Das Duell des Herrn Silberstein

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Das Duell des Herrn Silberstein
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Horst Bosetzky

Das Duell des

Herrn Silberstein

Roman

Jaron Verlag

Taschenbuchausgabe

1. Auflage dieser Ausgabe 2016

© 2005 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes von Emil de Cauwer

(Die Synagoge in der Oranienburger Straße, 1865)

Satz und Layout: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95552-228-5

Nehmen wir Gewesenes und Seiendes für das,

was es ist: für ein Spiel; traurig oder schön …

immer nur für ein Spiel, dessen Sinn wir nicht kennen.

Georg Hermann, Henriette Jacoby

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Danksagung

Anmerkung zu den hebräischen Begriffen

Literatur

Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen

Kapitel 1

»IHR BERLINER braucht unbedingt eine neue große Synagoge!«, sagte Tharah Seligsohn.

»Wieso? Die in der Heidereutergasse wird doch gerade ausgebaut.« Aaron Silberstein, sein um sechs Jahre jüngerer Schwager, war in dieser Sache nicht leicht zu begeistern.

»Auch nach dem Ausbau werden die Plätze nicht reichen. Ich werde noch einmal mit dem Gemeindevorstand reden, am besten mit Heymann selber.«

»Wie das?« Aaron Silberstein war mehr als erstaunt, denn Aron Hirsch Heymann zählte ebenso wie Tharah Seligsohn zu den Orthodoxen. »Ich denke, ihr seid gegen einen Neubau, weil ihr denkt, dass die Reformer da das Sagen haben werden?«

»Dein Vater könnte sie entwerfen.« Tharah Seligsohn hatte leuchtende Augen bekommen. »Mein Schwiegervater.«

Aaron Silberstein ließ sich nicht anstecken. »Der Name Friedrich Silberstein steht für Wasserwerke und für Amtsgebäude. Setz ihm da bloß keinen Floh ins Ohr!«

»Ich meine es gut mit ihm.«

»Ich auch.«

Ihren Dialog führten sie in der Notsynagoge Auguststraße, unweit des alten Jüdischen Krankenhauses und des Jüdischen Waisenhauses für Mädchen.

Ein Stückchen vor ihnen saß Meir Rosentreter und murmelte andauernd dasselbe: »Hütet euch, dass ihr nicht vergesset den Bund des Ewigen eures Gottes, den er mit euch geschlossen, und euch machet ein Bild, Abbild von irgendetwas, worüber dir der Ewige dein Gott geboten.«

So stand es im 5. Buch Mose, im 4. Kapitel, Vers 23, aber die anderen konnten sich keinen rechten Reim darauf machen, warum sich Rosentreter ausgerechnet an dieser Textstelle der Tora festgebissen hatte. »… und euch machet ein Bild …«

Tharah Seligsohn stieß seinen Schwager an. »Rosentreter ist einer meiner besten Freunde, aber … er muss Angst haben vor dem Zorn des Herrn. Manchmal ist er mir richtiggehend unheimlich. Er trägt irgendein Geheimnis in sich. Hoffentlich ist er in keine finsteren Machenschaften verwickelt.«

»Psst. Es ist abgesprochen, dass ich seine Tochter heirate.«

»Wir sehen uns ja alle zu Pessach.« Und Tharah Seligsohn fuhr fort im Morgengebet: »Dein Wille sei es, Ewiger, unser Gott und der Gott unserer Väter, gewöhne uns an deine Lehre, lass uns anhangen deinen Geboten, lass uns nicht zu Sünde, Vergehung und Schuld, nicht in Versuchung und nicht in Schande kommen, lass den bösen Trieb nicht über uns herrschen, halte uns fern von bösen Menschen, von bösen Gefährten …«

DIE SELIGSOHNS wohnten in Strausberg, am nordöstlichen Ufer des Straussees. Tharah Seligsohn handelte mit seidenen Stoffen und Westen und hatte es, obwohl erst 36 Jahre alt, schon zu einigem Wohlstand gebracht. Er war immer bemüht, ein vorbildliches jüdisches Leben zu führen, und hütete das Erbe seiner Väter wie einen Schatz. Das schuldete er schon seinem Vornamen: Denn Tharah war es, der Abram beziehungsweise Abraham gezeugt hatte. Seine Frau Rahel, die acht Jahre jünger war als er, hatte er im Hause des orthodoxen Rabbiners Esriel Hildesheimer kennen und lieben gelernt. Zwei Kinder waren ihnen bisher geschenkt worden: Rebekka, die gerade neun Jahre alt geworden war, und Haran, der zu Purim seinen siebenten Geburtstag gefeiert hatte. Beide wurden von einem Hauslehrer erzogen und gaben zu den besten Hoffnungen Anlass.

Pessach sollte an die Befreiung der Kinder Israels aus der Knechtschaft in Ägypten vor mehr als dreitausend Jahren erinnern. Rahel Seligsohn, unterstützt von Rebekka und ihrem jüdischen Dienstmädchen, hatte mit den Pessach-Vorbereitungen alle Hände voll zu tun. Das Einkaufen war mühsam, denn es mussten alle Lebensmittel vermieden werden, die Chamez enthielten, also Gesäuertes. »Denn wer Gesäuertes isst, die Seele wird aus Israel vernichtet, vom ersten Tage bis zum siebenten Tage.« Chamez war jede der fünf Getreidearten – Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Spelt –, wenn sie für mindestens achtzehn Minuten mit Wasser in Kontakt gekommen war, weil von solcherlei Korn oder Mehl angenommen wurde, dass der Säuerungsprozess begonnen hatte. Nur Mazzot durften gegessen und im Hause aufbewahrt werden: ungesäuerte und auf spezielle Art gebackene dünne Brotscheiben.

Alle Öfen und Herde mussten für Pessach gekaschert, das heißt durch bestimmte Maßnahmen wieder koscher gemacht werden. Bei Gefäßen und Geräten geschah dies mit heißem Wasser, bei Bratpfannen und -spießen, Backblechen, Backöfen und Herden dadurch, dass man sie »glühte«, also der Hitze des Feuers aussetzte.

Als Tharah Seligsohn in der Nacht vor Pessach nach Hause gekommen war, begann die zeremonielle Suche nach Chamez. An ihr hatten die Kinder immer große Freude, denn sie durften vorher Brotstücke verstecken, damit sicher war, dass Chamez auch wirklich gefunden wurde. Tharah Seligsohn zündete eine Kerze an und ging mit ihr von Zimmer zu Zimmer, um Chamez zu suchen. Dann folgten Keller und Dachboden, denn auch hier war vielleicht gegessen worden. Alle Krümel wurden mit einer Feder zusammengefegt und kamen auf einen großen Holzlöffel, um am nächsten Morgen verbrannt zu werden.

»Wie viele Stücke hast du gefunden?«, fragte Rebekka ihre Mutter.

»Vier.«

»Stimmt.« So viele Brotstücke hatten sie versteckt.

Tharah Seligsohn konnte nun Bittul sagen: »Aller Sauerteig und alles Chamez, das in meinem Besitz ist, welches ich nicht gesehen und nicht vernichtet habe, soll nichtig und besitzerlos sein wie der Staub der Erde.«

Die Vorbereitungen für den Sederabend traf Rahel Seligsohn ebenso mit Umsicht wie mit freudigem Herzen. Es war eine Menge zu beschaffen und zuzubereiten: Sellerie und Kartoffeln für den Karpass, ferner Bitterkraut, Maror, oder ersatzweise Meerrettich und schließlich eine bestimmte Mischung aus geriebenen Äpfeln, Nüssen und Wein, mit Zimt gewürzt, die Charosset. Hinzu kamen Wein, Mazza, ein Schälchen Salzwasser, ein auf offenem Feuer gerösteter Knochen und ein gekochtes Ei.

Alles hatte seine tiefere Bedeutung. Die Mazza sollte vor allem an die Eile erinnern, mit der die Israeliten Ägypten zu verlassen gehabt hatten – so schnell, dass der Teig keine Zeit hatte zu säuern. Wein stand für Freude und Frohsinn, für die Erlösung Israels. Das Bitterkraut symbolisierte das Leiden der Israeliten während der Knechtschaft, die Charosset den Mörtel, den sie in Ägypten benutzten, das Salzwasser die im Unglück vergossenen Tränen und der Karpass Fruchtbarkeit und immer neue Hoffnung für die Zukunft. Die Beza, Knochen und Ei, sollte an die Zerstörung des Tempels und die Sklavenarbeit gemahnen, wobei das Ei ein traditionelles Symbol der Trauer war.

 

Aber noch anderes war auf den Sedertisch zu stellen. So durfte ein Becher Wein für den Propheten Elija nicht fehlen, der das Kommen des Messias ankündigen sollte. Nicht vergessen werden durfte auch, dem Hausherrn, der den Seder gab, drei Scheiben ungesäuerten Brotes und jedem Gast eine Haggada auf den Tisch zu legen.

Das Anmieten der beiden Pferdefuhrwerke, die die Gäste von der Ostbahn abholten, hatte Rahel ihrem Mann überlassen. Es klappte auch alles bestens, und zur festgesetzten Stunde konnte sie ihre Lieben in die Arme schließen. Ihre Eltern waren gekommen, Friedrich und Sarah, ihr Bruder Aaron und ihr Onkel Jason, dazu Meir Rosentreter und dessen Tochter Katharina.

Für die sie argwöhnisch beobachtenden Strausberger waren sie eine verschworene Gemeinschaft, »die Juden« eben, einer gleich dem anderen. Aber das täuschte, denn zwischen ihnen gab es erhebliche Unterschiede. Zählte Tharah Seligsohn zur jüdischen Neo-Orthodoxie und suchte so gesetzestreu zu leben, wie es in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, vorgegeben war, so war Jason Silberstein das genaue Gegenteil. Er fühlte sich als freischwebender Intellektueller, ja fast als Atheist, der alles Jüdische nur mitmachte, weil er es so putzig fand. Friedrich, Sarah und Aaron Silberstein, aber auch Katharina Rosentreter wurden den Liberalen zugerechnet. Friedrichs liberales Judentum ging mit einer politisch konservativen und königstreuen Ausrichtung einher, während seine Frau Sarah und sein Sohn Aaron sozialdemokratischen und republikanischen Gedanken ganz und gar nicht abgeneigt waren. Meir Rosentreter schließlich konnte alles sein – es kam immer ganz auf die Haltung seiner jeweiligen Geschäftspartner an. Da die Juden im kleinen Strausberg über kein eigenes Gotteshaus verfügten, musste der Pessach-Abendgottesdienst in der improvisierten Haussynagoge stattfinden. Gleich danach begann der Seder.

Tharah Seligsohn trug jetzt einen weißen Überwurf, ein Zeichen religiöser Reinheit. Er erhob sich aus seinem sofaartigen Sessel, und auch alle anderen standen auf. Die Ordnung des Abends wurde genau eingehalten, aber was richtig war und was nicht, wusste eigentlich nur noch der Hausherr ganz genau. Er zitierte Kiddusch. Danach sagten alle »Amen« und tranken – bis auf die Kinder – den ersten Becher Wein. Er symbolisierte die erste Wendung, mit der Gott die Herausführung seines Volkes aus Ägypten ankündigte.

Dann brachte Rahel einen Becher und eine Schüssel an den Tisch und goss Wasser über die Hände ihres Mannes.

Jeder Anwesende nahm sich nun etwas Gemüse, tunkte es in das Salzwasser und sprach: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Frucht der Erde geschaffen.«

Tharah Seligsohn griff sich danach die mittlere Mazza und brach sie in zwei Teile. Den einen legte er zurück, der andere wurde in einer Serviette für den Afikoman beiseite gelegt, mit dem das Festmahl beschlossen wurde.

Nun wurde reihum die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt, und die Kinder konnten ihre Fragen stellen. Danach trank man, nach einem Segensspruch, den zweiten Becher Wein. Alle standen auf und gingen zum Waschbecken, um sich die Hände zu säubern.

Tharah Seligsohn nahm anschließend die verbliebenen zweieinhalb Mazzot und sagte folgende Segenssprüche: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Brot aus der Erde hervorbringt« und »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, Mazza zu essen«. Danach brach er von den Mazzot Stücke ab und gab sie den Tischgenossen zu essen.

Alle tunkten eine kleine Menge Bitterkraut in Charosset und aßen es mit einem weiteren Segensspruch. Als man damit fertig war, legte man Bitterkraut auf ein Stück Mazza, um an den großen Weisen Hillel zu erinnern, der es zur Zeit des Tempels in Jerusalem so gehalten hatte. »Endlich!«, rief Jason Silberstein, denn nun wurde die reguläre Mahlzeit serviert: Gefillte Fisch natürlich.

Jeder bekam nun von der zuvor versteckten halben Mazza, dem Afikoman, ein Stück sozusagen zum Nachtisch.

Die Weinbecher wurden zum dritten Mal gefüllt und nach dem Segensspruch geleert.

Der Hausherr sprach nun einige Psalmen, und man sang Lieder zum Lobe Gottes. Dann wurde der vierte Becher Wein getrunken.

Tharah Seligsohn schloss den Seder mit der Erklärung, dass er hoffe, die Sederfeier habe Gottes Wohlgefallen gefunden. Dann sang man gemeinsam Le-Schana ha-Ba’a bijruschalajim ha-Bnuja – Nächstes Jahr im wiedererbauten Jerusalem!

Rahel Seligsohn war glücklich, die Gäste zufrieden zu sehen. Harmonie in Familie und engem Freundeskreis ging ihr über alles. Nun musste sie die Kinder zu Bett bringen und ihnen noch die dem Tag angemessene Gutenachtgeschichte erzählen. Ihre Schwiegermutter und Katharina Rosentreter baten, sich anschließen zu dürfen. Die Männer nutzten die Gelegenheit, im Herrenzimmer ein wenig zu plaudern.

»Dieses Pessach …« Jason Silberstein lehnte sich weit im Sessel zurück. »Hat das denn sein müssen damals? Wir hätten schön in Ägypten bleiben und da unseren eigenen Staat errichten sollen – Wüste gibt es ja genug dort. Dann hätte keiner in die Diaspora gemusst.«

»Ich bitte dich!« Tharah Seligsohn sah ihn tadelnd an. »Kennst du nicht Salomo 4, Vers 24: ›Schaffe von dir Falschheit des Mundes …‹«

Jason Silberstein lachte. »Bei den Christen klingt das noch viel schöner, da heißt es nämlich: ›Tue von dir den verkehrten Mund und lass das Lästermaul ferne von dir sein.‹ Aber das Lästermaul ist doch das Beste an mir, und Aarons zukünftiger Schwiegervater würde mir auf dieses Kapital sicherlich eine Menge Geld leihen, oder?«

»Aber sicher.« Meir Rosentreter nickte. »›Wie von Fett und Mark ist gesättigt meine Seele, und mit Jubellippen lobsingt mein Mund.‹ Wir müssten nur sehen, dass es in einem der Romane zum Zuge kommt, die du schreiben wolltest.«

Jason Silberstein winkte ab. »Ihr kennt doch den Ausspruch: A jid wet gicher a buch schrajbn ejder kojfn.«

»Können wir bitte deutsch sprechen?«, bat Friedrich Silberstein.

»Ja, Bruderherz. Also: Ein Jude wird ein Buch eher schreiben als kaufen.«

»Das möchte ich für mich nicht gelten lassen, lieber Onkel«, sagte Aaron Silberstein. »Sieh dir meine Bibliothek mal an!«

»Nu, das meiste wird Juristisches sein. Das zählt nicht.« Jason Silberstein ließ sich nicht beirren. »Und mein Bruder hat auch nichts Schöngeistiges im Schrank, sondern nur allerlei übers Bauen und die verschiedenen Baustile, während die Herren, die sich Kaufmann und Banquier nennen, ja unter Büchern etwas ganz Spezielles verstehen, sicherlich nicht den Werther

Sowohl Tharah Seligsohn als auch Meir Rosentreter wehrten sich gegen diese Unterstellung, nutzten aber die lästerliche Bemerkung sofort, um auf Geschäftliches zu sprechen zu kommen. Mit anderen Worten: Sie begannen alle drei, heftig zu klagen – der Hausherr über den märkischen Landadel, der für seine Begriffe viel zu knauserig war, Friedrich Silberstein über die mangelnde Baulust der Berliner Bürger und Meir Rosentreter über die viel zu niedrigen Zinsen.

»Uns allen könnte geholfen werden«, sagte Tharah Seligsohn. »Man bräuchte nur das zu tun, was ich euch schon seit langem vorschlage: Baut eine neue Synagoge in Berlin! Der eine entwirft sie, der andere bringt das Geld dafür zusammen. Und ich liefere die Stoffe für die Vorhänge und die Kleidungsstücke für Raw, Chasan und Schamasch.« Für Rabbiner, Kantor und Synagogendiener also.

»Auf die neue große Synagoge in Berlin!«, rief Jason Silberstein. »Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie nützlich der Glaube für die Menschen ist.«

Damit löste er bei den anderen erneut heftigen Widerspruch aus. Tharah Seligsohn warf ihm vor, einem »lästerlichen Rationalismus« anzuhängen.

So ging das noch ein Weilchen, dann zogen sich alle zurück. Für Friedrich Silberstein und seine Familie gab es genügend Zimmer im Hause Seligsohn, während Meir Rosentreter und seine Tochter, auch aus Gründen der Schicklichkeit, sich in ein nahe gelegenes Hotel begaben.

MEIR ROSENTRETER hatte seine Tochter in ihrem Zimmer abgeliefert und merkte, kaum saß er auf seiner eigenen Bettkante, dass er selber noch viel zu munter war, um ans Schlafen denken zu können, so anstrengend solch ein Sederabend auch war. Am liebsten hätte er sich, um sich von allem abzulenken, was ihn bedrückte, auf ein Glas Rotwein in ein gutes Restaurant gesetzt, doch das suchte man in Strausberg ganz gewiss vergeblich. Einen Nachtportier, den er hätte um Rat fragen können, gab es nicht, also nahm er seinen Schlüssel, griff sich eine Laterne, zündete sie an und machte sich einfach auf den Weg. Groß verlaufen konnte man sich in Strausberg kaum, zumal der Mond gerade durch die Wolken brach.

Die Tuchmacherstadt machte einen recht wohlhabenden Eindruck. Seligsohn hatte erzählt, dass ihr aber eigentlich die Garnison das Gepräge gab. Doch es war längst Zapfenstreich und nirgendwo ein Soldat zu sehen. Nach einigen Schritten war Meir Rosentreter am Ufer. Dunkel und drohend und scheinbar endlos wie das Meer lag der See vor ihm. Kalte Nässe zog nach oben, und Rosentreter schien es, als sei sie ein Netz, von den Wassergeistern über ihn geworfen, um ihn einzufangen und zu holen. Schnell wandte er sich ab und lief die Große Straße stadteinwärts. Das Haus mit der Nummer 20 gefiel ihm ausnehmend gut. Er mochte klassizistische Fassaden und konnte nicht verstehen, dass man sich, wie bei den Seligsohns erzählt wurde, beim Bau von Synagogen heutzutage eher an maurische Vorbilder hielt.

Im Mondschein wirkte die Marienkirche, obwohl eine Pfeilerbasilika und aus Feldsteinen errichtet, wuchtig wie der Kölner Dom. Wie gern hätte er sich hingesetzt und sie gemalt. Der Platz vor ihr war menschenleer. Kein Nachtbummler weit und breit, kein Nachtwächter, der seine Runden drehte. Gleich musste es zwölf schlagen, Mitternacht.

Da hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Er fuhr herum. Wer Geld verlieh und Jude war, hatte ständig auf der Hut zu sein. Doch den Mann, der nun in den Schein seiner Lampe trat, kannte er sehr wohl.

»Sie folgen mir bis Strausberg …« Rosentreter war fassungslos.

»Ich brauche dringend Geld!« So gedämpft die Stimme auch war – fordernder konnte der Ton nicht sein.

»Wer braucht kein Geld«, murmelte Meir Rosentreter. »Sie wissen, was auf dem Spiele steht …«

Kapitel 2

»ES IST EIGENTLICH eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil.« So hatte Wilhelm Raabe Die Chronik der Sperlingsgasse beginnen lassen. »Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorbei; – es ist eine böse Zeit!«

Das fand auch Louis Krimnitz, als er am 4. März 1856, einem Dienstag, ruhelos durch die Berliner Innenstadt lief – den Mühlendamm entlang, durch die Spandauer-, die König- und die Klosterstraße. Was ihn trieb, wusste er nicht genau. Es war wohl ebenso die Angst vor dem Alleinsein wie die Hoffnung, per Zufall einem Menschen zu begegnen, der einen Auftrag für ihn hatte. Hier war die Chance am größten, denn zwischen Alexanderplatz und Schloss, Friedrichsgracht und Garnisonkirche war die Stadt am lebendigsten, hier war das Viertel des gewerbetreibenden Volkes und der Juden. Die Geschäftigkeit erinnerte ihn an einen Ameisenhaufen. Im Parterre gab es kaum Wohnungen, alles war zu Läden und Warenlagern umgewandelt worden. Selbst die vielen Bierlokale dienten weniger der Entspannung als dem Abschluss von Geschäften, zumindest vereinten sie das Angenehme mit dem Nützlichen. Die hier angesiedelten Gasthöfe wie der »Kronprinz« und der »König von Portugal« wurden überwiegend von Geschäftsreisenden frequentiert.

Wer Louis Krimnitz zum ersten Mal sah, der hielt ihn für einen preußischen Landjunker, der nach Berlin gekommen war, um sich hier in den Weinstuben und den einschlägigen Etablissements kräftig zu amüsieren. Oder war er vielleicht doch einer jener neureichen Fabrikbesitzer oder Eisenbahnbauer, die dabei waren, die Welt zu erobern? Jedenfalls hatte er etwas an sich, das Ehrfurcht erheischte, und andere fühlten sich klein in seiner Gegenwart. Das hatte seine Ursache ebenso in seinem massigen Körper wie in seinem Blick, von dem die Freunde sagten, er sei der eines Dompteurs, vor dem im Zirkus die stärksten Löwen kuschten. Doch all das war Täuschung, war Maske und Fassade, denn in Wahrheit war Louis Krimnitz ein sehr unsicherer Mensch, immer auf der Flucht vor sich selber und getrieben von der Angst, wieder abzustürzen und dort zu landen, wo er hergekommen war: in der absoluten Armut.

 

Am 12. November 1822 war er im Armenhaus des Städtchens Dramburg geboren worden, und seine Mutter, eine Magd aus einem nahe gelegenen Dorf, hatte drei Tage später Pommern auf Nimmerwiedersehen verlassen. Louis hieß er nach seinem Vater, einem französischen Matrosen, den seine Mutter in einem Stettiner Lokal kennengelernt hatte. Nach einer stürmischen Liebesnacht hatte er sich in Richtung Guyana davongemacht, und da man seinen Nachnamen nicht kannte, waren alle Nachforschungen im Sande verlaufen. So war es Louis’ Schicksal gewesen, ohne jede Nestwärme in diversen preußischen Waisenhäusern aufzuwachsen. Aber immerhin, verhungert und erfroren war er nicht, darüber hinaus hatte er lesen und schreiben gelernt, die grundlegenden Rechenkünste dazu. Selbst der Tatsache, dass er täglich mehrfach geschlagen worden war und man ihn zur Strafe immer wieder in dunkle Keller gesperrt hatte, vermochte er im späteren Leben einiges abzugewinnen: Gelobt sei, was hart macht. Er konnte sich quälen und schinden wie kein Zweiter und schaffte, nachdem er seinen Militärdienst abgeleistet hatte, den Aufstieg vom Tagelöhner zum Bauunternehmer. Angefangen hatte er als Gleisbauarbeiter bei der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahn, und als fünf Jahre später, im Jahre 1846, die Frankfurter Bahn nach Breslau verlängert wurde, hatte er mit seinen Ersparnissen, vor allem aber mit geliehenem Geld schon eine kleine Firma gegründet und den Auftrag zum Bau mehrerer Schrankenwärterhäuschen bekommen. Schnell hatte er begriffen, dass man nur zu etwas kommen konnte, wenn man andere für sich schuften ließ. Und billige Lohnsklaven gab es viele, gerade nach der gescheiterten Revolution von 1848.

Im Jahre 1851 hatte es Louis Krimnitz schon zu einem zweistöckigen Haus in der Cöpenicker Straße gebracht, das unten sein Bureau beherbergte, während sich oben die Wohnräume, das Schlafzimmer, die Küche und die Kammer für das Dienstmädchen befanden. Geheiratet hatte er auch, doch seine Frau war ihm schnell weggestorben. Schon das erste Wochenbett war für sie zu viel gewesen. Wenn Krimnitz nun eine Gesellschaft gab, musste seine Schwägerin einspringen.

Und oft lud er zu kleinen Feiern ein, denn er wusste, dass er lukrative Aufträge nur dann bekam, wenn er einflussreiche Leute kannte. So hatte er die bewundernswerte Eigenschaft entwickelt, sich Männern von Rang zu nähern und ihr Gefallen zu finden. Er war ein Schmeichler und Ohrenbläser, wie ihn viele brauchten, um sich wichtig und bedeutsam zu finden. Bald war er für ihr Selbstbild unentbehrlich, und sie lohnten es ihm, indem sie ihn denen ans Herz legten, die Bauaufträge zu vergeben hatten.

Dennoch plagten Krimnitz zu Beginn des Jahres 1856 erhebliche finanzielle Sorgen. Eine solche Pechsträhne hatte er noch nie erlebt. Für eine Fabrikantenvilla in Cöpenick hatte er bereits erhebliche Vorleistungen erbracht, als der Bauherr insolvent geworden und ins Gefängnis gewandert war. Ein Händler aus Schlesien hatte ihn hereingelegt und Marmor von so minderer Qualität geliefert, dass der schon Risse bekam, wenn ein Kind auf die verlegten Platten trat. Dazu war ihm in Teltow ein Fabrikschornstein umgestürzt und hatte die Dächer mehrerer Häuser durchschlagen. Da sein Polier geschludert hatte, zahlte seine Versicherung nicht, und er musste für den Schaden selber geradestehen. Seine Kassen waren nun leer, und Kredite bekam er keine mehr, denn sein Grundstück war schon über Gebühr mit Hypotheken belastet. Von den Schulden, die er bei privaten Banquiers hatte, gar nicht zu reden. Was ihm jetzt allein noch helfen konnte, war ein großer Auftrag, bei dem ihm der Bauherr einige Silbergroschen vorschoss.

Nur ein Wunder konnte ihn noch retten. In der Hoffnung darauf ging er in die alte Post, wo die Siechen-Brauerei ein Lokal eröffnet hatte. Kaum war er eingetreten, lobte er seinen untrüglichen Instinkt, denn wer dort in der Ecke saß und sich an seinem Seidel festhielt, war kein Geringerer als der Architekt Eduard Knoblauch. Man kannte sich gut. Knoblauch war Mitte der fünfzig. Begonnen hatte er als Feldmesser, war dann Baumeister geworden und durch zahlreiche Wohnhäuser und Villen am Thiergarten und in der Friedrichstadt hervorgetreten. Bis in den Vorstand des Architekturvereins und in die Akademie der Künste hatte er es inzwischen gebracht, und in den Salons munkelte man, der Bau des Jüdischen Krankenhauses würde ihm übertragen werden. »Die denken, bei dem Namen muss er Jude sein – ist er aber nicht.«

Krimnitz begrüßte ihn ebenso freudig wie mit der gebührenden Hochachtung und fragte, ob er wohl an seiner Seite Platz nehmen dürfe.

»Warum nicht …«

Krimnitz dankte und setzte sich. Er fand, dass Knoblauch schlecht aussah. Er schien an einer verdeckten Krankheit zu leiden. »Es geht Ihnen doch gut …«

Knoblauch seufzte. »Die Planungen für das neue Krankenhaus nehmen mich stark in Anspruch.«

»Wenn Sie Hilfe brauchen …« Es war mehr ein eigener Hilferuf als ein Angebot.

Knoblauch wich ihm aus. »Ich muss erst einmal Silberstein und Rana ausstechen.«

Krimnitz lachte. »Stechen ist ein treffendes Wort. Die beiden scheinen doch immer nahe daran, aufeinander einzustechen, sobald sie sich begegnen.«

»Vielleicht bin ich deswegen der lachende Dritte«, sagte Eduard Knoblauch.

»Und wenn, dann …« Krimnitz blieb nun nichts übrig, als den direkten Weg zu gehen. »… dann wäre ich Ihnen von Herzen verbunden, wenn Sie sich dabei meines bewährten Bauhofes bedienen würden. Wir setzen alles so um, wie Sie es entworfen haben.«

Knoblauch leerte seinen Seidel. »Verbindlichsten Dank. Wenn der Fall wirklich eintreten sollte, werde ich mich gern an Ihr Angebot erinnern.«

Krimnitz spürte genau, dass es für ihn bei Eduard Knoblauch nichts zu gewinnen gab. Schnell stand er auf und verließ mit einem unfreundlich gemurmelten Abschiedsgruß die Stätte seiner Niederlage. Am besten, er machte sich auf den Heimweg und betrank sich zu Hause.

Als er die Inselbrücke überquerte und vor sich die tiefen und strömenden Wasser der Spree erblickte, kam ihm der Gedanke, sich selbst zu töten. Ein paar Sekunden Todeskampf, dann wäre er von allem Elend erlöst. Aber wahrscheinlich war er ein zu guter Schwimmer, um unterzugehen, trotz seiner schweren Kleidung. Was gab es noch für Möglichkeiten? Den Strick. Die Balken in seinem Dachstuhl trugen ihn alle Mal. Nein, er war schließlich kein Verbrecher, und er wollte nicht wie am Galgen enden. Die ehrenhafteste Methode war immer noch die, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Schnell und schmerzlos war man im Jenseits. Aber er hatte keine Pistole. Dann beschaff dir eine! Dazu reichte sein Geld noch alle Mal. In einer ganz bestimmten Conditorei in der Kommandantenstraße bekam er sicher eine.

Und so war es dann auch. Nachdem er ein Glas Champagner getrunken hatte – nobel ging die Welt zugrunde –, ließ er sich eine Droschke kommen und an den Rand des Thiergartens fahren. Am Kemperplatz stieg er aus und wandte sich zur Luiseninsel. Entseelt auf den Gedenkstein der Königin niederzusinken, das hatte etwas, zumal wenn man Louis hieß.

Alles schien ihm reizvolles Spiel zu sein, bis er dann am Ziel angekommen war und die Waffe unter dem Mantel hervorzog, um sie zu entsichern. War es wirklich das bessere Los, seinem Leben ein Ende zu setzen? Gab es einen Gott, dann hatte er schlechte Karten – gab es keinen, dann … Der Gedanke an das absolute Nichts, an ein Verlöschen für immer und ewig ließ ihn erzittern. Und für jeden Aufschub dankbar, wandte er sich um, weil er hinter sich Schritte zu hören glaubte. Richtig, da kamen zwei Damen den Weg entlang. Beide teuer gekleidet, die eine aber offenbar die Herrin. Gott, die kannte er! Das war Marie Therese aus Zeitz, die heimliche Geliebte eines der vielen Fürsten aus Thüringen und Sachsen. Er kannte sie, weil er für ihren Besitzer ein Jagdschloss gebaut hatte. Der war nun vor Kurzem verstorben und hatte ihr wahrscheinlich nicht wenig hinterlassen.

Ohne sich weiter zu besinnen, eilte er der Schönen hinterher.

DIE EINWOHNERZAHL Berlins näherte sich immer mehr der magischen Grenze von 500 000 Seelen, das Militär mit seinen Angehörigen eingerechnet, und um die halbe Million möglichst schnell zu erreichen, verleibte sich die Stadt fortwährend ein, was an ihrem Rande gedieh, und dachte dabei zur Zeit namentlich an die Kämmerei-Ortschaften Wedding und Neu-Moabit, aber auch an Deutsch-Rixdorf.

Als Louis Krimnitz davon in der Zeitung las, fragte er sich unwillkürlich sogleich nach den Chancen, die sich ihm dadurch bieten könnten. Man würde, wenn alles wuchs, größere Rathäuser brauchen, neue Schulen, Wasserwerke und dergleichen. Und wenn er sich ranhielt, würde auch er ein paar Stücke vom großen Kuchen abbekommen. Die Redakteure gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die allgemeine Flaute bald vorüber sein und in den Sechzigerjahren ganz sicher der Aufbruch zu neuen Ufern erfolgen würde. Bis dahin galt es durchzuhalten. Wie aber? Krimnitz ging in sein Bureau hinüber, um die wichtigsten Bücher aus den Schubladen zu nehmen und noch einmal durchzusehen. Aber nicht hier unten, wo es kalt und ungemütlich war, sondern oben in der Küche, wo es dank Linas Kochmaschine auch jetzt noch mollig warm war. Außerdem gab es dort etwas zu essen und zu trinken.