Der kalte Engel

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der kalte Engel
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Horst Bosetzky

Der kalte Engel

Roman

Jaron Verlag

Taschenbuchausgabe

1. Auflage dieser Ausgabe 2013

© 2002 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller

seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos des Landesarchivs Berlin

(Henry Ries: Anhalter Bahnhof, 1948)

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 9783955521981

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

ERSTER TEIL

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

ZWEITER TEIL

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

DRITTER TEIL

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

VIERTER TEIL

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

FÜNFTER TEIL

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Kapitel 42

Kapitel 43

Anhang

Schlussbemerkung und Danksagung

Literatur

Prolog
Kapitel 1

Als Manne an diesem Nachmittag sein Schulbuch in die Ecke warf und auf die Straße lief, um mit Jörg und Robert Fußball zu spielen, war es für ihn ein Tag wie jeder andere. Noch jedenfalls. Mit seinen zehn Jahren kannte er keine andere Welt als diese: Berlin als eine große Trümmerwüste. Das galt auch für die Gegend um den Stettiner Bahnhof, Berlin N4. Groß geworden war er in der Borsigstraße. Die reichte von der Elsässer bis zur Invalidenstraße und zählte 34 Häuser. Davon waren die Nummern 6, 11 a bis 21, 31b bis 34 im Krieg zerstört worden. Nicht schlecht. Mannes Opa erzählte immer den Witz: »Berlin ist die Stadt der Warenhäuser – hier war’n Haus und da war’n Haus.« Manne und seine Freunde fanden, dass es keinen schöneren Spielplatz gab als eine richtige Ruine. Außer, man wollte Fußball spielen. Zum Beispiel VfR Mannheim gegen Borussia Dortmund oder Union Oberschöneweide gegen den BSV 92. Manne hatte zum Geburtstag einen nagelneuen Fußball aus Igelit bekommen. Den hatte er seitdem immer bei sich.

Wo steckten Jörg und Robert? Wahrscheinlich waren sie zum Güterbahnhof gelaufen, um zu sehen, ob zwischen den Gleisen heruntergefallene Presskohlen lagen. Oder man sprang auf die Loren und schmiss sie runter. Die Eltern freuten sich darüber mehr als über eine Eins im Rechnen, die man nach Hause brachte.

Es war undufte von den beiden Freunden, dass sie nicht auf ihn gewartet hatten. Manne lief durch die Straßen, sie zu suchen. Schade, dass es keine Trümmerbahnen mehr gab. Mit Feldbahnloren konnte man so herrlich D-Zug spielen. Seine Mutter hatte lange Zeit als Trümmerfrau gearbeitet. Alle verfügbaren Arbeitskräfte waren eingesetzt worden, um die Schuttmassen zu beseitigen. Zuerst waren die Straßen freigeräumt worden, damit die Versorgungsfahrzeuge passieren und die Straßenbahnen wieder fahren konnten. Dann mussten alle Ruinen eingerissen werden, die jederzeit einstürzen konnten. Das war immer unheimlich spannend. Wenn die Männer von der Abbruchfirma oben ein dickes Seil um einen stehen gebliebenen Schornstein gelegt hatten und dann unten daran zogen: »Hauruck! Hauruck!« Und die Staubwolke, wenn das Ding endlich umgefallen war!

Unter den Trümmern lagen noch zahlreiche nicht explodierte Sprengkörper, und wenn sie trotz aller Verbote in den Ruinen herumkletterten, um nach Buntmetall zu suchen, mussten sie jeden Augenblick damit rechnen, dass so ein Blindgänger in die Luft ging.

Grundsätzlich gab es für Manne drei Arten von Ruinen: einmal die Häuser, die Sprengbomben und Luftminen in Schutt und Asche gelegt hatten, Volltreffer, und die nichts mehr waren als ein einziger großer Trümmerhaufen, und zum anderen die Gebäude, die von Brandbomben getroffen worden waren. Im Innern war da nichts erhalten geblieben, vom Keller bis zum Dach alles ausgebrannt, aber die Fassade war noch völlig intakt, wenn auch vom Ruß geschwärzt. Drittens kamen dann die Teilruinen hinzu, Wohnhäuser, bei denen die eine Hälfte zerstört worden war, die andere aber noch bewohnt wurde. Da hingen dann noch Eisenträger in der Luft, und man konnte die Tapeten an den Wänden sehen, die früher zum Wohnzimmer gehört hatten und jetzt außen waren.

Wo man Bombentrichter verfüllt und zerstörte Häuser abgetragen hatte, waren freie Plätze entstanden. Manchmal gastierte dort ein kleiner Zirkus, oder es wurde ein Rummel aufgebaut. Vielleicht dieses Jahr auch mal ein Weihnachtsmarkt.

Noch immer keine Spur von Jörg und Robert. Manne war ein wenig mulmig zumute. »Geh mit keinem mit!« Er hatte die Stimme seiner Mutter ganz genau im Ohr. Was mit Kindern geschah, die mit fremden Männern mitgingen, wusste zwar niemand von ihnen genau, sie glaubten aber, dass man sie wie ein Karnickel schlachten und ihr Fleisch verkaufen würde. Und wenn Jörg und Robert nun … Nein, da vor der Golgatha-Kirche standen sie. Gott sei Dank. Wo sie denn gesteckt hätten? Jörg in der Desinfektionsanstalt. »Zum Entlausen.« Robert war beim Arzt gewesen. »Nachimpfen.« Die Impfung in der Schule hatte er verpasst. »Und dann hab’ ich noch zu Hause Kohlen aus’m Keller hoch holen müssen – wie Hennecke, do!« Adolf Hennecke hatte seine Tagesnorm als Bergmann zu 387 Prozent übererfüllt und war damit in der DDR zum Vater aller Aktivisten geworden.

 

»Wat spiel’n wa nu?« Manne war für Fußball, Robert für Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Jörg tippte sich an die Stirn: »Da sind wa doch viel zu wenig zu.« Er war für Autorennen oder Klimpern, ohne aber eine ausreichende Mehrheit für seine Vorschläge zu finden. Schließlich einigten sie sich auf Fußball. Jörg gegen Robert, das heißt, Union Oberschöneweide (Ost-Berlin) gegen den BSV 92 (West-Berlin). Roberts Vater war Grenzgänger, wohnte im Osten und arbeitete im Westen. Daher diese Rollenverteilung. Manne war der Torwart, und als solcher hatte er streng neutral zu sein.

Man hatte keine Lust, zum nächsten Park zu laufen, man blieb bei sich in der Borsigstraße. Ein Auto kam nur alle Jubeljahre mal. Der »Kasten« war eine zugemauerte Toreinfahrt in einer der Ruinen des zweiten Typs, also ausgebrannt, aber Fassade erhalten. Die Nr. 4.

Manne nahm Aufstellung und machte einen Abschlag. Hoch in die Luft und möglichst genau in die Mitte von Jörg und Robert. Zugleich schrie er: »Anpfiff!« Die beiden Freunde schraubten sich in die Höhe, aber am Ball vorbei. Der tippte hinter ihnen auf, sprang auf die Fahrbahn und rollte in den gegenüberliegenden Rinnstein. Jörg war als Erster hingespurtet und hatte ihn erobert. Aber schon war Robert zur Stelle, und sie begannen wie wild zu rempeln und zu fummeln. Schließlich aber kam Jörg frei zum Schuss. Manne riss die Arme hoch und lenkte den Ball links um den Pfosten, das heißt um die Kante der Toreinfahrt. Ein Schrei. Das wertvolle Stück war durch ein nicht zugemauertes Fenster im Hochparterre gesegelt und mitten in der Ruine gelandet.

Manne ging auf Jörg los. »Du holst’n da raus, du haste’n ooch rinjeschossen.«

Jörg protestierte. »Du hast se ja nich mehr alle: Du hast’n doch rinjelenkt!«

Auch Robert war gegen Manne. »Schließlich isset deiner.« Manne sah ein, dass die anderen die besseren Argumente hatten. »Dann helft mir aber wenigstens hoch und bleibt oben am Fenster stehen … Falls ick drin verschüttet werden sollte.« Die beiden Freunde versprachen es und verschränkten ihre Hände ineinander, um für Manne eine Trittstufe zu bilden. Der pumpte kurz wie ein Käfer, der losfliegen wollte, setzte seinen linken Fuß hinauf, griff sich den Fenstersims mit beiden Händen und schwang sich so weit nach oben, dass er sein rechtes Knie, den Unterschenkel und Teile seines Oberschenkels auf dem Mauerwerk platzieren konnte. Noch ein paar Bewegungen in der Art eines Trockenschwimmers, dann saß er in der Fensteröffnung und schaute in die ausgebrannte Parterrewohnung. Wohin war sein Ball gerollt?

»Hast’n schon gesehen?«, fragte Jörg.

»Nee …« Draußen wurde es schon langsam dunkel – und so ohne Taschenlampe. Manne beugte sich noch etwas weiter ins Innere der Ruine, um zu sehen, ob sein Ball nicht unmittelbar unter ihm lag, sozusagen im toten Winkel.

Da schrie er auf, so furchtbar, dass es durch die halbe Borsigstraße hallte, und prallte derart heftig zurück, dass ihn die Freunde nicht mehr auffangen konnten. Er knallte auf das Straßenpflaster.

»Was ist denn los?«

In der Ruine lagen Teile einer grausam zerstückelten Leiche. Zwei Unterschenkel, ein linker Oberschenkel und ein linker Arm, wie sich später herausstellen sollte.

ERSTER TEIL

Einen jeden kann es treffen

Kapitel 2

Walter Kusian hatte jeden Morgen denselben Wunsch: nicht mehr aufzuwachen. Diesen teuflischen Wecker nicht mehr hören zu müssen. Nicht mehr so elend zu frieren. Keine Ischiasschmerzen zu haben. Wer schon kein schönes Leben hatte, der sollte sich wenigstens eines schönen Todes erfreuen dürfen. Es wird noch mal ein Wunder geschehen … Ja, denkste. Er suchte nach dem Schalter seiner Nachttischlampe. Sie flammte auf. Ob man noch eine winzige Sekunde lang registrierte, was mit einem geschah, wenn man mitten im Schlaf starb? Vielleicht war es genauso, als wenn man einen Kopfschuss abbekommen würde. Im Lazarett waren ihm viele begegnet, die einen Kopfschuss überlebt hatten, und die meisten waren von einem Strudel des Wohlbehagens mitgerissen worden. Was mochte der Mann gefühlt haben, den er getötet hatte?

Walter Kusian sprang aus dem Bett und ging zu seinem Waschständer. Die weiße Schüssel war bis zum Rand gefüllt. Überall war das Emaille abgesprungen, und die schwarzen Flatschen sahen aus wie Muscheln oder Egel, die sich festgesaugt hatten. Eklig. Das Wasser war so kalt, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn er beim Hineinfahren mit den Fingern durch eine dünne Eisdecke gestoßen wäre. Ein paar Spritzer ins Gesicht, das musste genügen. Was machte es schon, wenn er ein wenig müffelte: Es war keine Frau da, der er gefallen wollte. Und wenn er nachher wieder Schutt schippte, war sowieso alles für die Katz. »Also …« Er machte sich auf den Weg zur Toilette. Die lag am Ende des Flures und hatte den Sielaffs wie zwei anderen Untermietern zu dienen. Bei wem es da pressierte, der kam in arge Nöte. So legte Walter Kusian einen Extragang ein, als er nebenan Opa Pausin an seiner Zimmertür schließen hörte. Er war als Erster am Ziel und schloss sich ein, um sich zu einer längeren Sitzung niederzulassen. Je mehr Opa Pausin und Else Lehmann draußen trampelten und zeterten, desto wohler fühlte er sich. Zwar hing an der Decke nur eine müde 15-Watt-Funzel, aber seine Augen waren noch gut, und so konnte er Zeitung lesen. Der Telegraf, den Frau Sielaff in buchdeckelgroße Stücke zerschnitten und als Toilettenpapier hingehängt hatte, war zwar schon vierzehn Tage alt, aber eben kostenlos. Draußen schimpften sie immer erboster. »Was kann ich für meinen harten Stuhlgang!«, rief Walter Kusian. Die anderen Untermieter auf diese Art und Weise zu ärgern, war mit die einzige Freude, die er noch hatte.

»Und so was will nun Krankenpfleger gewesen sein!«, rief Else Lehmann, die bei der AOK am Wöchnerinnen-Schalter saß. »Na, wer bei Ihnen gestorben ist, der hat sich nur verbessern können.«

»Können Sie auch haben, kommen Sie nachher mal mit in mein Zimmer.«

Darauf drehte sie die Sicherung heraus, und er saß im Dunkeln. Was blieb ihm nun, als seine Lektüre für »hinterlistige Zwecke« einzusetzen. Pfeifend spazierte er dann an den beiden anderen vorbei in sein Zimmer zurück und machte sich daran, ein wenig zu frühstücken. Das Wasser für den Muckefuck war mit dem Tauchsieder schnell bereitet. Wenn er auch kein Geld für Bohnenkaffee hatte, so doch wenigstens ausreichend Quark für seine Stulle. Den aß er außerordentlich gern, obwohl Arthur, sein Kumpel, immer spottete: »Weißer Käse ohne Saft gibt viel Kacke, aber keene Kraft.«

Punkt sechs ging Walter Kusian aus dem Haus. Zu frieren brauchte er nicht. Dicke Stiebel hatte er und eine schwarze Cordhose, die er bei einem Kohlenträger für ein geklautes Karnickel eingetauscht hatte. Auch der alte Wehrmachtsmantel, den er trug, war ein Glücksfall. Noch schöner wäre es gewesen, er hätte die Epauletten und die Rangabzeichen nicht abtrennen müssen. Immerhin hatte das gute Stück einem Oberleutnant gehört. Er selber hatte es nur zum Sanitätsgefreiten gebracht. Etwas, das er seinem Führer nie verzieh, war er doch ein sogenannter Alter Kämpfer, einer, der schon sehr früh Mitglied der NSDAP geworden war. PG – Parteigenosse seit 1926. »Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen …« Walter Kusian hatte an die Worte Adolf Hitlers geglaubt. Er stampfte die Treppe hinunter.

Die Sternstraße im Wedding war eine gigantische Filmkulisse. Nieselregen und Ruinen. Die Mörder sind unter uns. Autos und schweifende Scheinwerfer waren selten wie Sternschnuppen am nachtdunklen Himmel. Über die Nordbahnstraße erreichte er den Bahnhof Wollankstraße und stieg dort die Stufen zur S-Bahn hinauf. Der Zug Richtung Stadtmitte rollte gerade heran. Brauchte er nicht lange zu frieren. In zehn Minuten war er am Bahnhof Friedrichstraße und lief zur Stadtbahn hinauf. Schon an der nächsten Station, Lehrter Stadtbahnhof, sprang er wieder aus dem Zug, weil ihm eingefallen war, dass es besser war, mit der Straßenbahn von hier aus direkt zum Knie zu fahren, als vom Bahnhof Zoo zu laufen.

Er hasste diesen langen Arbeitsweg! Dabei war er äußerst reizvoll, denn Walter Kusian reiste durch zwei Städte. Die Teilung Berlins, die nun schon zum Alltag gehörte, hatte im Juni 1948 mit dem Auszug der Sowjetunion aus dem Alliierten Kontrollrat begonnen. Während Ost-Berlin im Oktober 1949 zur Hauptstadt der DDR erklärt wurde, blieb West-Berlin formal Viermächtestadt und bloßes, wenn auch heiliges und teures Anhängsel Bonns und seiner Republik. Es war so, wie es der sozialdemokratische Wirtschaftstadtrat Klingelhöfer auf den Punkt brachte: »Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass Berlin geteilt sein wird, als wären es zwei Städte.« Die Haltestelle lag gleich gegenüber vom Ausgang an der Invalidenstraße. Trotz der frühen Stunde stand schon eine Gruppe anderer Fahrgäste an der Haltestelle. Auch viereinhalb Jahre nach Kriegsende sahen sie noch immer elend aus, blass, mager und verhärmt. Er hörte Elisabeths Stimme: »Wehe den Besiegten.« Männer gab es kaum noch. Die beiden, die er sah, hatten wie er eine Wehrmachtsmütze auf. Wohl dem, der eine hatte. Sogar die Torhüter bei den Fußballern schätzten sie. Die Frauen waren alle dick eingemummelt, und man konnte nur ahnen, dass sie welche waren. Aber vielleicht sind sie schon keine mehr, dachte er, und bei ihnen ist alles zugewachsen, was sie zwischen den Beinen haben. Wer konnte sich schon vorstellen, mit einer Trümmerfrau im Bett zu liegen. Er nicht. Da war er anderes gewohnt. Der Witz, den ihm Arthur gestern erzählt hatte, fiel ihm wieder ein.

»Stehen ein Junge und ein Mädel im Kinderheim und sollen abgeseift werden. Sagt der Junge: ›Ätsch, was ich unten am Bauch hängen habe, das hast du nicht.‹ Antwortet das Mädchen: ›Nein, wir sind Flüchtlinge und haben alles zu Hause zurücklassen müssen.‹«

Nach fünf Minuten kam die Straßenbahn von der Sandkrugbrücke her. Zwar sah der Triebwagen noch immer ziemlich abgewrackt aus, aber wenigstens waren die Fenster jetzt alle wieder verglast. Keine Bretter mehr, keine Pappe. Na bitte. Gerade wollte er sich darüber freuen, da bekam er den grüngrauen Rucksack seines Vordermannes voll ins Gesicht. Die Schnalle riss ihm eine Schramme in die Nasenwurzel.

»Pass doch uff, du Idiot!«, schimpfte Walter Kusian.

»Ick hab’ doch hinten keene Augen, Mann.«

»Klar. Hättest welche jehabt, würdeste ooch nicht mehr rumloofen hier, da hätten se dich unter Adolf schon längst …«

»Sie, soll ich die Polizei holen!«

Die Schaffnerin stieß Walter Kusian in die andere Richtung.

»Ruhe hier im Puff! Wir wollen unsern Fahrplan einhalten.« Walter Kusian schluckte herunter, was ihm auf der Zunge gelegen hatte: dass nämlich im Krieg mindestens einer zu wenig umgekommen war. Scheiße alles. Was wäre aus ihm noch alles geworden, wenn der Führer den Krieg gewonnen hätte. Jetzt aber, jetzt hatte er die letzte Drecksarbeit zu machen und sich mit diesem Plebs hier abzugeben. Nicht mal einen Sitzplatz hatte man für ihn. Na schön, bis zum Knie war es nicht weit. Schon wurde abgeklingelt. Sie bogen in die Rathenower Straße. Gegenüber lag düster und wuchtig das Kriminalgericht Moabit, das mit der angeschlossenen Untersuchungshaftanstalt das ausgedehnte Areal zwischen Alt-Moabit und Turm-, Wilsnacker und Rathenower Straße beherrschte. Er hasste es. Er hasste überhaupt alles.

Bald bogen sie nach links in die Gotzkowskystraße ab, dann ging es über die Spree hinweg und die Franklin- und die Marchstraße hinunter.

»Noch jemand zugestiegen, noch jemand ohne Fahrschein? Wer will noch mal, wer hat noch nicht?«

Walter Kusian hatte schon gehofft, dass es die Schaffnerin nicht mehr schaffen würde, sich bis zu ihm hindurchzuquetschen, nun aber stand sie vor ihm und klimperte mit ihrem Galoppwechsler. Wie Claire Waldoff sah sie aus. Dieselbe Kodderschnauze, dieselbe heisere Stimme: Wer schmeißt denn da mit Lehm … Er mochte diesen Typ von Frau. Eine, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Auch wenn es ihn in diesem Falle 20 Pfennige kostete.

»Knie …« Er hatte seinen Fahrschein gerade eingesteckt, da musste er auch schon aussteigen. Zwar war Ernst Reuter schon West-Berliner Bürgermeister, aber der große Platz, wo die Untergrundbahn auf ihrem Weg zwischen Zoo und Ruhleben mit einem sanften Knick von der Hardenbergin die Bismarckstraße bog, was im Linienplan wie ein gebeugtes Knie aussah, trug seinen Namen noch lange nicht. Die Randbebauung war total zerstört, und langsam begann man, die Riesenfläche freizuräumen. Als sollte hier ein innerstädtischer Flughafen angelegt werden. Die meisten total zerstörten Häuser gab es in der Berliner Straße, später Otto-Suhr-Allee, auf der man zum Charlottenburger Rathaus und zum Schloss gelangte. Dorthin wandte sich Walter Kusian nun. An der Ecke Cauerstraße sollte er beim Enttrümmern helfen. Die 54 Richtung Spandau/Johannesstift überholte ihn. Er träumte davon, da draußen ein Häuschen zu haben. Mit so viel Rente, dass er nicht mehr zur Arbeit musste. Einmal was vom Leben haben.

 

Von hinten kam jemand und drückte seine Hutkrempe nach vorn, so dass er nichts mehr sehen konnte. Dazu tönte es: »HO senkt die Preise!« Das konnte nur Arthur sein, der alte Kumpel aus besseren Tagen, der öfter mal in die HO einkaufen ging. HO hieß Handelsorganisation und war vom Osten dazu gedacht, West-Berliner anzulocken. Die kluge West-Berliner Hausfrau kauft in der HO lautete der Reklamespruch. Längs der Sektorengrenze gab es viele HO-Läden. Aber nicht die Frage, wo es etwas gab, war heute Morgen ihr Thema, sondern die Schäden, die der Orkan vom 5. Dezember in Berlin angerichtet hatte, und der Leichenfund vom Stettiner Bahnhof am selben Tag. Heute war Donnerstag, der 8. Dezember 1949.

»Bei uns is ’ne Birke umgeknickt und uff ’ne Laube ruff,« erzählte Arthur, der 1944 in Weißensee ausgebombt worden war und nun mit Frau und zwei Kindern in einer Laubenkolonie am Bahnhof Blankenburg hauste. »Aber keener tot.«

»Haben sie Glück gehabt.« In der Innenstadt waren vor allem Ruinen eingestürzt, und es hatte sechs Tote gegeben.

»Du aber ooch …« Arthur musterte den Freund. »Dass du noch deine beeden Unterschenkel dran hast.« Das bezog sich auf die Leichenteile, die man am Stettiner Bahnhof entdeckt hatte. Die Zeitungen hatten ausführlich davon berichtet.

Walter Kusian grinste. »Was haben die Kinder da gefunden: einen Arm, einen Oberschenkel und zwei Unterschenkel. Was meinst du wohl, wo die anderen Teile abgeblieben sind?«

»Bei dir im Kochtopp.«

»Richtig. Kommst du nachher mit essen?«

»Menschenfleisch soll ja nicht schlecht schmecken, nur ’n bisschen süßlich.«

»Was meinst du, was wir alles in der Wurst drin haben.« Arthur verzog das Gesicht. »Hören wa lieber uff zu spotten, denn der da, der det jemacht hat, der wird bestimmt nich so schnell uffhören damit. Einen jeden kann es treffen.«

Damit hatten sie ihren Arbeitsplatz erreicht. Sie waren bei einer kleinen Klitsche beschäftigt, und ihr Chef hatte den Auftrag bekommen, ein Stück Ruinengrundstück freizuräumen und einen Kiosk hinzusetzen. Arthur hatte seine Bedenken. »Ob dit ma allet hält?« Sein Blick ging nach oben. Das Wohnhaus war von einer Sprengbombe getroffen worden. Die ganze Fassade fehlte. Man hatte einen freien Blick in alle Zimmer. Es war wie bei einem Puppenhaus, nur dass alles in die Tiefe gegangen oder leer geräumt war. Die Tapeten hingen noch an den Wänden. Auch die Türen zu Fluren und anderen Zimmern waren noch vorhanden, und es war anfangs durchaus vorgekommen, dass ein ahnungsloser Mensch sie von der anderen Seite her geöffnet hatte und abgestürzt war. Der hintere Teil des Hauses war noch bewohnt. Natürlich, wo alles eine Wohnung suchte. Wenn sie Pech hatten, krachte ein Stück Schornstein herunter oder eine Zwischenwand, die nicht genügend gesichert worden war.

Der Chef kam mit seinem Tempo-Dreikanten, brachte ihnen Spaten, Hacken und Brecheisen und gab noch letzte Weisungen. »Und passt auf, da hinten in der Ecke ist die Kellerdecke eingestürzt.« Damit fuhr er wieder davon.

Arthur wollte hinunter in den Keller und nachsehen, ob alles stabil genug war, doch Walter Kusian hielt ihn zurück.

»Was soll’n da schon passieren, bei dem Untergewicht, das wir beide haben. Und wenn wir den Schutt wegräumen, wird doch die Last geringer.«

»Trotzdem …«

»Mann, bist du’n Angsthase. Kein Wunder, dass wir mit Soldaten wir dir den Krieg verloren haben.«

Daraufhin verzichtete Arthur auf die Besichtigung des Kellers und begann gottergeben zu schippen. Walter Kusian hob die Mauersteine auf, schlug sie auseinander, klopfte den Mörtel ab, der ihnen noch anhaftete, und schichtete sie fein säuberlich neben sich auf. »Fehlt mir nur noch das Kopftuch, dann bin ich die perfekte Trümmerfrau.«

So arbeiteten sie Stunde um Stunde. Abwechslung gab es wenig. Mal eine Frau, der man hinterherpfeifen konnte, mal der Pferdewagen mit dem Mann, der eine Glocke schwang und »Brennholz für Kartoffelschalen!«, rief. Gegenüber hatte einer einen Tannenbaum gekauft und hing ihn mit der Spitze nach unten außen ans Fenster, um ihn frisch zu halten. Ach Gott, ja, in vierzehn Tagen war ja Weihnachten.

»Wat machste ’n so die Feiertage über?«, fragte Arthur.

»Ich blase …«

»Weihnachtslieder?«

»Nee, Trübsal. Höchstens, dass ich mal zu meiner Schwägerin fahre …«

Arthur lehnte seine Schippe gegen die kleine Mauer, die sein Kollege aufgeschichtet hatte. »Herr Ober, ’n Bier.«

»Momentchen, Kollege kommt gleich.«

Dieser Dialog bezog sich darauf, dass Walter Kusian bis vor kurzem in der Casablanca-Bar in der Augsburger Straße als Kellner gearbeitet hatte, dort aber entlassen worden war. Einer der Stammgäste, ein wohlhabender Filmkaufmann, hatte ihn wiedererkannt und es daraufhin abgelehnt, von einem alten Nazi bedient zu werden. Bei dem sich anschließenden Dialog war Walter Kusian dann etwas ausfallend geworden.

Endlos dehnte sich der Tag. Es war trübe und nasskalt. Walter Kusian hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Mauerbrocken heruntergekracht wäre und ihn getötet hätte. Das Beste am Leben war ein Ende ohne Schrecken. Arthur konnte sich wenigstens auf den Feierabend freuen. Mit seiner Familie draußen in der warmen Laube. Er aber … Den ganzen Abend allein in seiner kalten Bude. Hoffen konnte man nur, wenn man Geld hatte, viel Geld … Der Möbelhändler drüben, der auf seine Träger aufpasste, dass sie die teure Anrichte auch heil nach oben trugen, der hatte bestimmt eine Menge Zaster. Möbel von GG – eine Pfundsidee. Das GG stand für Gregor Göltzsch, wie Walter Kusian aus der Zeitung wusste. Den beiseite schaffen, seinen Tresor öffnen und … Es war ein Gedanke, der ihn mehr erwärmte als der Glühwein, den der Chef spendierte, als es dunkel wurde und er kam, die Werkzeuge wieder einzusammeln. »Feierabend!«

Walter Kusian ging zur Haltestelle, um auf die nächste Straßenbahn zu warten, und stieg dann in die völlig überfüllte 2. Der Beiwagen hatte keine Türen, und so stand er auf der Plattform halb im Freien und fror sich einen ab. In der Turmstraße sah er zwei gackernde Frauen. Sie kamen gerade aus dem Robert-Koch-Krankenhaus. Es war Elisabeth Kusian mit ihrer Freundin Anni.

»Hallo, Schwägerin!«, rief er hinüber.

»Hallo, Schwager.«

»Hast du heute Abend ’n bisschen Zeit für mich?« Elisabeth Kusian hob die rechte Hand, um damit ein paarmal vor dem Gesicht hin und her zu fahren, als ob er nicht mehr alle hätte. »Nee, bestimmt nicht.«

»Pass bloß auf, dass sich deine Knochen nicht auch mal in irgend ’ner Ruine finden«, murmelte Walter Kusian beim Weiterfahren.