser König lässt an alle Mauern große Bögen mit seinen Aufrufen anschlagen: An mein Volk! Jetzt geht es gegen den verhassten Franzosenkaiser. Das schlesische Freikorps wird in der Kirche von Rogau eingesegnet, und alle singen … Na, was singen sie?«

Er sah die Seinen erwartungsvoll an, aber nur August kannte den Text. Mistek hatte ihn den Kindern wochenlang eingetrichtert. Und so konnte der Junge das Lied nun aufsagen:

Der Herr ist unsere Zuversicht, Wie schwer der Kampf auch werde. Wir streiten ja für Recht und Pflicht Und für die heil’ge Erde. Drum retten wir das Vaterland, So tat’s der Herr durch unsere Hand. Dem Herrn allein die Ehre!

»Bravo!«, rief der Vater. »So ist es recht für einen guten Preußen. Theodor Körner hat das gedichtet, einer, der in Major Lützows Freischar mitgekämpft hat.«

August hatte noch deutlich das Bild vor Augen, wie sich auf den Plätzen Breslaus ganze Züge von Freiwilligen gebildet hatten, um sich in den Bierschenken für das Lützow’sche Corps einschreiben zu lassen. Was war er froh gewesen, erst neun Jahre alt zu sein! Denn es grauste ihm davor, von einer französischen Kugel niedergestreckt zu werden, bevor er richtig gelebt hatte. Als dann der Kanonendonner über die Hügel Schlesiens gerollt war, hatten die anderen Jungen beim Soldatenspiel als Blücher und Gneisenau, als Ney und Marmot agiert, er dagegen hatte die Rolle des Feldschers, der sich um die Verwundeten zu kümmern hatte, zugewiesen bekommen. Keiner traute ihm zu, ein richtiger Feldherr zu sein – was ihn ziemlich kränkte. Mit in den Jubel eingefallen aber war er, als im Oktober überall in Schlesien die Glocken des Sieges geläutet hatten.

Nach dem Essen hockte man dann im milden Schein einer Rüböllampe gemütlich auf der hölzernen Bank, die sich um den grünen Kachelofen zog, und beschäftigte sich bis zur Schlafenszeit mit nützlichen Dingen. August, sein Vater und sein Bruder Gottlieb schnitzten Figuren, Tiere zumeist, und Flöten, während die Mutter und seine größeren Schwestern, die Susanne und die Eleonore, strickten. Luise, das Nesthäkchen, gerade einmal drei Jahre alt, schlief schon selig in der Kammer der Eltern.

An der Wand hing der kunstvoll gezeichnete Stammbaum der Familie Borsig, und aus dem ging hervor, dass es für die Männer eigentlich nur einen Beruf gegeben hatte: den des Zimmermanns. Und auch August Borsig zweifelte keinen Augenblick daran, Zimmermann zu werden. Wie sein Vater, wie sein Großvater, wie sein Onkel Christian. »Das liegt uns eben im Blut«, hieß es. Und nach dem Geruch frischen Holzes war der Junge geradezu süchtig. Holz war ein lebendiger Stoff, Holz konnte man formen. Aus einer biegsamen Rute wurde ein Flitzbogen, aus einem Klotz schnitzte er einen Kopf, aus Brettern und Balken baute er sich hinten im Garten ein Häuschen oben in der Baumkrone. Und in jeder freien Minute besuchte er seinen Vater, um ihm auf der Baustelle zur Hand zu gehen, vor allem aber, um zu schauen und zu lernen. Mit seinen zwölf Jahren wusste er schon eine Menge über die Kunst des Dachstuhlbaus. Der Stuhl war ein Gestell, auf dem die Holzkonstruktion ruhte, welche wiederum die Dachhaut trug. Und selbstverständlich wusste er, was Sparren waren, Firstbretter und Fuß- und Mittelpfetten.

Der Winter war lang, und es gab für einen Zimmermann wenig zu tun, und so freute sich Johann George Borsig, als er Anfang Februar von Meister Ihle den Auftrag erhielt, zu einer kleinen, aber sehr dringenden Reparatur ins Haus des Geheimen Regierungsraths Ludger Krauthausen zu eilen. Der Sturm in der gestrigen Nacht habe dessen altersschwachen Schornstein einstürzen lassen, und dabei seien nicht nur die Dachziegel zerschlagen worden, sondern auch einige morsche, weil von Würmern zerfressene Sparren zu Bruch gegangen.

 

Es war Sonntag, und so fragte August, ob er den Vater begleiten dürfe. Es wurde ihm zugestanden, und so machten sich beide gleich nach dem Frühstück auf den Weg. Es war die Schweidnitzer Vorstadt zu durchqueren, bis sie den Stadtgraben erreichten. Dem folgten sie Richtung Westen, um nach knapp einem Kilometer den Königsplatz zu erreichen, von dem die Nicolaistraße abging. Hier, zwischen Barbara-Kirche und Residenz-Theater, hatte Krauthausen, der aus den preußischen Rheinprovinzen an die Oder versetzt worden war, Quartier genommen. Gerade hatten sie ihr Ziel erreicht, da kam auch Meister Ihle mit seinem Pferdefuhrwerk, und sie luden erst einmal alle Hölzer ab, die sie brauchten, um die maroden Teile zu ersetzen.

»Dann wünsche ich frohes Schaffen!«, sagte Ihle und machte sich wieder auf den Heimweg, um seine Sonntagsruhe zu genießen. Sein Polier würde es schon richten.

Das Mädchen öffnete ihnen, nachdem sie am Klingelzug gerissen hatten, und führte sie auf den Dachboden hinauf.

Bis zum Mittagessen hatten Vater und Sohn alles sauber ausgebessert, so dass der Dachdecker gerufen werden konnte. Als sie wieder herabgestiegen waren und auf dem Weg zur Straße waren, ging im Hausflur unten eine Tür auf, und eine weißgekleidete Gestalt erschien.

»Ein Gespenst!«, rief August Borsig und wich im Reflex zurück.

Doch wer ihnen da den Weg verstellte, war kein anderer als Ludger Krauthausen, eine der berühmten rheinischen Frohnaturen. Untersetzt und schwarzhaarig war er, was nur daran liegen konnte, dass vor rund zweitausend Jahren ein römischer Legionär ein germanisches Mädchen geschwängert hatte. Um sich ein bisschen Heimat nach Schlesien zu holen, wollte er am Fastnachtssonntag einen närrischen Maskenball feiern.

»Und zu dieser Maskerade gehe ich als Kaiser Nero«, erklärte er den Borsigs. »Meine Frau hat mir gerade meine Toga abgesteckt.« Er bemerkte die fragenden Augen des Jungen. »Du weißt nicht, wer Nero war?«

»Doch …« August Borsig zögerte mit einer Erläuterung, da er sie als unschicklich empfand. Aber der Geheime Rath schien ja Spaß zu verstehen, und so sagte er schließlich, dass Nero der im letzten Jahr verstorbene Hund des Zimmermeisters Ihle gewesen sei.

Krauthausen lachte und nahm sich die Zeit, dem Jungen einen kleinen Vortrag zu halten. »Nero kam aus der julisch-claudischen Dynastie und war von 54 bis 68 nach Christi Geburt Kaiser des Römischen Reiches. Er sah sich als großer Dichter und Sänger, und kurz vor seinem Tod soll er immer wieder ausgerufen haben: ›Welch Künstler geht mit mir zugrunde!‹«

Kaiser sein, Herr und Herrscher über viele Menschen, das faszinierte August Borsig. Nicht immer nur Befehle entgegennehmen – ob nun vom Vater oder von Mistek –, sondern tun und lassen, was man selbst wollte. Von nun an träumte er immer wieder, einmal Herr zu sein.

Den Borsigs selbst verging die Lust zum Feiern, denn aus Nieder-Pontwitz kam die Nachricht, dass die Oma im Alter von 68 Jahren unerwartet verstorben war. Die Großeltern hießen noch Burzik, George und Johanna Burzik, und erst als ihr Sohn Johann George nach Breslau gegangen und Susanna Catharina Werner geehelicht hatte, war durch einen Schreibfehler des Standesbeamten aus Burzik Borsig geworden. Manche vermuteten auch, er habe den Namen still und heimlich eindeutschen wollen oder aber Borsig für wohlklingender gehalten als Burzik.

Von Breslau nach Nieder-Pontwitz, das im Fürstenthum Oels gelegen war, brauchten sie bei bitterer Kälte und auf teils noch vereisten Straßen mit der Kutsche, die sie sich geliehen hatten, mehr als drei Stunden, und sie kamen gerade vor der Dorfkirche an, als der Pfarrer zur Rede ansetzte.

»Wir sind traurig, Herr, denn wir müssen für immer Abschied nehmen von einem Menschen, der uns so vertraut war wie niemand sonst. Mit seinem Tod geben wir auch einen Teil von uns selbst dahin.«

Da schossen dem Jungen die Tränen in die Augen. Zwar war in den Tagen der Napoleonischen Kriege viel vom Sterben die Rede gewesen, aber immer hatte es nur die anderen getroffen, und es war Mitleid gewesen, aber nicht Leid. Seine Großmutter war auch einmal so jung gewesen wie er, ein gesundes und kraftvolles Mädchen … Nun lag sie im Sarg, und auch er würde am Ende seiner Tage in einem solchen Sarg liegen, während die anderen trauerten. In diesen Sekunden begriff August Borsig, dass auch er sterblich war, und das war für ihn eine furchtbare Erkenntnis. Zugleich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es Menschen gab, die unsterblich waren, Friedrich II. von Preußen oder dieser Kaiser Nero beispielsweise. Nur wer Großes leistete, konnte damit rechnen, unsterblich zu werden.

Der Rest des Februars und der März 1817 verliefen ohne Ereignisse, die sich im Gedächtnis der Jungen festgesetzt hätten, und das Gleichmaß der Tage wurde erst mit den Ostertagen beendet. Der Ostersonntag fiel in diesem Jahr auf den 6. April, und am Karfreitag kam seine Tante Anna, die fünf Jahre jüngere Schwester seines Vaters, für ein paar Tage zu Besuch. Sie war in Trebnitz bei einem hohen Offizier in Stellung. Anna Borsig galt als etwas verschroben, »nerrsch«, wie die Schlesier sagten, und glaubte an gute wie an böse Geister. Schon am ersten Abend erschreckte sie die Kinder mit ihren Erzählungen.

Der Vater musterte seine Schwester. »Nu, mein Madla, du siehst mir gar nicht gut aus. So blass und dünne.«

»Ja, da magst du recht haben, Johann, das kommt von diesem dreimal verfluchten Czaja!«

Die Breslauer staunten, denn Joachim Czaja, ihr Verlobter, ein Kürassier aus Steinau an der Oder, war schon seit über zwanzig Jahren tot. Er war kurz vor der geplanten Heirat vom Pferd gefallen und hatte sich den Hals gebrochen.

»Trauerst du noch immer um ihn?«, fragte Susanna Borsig, ihre Schwägerin.

»Nein, das nicht. Aber er ist ein Nachzehrer.«

Was das war, wusste August: ein Toter, der unter der Erde liegt oder sitzt und seinen Hinterbliebenen die Lebenskraft absaugt. Im Gegensatz zum Vampir kam er niemals aus seinem Grab heraus.

»Das mit dem Nachzehrer, das ist doch Mumpitz!«, rief der Vater.

»Das ist es nicht!«, beharrte die Tante. »Als er beerdigt worden ist, haben wir vergessen, etwas auf seine Brust zu legen, das ihn gebannt hätte, ein Messer oder eine Schere.«

Als Anna Borsig am Ostersonnabend mit ihrem Neffen durch die Breslauer Innenstadt schlenderte, entdeckte sie in der Nähe der St.-Elisabeth-Kirche die Stube einer Wahrsagerin.

»Das kann ich mir nicht entgehen lassen, mein Jingla!«, rief sie. »Und du kommst mit!«

»Nein, ich …«

Sie zog ihn mit sich zur Haustür. »Sei kein Plotsch!«

Ein Plotsch, ein Dummkopf, wollte er nicht sein, also ging er mit. Auch damit er seinem Freund Walter Rawitsch etwas zu erzählen hatte. Die Wahrsagerin erinnerte ihn stark an die Hexe aus Hänsel und Gretel. Er begann sich zu fürchten. Seine Tante aber plauderte ganz unbefangen mit ihr, und so widerstand er dem Impuls davonzulaufen.

»Mein Neffe zuerst!«, sagte Anna Borsig. »Ich bin mal gespannt, was aus ihm werden wird.«

Die Wahrsagerin starrte in ihre Kristallkugel, in der sich das Licht einer dicken Kerze brach. August zitterte nicht gerade vor Erwartung, aber gespannt war er doch, sosehr er das alles für Humbug hielt.

»Ich sehe eine Menge … Du bist ein Liebling der Götter, hoch sollst du steigen – aber mit einem Schlag kann alles aus sein.«

Schien es in Breslau, als würde die Welt auf ewig bleiben, wie sie gerade war, so geschah anderswo vieles, was sie völlig verändern sollte. Man brauchte das Eisen nicht mehr, um Kanonenrohre zu gießen, es konnte zu anderem verwendet werden. Es begann die große Stunde der Tüftler und Erfinder. Auch bildete sich – vor allem in England – ein Menschentyp heraus, der Neues schaffen wollte und viel damit verdiente, dass er andere für sich arbeiten ließ: der moderne Unternehmer. Erfüllt von der puritanischen Idee, dass nur harte Arbeit Gott gefiel, man aber das verdiente Geld nicht verprassen durfte – denn jede Lust, insbesondere die des Fleisches, war Sünde –, häuften diese Männer so viel Kapital an, dass sie neue Unternehmen gründen und neue Märkte erobern konnten.

John Wilkinson, 1728–1808, genannt Iron Mad Wilkinson, der aus einer Familie von Eisenhüttenleuten kam, baute 1747 in Lancashire seinen ersten Hochofen und erfand eine Präzisionsbohrmaschine zum Ausbohren von Kanonenrohren. Obwohl ihn ganz England auslachte, schuf er das erste Schiff aus Eisen. Er war so besessen von diesem Werkstoff, dass er sich sogar in einem gusseisernen Sarg begraben ließ.

Benjamin Huntsman, 1704–1776, von Hause aus Uhrmacher, experimentierte so lange, bis er flüssigen Stahl, Gussstahl, herstellen konnte.

James Watt, 1736–1819, gelernter Mechaniker, verbesserte den Wirkungsgrad der alten Wasserhebe-Dampfmaschinen in den englischen Gruben und machte sie zum Prototyp der modernen Maschine.

Aber auch in Deutschland begann es sich zu regen: Friedrich Krupp, 1787–1826, gründete 1810 mit dem Geld, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, die »Firma Friedrich Krupp zur Verfertigung des Englischen Gußstahls und aller daraus resultierenden Fabrikationen«.

Eine Ahnung von dieser modernen Welt sollte August Borsig bekommen, als er Meister Ihle und seinen Vater bei einer Reise nach Tarnowitz begleiten durfte. Das lag 170 Kilometer südöstlich von Breslau, nahe an der Grenze zum sogenannten Congresspolen, das Teil des russischen Zarenreichs geworden war. Sie waren, da Ihles Fuhrwerk mit einigen Ersatzteilen schwer beladen war, mehrere Tage unterwegs. Mit der Schule nahm das keiner so genau, und wenn August ein paar Stunden versäumte, machte das nichts.