Das Attentat auf die Berliner U-Bahn

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Das Attentat auf die Berliner U-Bahn
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Horst Bosetzky



Das Attentat

 auf die Berliner U-Bahn



Roman



Jaron Verlag







Taschenbuchausgabe



1. Auflage dieser Ausgabe 2015



© 2008 Jaron Verlag GmbH, Berlin



Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.



Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.





www.jaron-verlag.de





Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Fotos vom Siemensarchiv München



Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik,



1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015



ISBN 978-3-95552-212-4







Sich zu mühen und mit dem Widerstande



zu kämpfen ist dem Menschen Bedürfniß,



wie dem Maulwurf das Graben.





Arthur Schopenhauer






Inhalt





Cover







Titel







Impressum







Zitat







Eins -

1877







Zwei -

1878







Drei -

1879







Vier -

1880







Fünf -

1881







Sechs -

1883







Sieben - 1891







Acht -

1893







Neun -

1894







Zehn -

1895







Elf -

1896







Zwölf -

1896







Dreizehn -

1897







Vierzehn -

1898







Fünfzehn -

1899







Sechzehn -

1900







Siebzehn -

1900







Achtzehn -

1901







Neunzehn -

1901







Zwanzig -

1902







Nachwort zur Originalausgabe 2008







Literatur







Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen






Eins



1877





»Berlin braucht dringend eine Hochbahn!«, rief Germanus Cammer und erregte sich bei diesem Thema derart, dass er sich verschluckte und erst nach einem heftigen Hustenanfall fortfahren konnte. »Sonst erstickt es an seinem Straßenverkehr so wie ich an meinem Stück Buttercremetorte.«



Jeder, der an der Kaffeetafel saß, lachte auf und hielt das Ganze für ein Hirngespinst à la Jules Verne.



»Stellt euch bloß mal vor, Unter den Linden fährt ’ne Hochbahn!« Gustav Mahlgast, das Geburtstagskind, konnte sich darüber köstlich amüsieren. »Und wenn da ’n Rad abgeht, fällt es dem Alten Fritzen auf den Dreispitz.«



Germanus Cammer murmelte, sein Schwager möge nur aufpassen, dass bei ihm kein Rad ab sei, wurde dann aber wieder sachlich und verwies darauf, dass man in London schon seit vierzehn Jahren Dampfzüge durch Tunnelröhren fahren ließ, um auf den Straßen Platz für Menschen und Pferdefuhrwerke zu haben. »Aber ein Tunnel ist schnell verqualmt, und die Wände sind verrußt. Dem entgeht man, wenn man die Züge hoch über der Straße verkehren lässt, und so wird man in New York schon bald dampfbetriebene Hochbahnen haben.«



Hertha Mahlgast wies zum Belle-Alliance-Platz hinüber. »Ich möchte nicht, dass mir von dort Ruß und Dampf ins Zimmer gepustet werden. Und dazu der Lärm der Lokomotiven!«



»Das fällt alles weg, wenn wir die Züge mit einem elektrischen Antrieb versehen.« Germanus Cammer war Ingenieur und hielt den Anwesenden nun einen längeren Vortrag. Mit 33 Jahren, 1865, war er in die Firma Siemens & Halske eingetreten. Wie der Firmengründer selbst kam er vom Militär, hatte als Offiziersanwärter bei der Brandenburgischen Artillerie begonnen, war zur Artillerie- und Ingenieurschule nach Berlin entsandt worden und hatte dort seine Liebe zur elektrischen Telegraphie entdeckt. Ihr hatte er auch seine militärische Karriere geopfert und all seine Hoffnung auf Siemens gesetzt. Er war dabei, als Werner Siemens 1866 das dynamoelektrische Prinzip entdeckt und darauf basierend den Elektromotor entwickelt hatte. Schnell hatten Siemens und seine Ingenieure begriffen, dass man mit einem solchen Motor auch die Achsen schienengebundener Fahrzeuge antreiben konnte, wenn es denn gelang, sie während der Fahrt mit Strom zu versorgen. Bis dahin war es aber noch ein weiter Weg. Die Akkumulatoren, die man zur Verfügung hatte, waren viel zu schwach und so riesig, dass für die Passagiere kaum noch Platz geblieben wäre. Hier neue Lösungen zu finden wurde Germanus Cammers neue Leidenschaft, und so schwärmte er auch heute wieder von den ungeheuren Möglichkeiten der elektrischen Bahnen.



Mochten die Erwachsenen alldem auch noch so skeptisch gegenüberstehen, die beiden Knaben lauschten am Katzentisch mit heißem Herzen, denn Hermann und Ludolf waren leidenschaftlich angetan von allem, was auf Schienen fuhr.



Hermann Mahlgast, im Februar elf Jahre alt geworden, war eine behagliche Natur. Es gab Menschen, die ihn träge nannten, doch da irrten sie, es dauerte nur eine Weile, bis er sich in ungewissen Situationen einen Überblick verschafft und die optimale Reaktion herausgefunden hatte. Wie kein anderer verkörperte er das Prinzip »Erst wägen, dann wagen«. Dieser Charakterzug hatte sich schon in frühester Kindheit abgezeichnet, und er wurde immer ausgeprägter, je älter Hermann wurde. Seine Verwandten, Lehrer und Nachbarn führten es auf die Vererbung zurück, denn sein Vater, Archivsekretär im Preußischen Innenministerium, war die Ruhe selbst und gab mit feiner Selbstironie die Schnecke als sein Lieblingstier an. Seine Mutter kam von einem Bauernhof im Oderbruch, und von ihr hatte er das Bodenständige und die blonden Haare geerbt.



Ludolf Tschello, ein knappes Jahr älter als Hermann, war ein gefühlsbetonter und mitunter sehr impulsiver Mensch. Sprunghaft nannten ihn seine Lehrer, und oft genug bekam er für seine Vergehen gegen die Schuldisziplin die Haselrute zu spüren, oder er musste in der Ecke stehen und nachsitzen. Andererseits war er in der Auffassungsgabe allen anderen überlegen und wurde bei den allfälligen Visitationen des Herrn Oberschulrates gern als Musterschüler präsentiert. Hoch aufgeschossen war er, fast schon mager, und vom Typ her südländisch, was daher kam, dass seine Vorfahren väterlicherseits aus Österreich kamen. Sein Vater war Geiger in der Kapelle von Benjamin Bilse, seine Mutter war die Tochter eines Gutsverwalters aus der Gegend um den Schwielochsee.



Die beiden Jungen kannten sich von der Wiege an, denn schon ihre Mütter waren gemeinsam zur Schule gegangen.



Endlich war das förmliche Kaffeetrinken zu Ende, und sie hörten die erlösenden Worte, auf die sie schon so lange gewartet hatten: »Ihr könnt jetzt spielen gehen.« Und sofort waren sie im Treppenhaus und fegten auf die Straße hinunter. Das, was man ihnen hinterherrief, nahmen sie schon gar nicht mehr wahr, es war ja auch immer dasselbe: »Und passt auf, dass ihr nicht in den Kanal fallt!«



Gustav und Hertha Mahlgast, die besorgten Eltern, wohnten seit drei Jahren in der Tempelhofer Vorstadt, genauer gesagt in der Villensiedlung Wilhelmshöhe an der Tivoli-Brauerei, also da, wo die »besseren Leute« zu Hause waren: Beamte, Offiziere, Akademiker, Kaufleute und Handwerksmeister. Von der Belle-Alliance-Straße hatten es die beiden Jungen nicht weit bis zum Schöneberger beziehungsweise Tempelhofer Ufer und den Brücken, auf denen die Potsdamer, die Anhalter und seit kurzem auch die Wannseebahn die Straße überquerten. Natürlich war es strengstens untersagt, auf den Bahndamm zu klettern, um die vorbeihuschenden Züge aus nächster Nähe zu bestaunen, aber was scherte sie das. Und wenn sie auch nicht wussten, wann Julius Caesar ermordet worden war, wie die Hauptstadt Schwedens hieß und wie

cucullus non facit monachum

 zu übersetzen war, so hatten sie doch alles im Kopf, was die Berliner Bahnen betraf.

 



Was die beiden Jungen derzeit ganz besonders faszinierte, war der Bau des Anhalter Bahnhofs südlich des Askanischen Platzes. Sie freuten sich schon auf die Einweihung, die auf den Sommer 1880 terminiert war. Im letzten Jahr hatte man mit dem Abriss des alten Bahnhofs der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahn begonnen, und den Fahrgästen stand derzeit nur ein provisorischer Bahnhof an der Trebbiner Straße zur Verfügung. Manchmal stromerten die beiden Freunde aber auch zum Dresdener Bahnhof, der südlich der Luckenwalder Straße gelegen war, oder zum neuen Potsdamer Bahnhof, der von Kaiser Wilhelm I. am 30. August 1872 feierlich eingeweiht worden war. Damals hatten Hermann und Ludolf auf den Schultern ihrer Väter gesessen und aus der Ferne zugeschaut.



Hatten sie weniger Zeit, dann saßen sie, so wie heute, am Bahndamm der Anhaltinischen Bahn und warteten auf die Züge. Dabei gerieten sie immer wieder ins Fachsimpeln. Ob beispielsweise Dampflokomotiven mit Innenzylindern, wie sie die Engländer bauten, denen mit Außenzylindern überlegen waren.



»Die deutsche Technikerversammlung ist auch für Innenzylinder«, sagte Hermann Mahlgast. »Die Lokomotiven laufen ruhiger, weil die Lastenverteilung besser ist.«



»Aber wenn die Zylinder im Rahmen liegen, kommt man nicht an sie heran, wenn sie gewartet werden müssen oder wenn etwas kaputt ist!«, rief Ludolf Tschello. »Die Zukunft gehört dem Außenzylinder.«



»Du kriegst gleich einen auf den Zylinder!«



Hermann Mahlgast versuchte, dem Freund mit der rechten Hand auf die Mütze zu schlagen, doch der wehrte sich, und so war im Nu eine heftige Balgerei entstanden. Jeder wollte stärker und geschickter sein als der andere. Ihre Freundschaft war immer auch ein Wettbewerb und lebte davon, dass beide in etwa über dieselben Gaben verfügten und ein ständiges Gleichgewicht vorhanden war. Da sie beide sehr aneinander hingen, spürten sie instinktiv, dass alles aus sein konnte, wenn einer unterlag, denn beide konnten es nicht ertragen, nur Anhängsel des anderen zu sein.



So kämpften sie auch heute auf dem Bahndamm mit einer Intensität, die einem Außenstehenden unverständlich sein musste. Wer sie ohne Kenntnis des Hintergrundes miteinander boxen und ringen sah, hätte sie für erbitterte Feinde halten können.



Nach ein paar Augenblicken hatten sich Hermann und Ludolf so ineinander verbissen, dass sie gar nicht merkten, wie sie auf die Gleise gerieten. Man konnte sich an den Schwellen und Schienen so schön abstoßen, wenn man auf den anderen eindrang. Und sie schrien bei ihren Attacken so laut, dass sie die warnenden Pfiffe eines von Steglitz herannahenden Personenzuges überhaupt nicht bemerkten. Bremsen kreischten.



Zu spät. Dem Lokführer blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen …



Bei der Geburtstagsfeier im Hause Mahlgast ging es fröhlich zu, seit der Hausherr sein Likörschränkchen geöffnet hatte, und wer jetzt das Wort ergriff, um ernsthaft über ein Thema zu sprechen, musste damit rechnen, mit einer launigen Bemerkung unterbrochen zu werden.



»Ihr werdet sehen: Bis wir das Jahr 1900 haben, hat Siemens ganz Berlin mit einem Netz von Hochbahnen überzogen«, sagte Germanus Cammer.



»Hoch soll sie leben«, wurde daraufhin gesungen, »dreimal hoch! Hoch, hoch, hoch – die Bahn!«



Hertha Mahlgast berichtete davon, wie sie in der letzten Woche beim Besuch einer Base in Wilmersdorf gesehen habe, dass der westliche Abschnitt der Ringbahn seiner Vollendung entgegengehe. »Da kann man in einem Zug einmal um Berlin herumfahren.«



»Und was hast du davon, wenn du da wieder ankommst, wo du gerade losgefahren bist?«, fragte ihr Mann.



»Richtig«, stimmte der Ingenieur Cammer ihm zu. »Wenn A und B identisch sind, brauchen wir weder Dampf- noch elektrische Bahnen, ja nicht einmal Pferde und Kutschen.«



Seine Frau konnte sich über diese Sicht der Dinge wie immer nur echauffieren. »Man besteigt doch einen Zug nicht nur, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen, sondern um etwas zu erleben: eine idyllische Landschaft, eine Reisebekanntschaft, die einen befruchten kann …«



Gustav Mahlgast prustete los. »Also, liebe Schwägerin, ich möchte nicht, dass meine Hertha auf einer Reise von einer Bekanntschaft befruchtet wird.«



»Psst, Gustav, es sind Kinder im Hause!«



Waren sie aber nicht, und erst jetzt fiel den Erwachsenen ihre Abwesenheit auf. Hermann und Ludolf hätten schon längst wieder zu Hause sein müssen.



»Es wird ihnen doch nichts passiert sein …« Hertha Mahlgast war einer Ohnmacht nahe.



Germanus Cammer versuchte, sie zu beruhigen. »Die beiden sind doch verrückt nach ihrer Eisenbahn, da werden sie gar nicht auf die Zeit geachtet haben.«



»Vielleicht sind sie auch auf einen haltenden Zug aufgesprungen und zum Bahnhof mitgefahren«, sagte Gustav Mahlgast. »Das haben sie schon ein paar Mal gemacht, obwohl ich es ihnen streng verboten habe.«



Hertha Mahlgast schob die beiden Männer zur Tür. »Los, lauft zum Bahndamm, sie suchen!«



Einer der Gäste war ans Fenster getreten, um auf die Straße hinunterzuschauen. Vielleicht waren die beiden Jungen ja gerade im Anrücken. Doch was er sah, war lediglich ein Schutzmann, der gerade in der Haustür verschwand. Also rief er ins Zimmer: »Die Polizei!«



In diesem Augenblick wurde auch schon an der Wohnungstür geläutet, und alle erstarrten, weil sie dasselbe dachten: Jetzt kommt die Polizei, um zu melden, dass den Jungen etwas Schreckliches passiert war. Hertha Mahlgast fiel nun wirklich in Ohnmacht. Und während sich die Frauen um sie bemühten, ging Germanus Cammer zur Tür. Er glaubte, die stärksten Nerven zu haben. Doch auch er zögerte. Im Stillen dankte er Gott, dass seine Kinder nicht mitgekommen waren. Aber sein Schwager hatte keinen Kindergeburtstag feiern wollen. Nur Ludolf Tschello war zugelassen worden, weil dessen Eltern an diesem Tage nicht in der Stadt waren.



Nun hatte auch Gustav Mahlgast die Kraft gefunden, sich aus seiner Erstarrung zu lösen, und beide zusammen öffneten die Tür zum Treppenhaus – um sofort zusammenzuzucken, denn der Schutzmann sah wirklich so aus, als würde er eine schreckliche Nachricht überbringen.



»Herr Mahlgast …?«



»Ja …«



»Es tut mir sehr leid, aber …«



»Hermann und Ludolf sind tot!«, schrie Gustav Mahlgast.



»Nein, aber sie liegen im Krankenhaus. Ein Zug hat sie erfasst und zur Seite geschleudert.«



»Mein Gott! Wie schlimm ist es denn?«



»Nicht so schlimm, dass sie …« Der Schutzmann kam ins Schwitzen und musste sich erst einmal mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn tippen. »Nur ein bisschen was am Kopf, soweit ich weiß, und ein bisschen was gebrochen.«



»Ein bisschen was gebrochen?«, wiederholte Gustav Mahlgast.



»Wo liegen sie denn?«, fragte sein Schwager.



»Im Krankenhaus Bethanien.«



Sie brauchten eine gute Viertelstunde, bis der eilig herbeigerufene Hausarzt Hertha Mahlgast mit Hilfe einiger Duftstoffe und einer speziellen Medizin so weit wiederhergestellt hatte, dass sie es wagen konnte, mit einer Droschke ins Krankenhaus zu fahren.



Als sie am Mariannenplatz eintrafen, stießen sie mit Auguste Tschello zusammen. Diese hatte ihren krank gewordenen Vater am Schwielochsee besucht und war gerade nach Hause gekommen, als ein Schutzmann bei ihr am Klingelzug riss, um ihr mitzuteilen, was ihrem Sohn widerfahren war.



Die beiden, Hertha und Auguste, lagen sich in den Armen und schluchzten.



Gustav Mahlgast und Germanus Cammer verdrehten die Augen. Dass sich die Frauen immer so haben mussten! Schließlich war die Sache ja noch einmal glimpflich abgegangen.



»Nun kommt mal langsam ins Krankenhaus rein, die Kinder warten sicher schon auf uns.«



Das taten sie aber nicht. Sie lagen vielmehr auf ihren Betten und spielten schon wieder trotz ihrer Verbände – aber Hochbahn, nicht Eisenbahn. Von der hatten sie vorerst die Nase voll.



»Bahnhof Schloßplatz!«, rief Hermann Mahlgast. »Alles aussteigen, Zug endet hier!«



Ludolf Tschello tippte sich mit der linken Hand, soweit er sie trotz seines Gipsverbandes bewegen konnte, gegen die Stirn. »Schloßplatz wird doch nie ’ne Hochbahn erhalten. Meinst du denn, der Kaiser wird sich den schönen Ausblick verbauen lassen?!«



»Bei mir fährt der Kaiser selber Hochbahn.«



»Erst fahren doch mal seine Minister zur Probe, um zu sehen, ob der Zug auch nicht runterfällt.«



Hermann Mahlgast war diesmal kompromissbereit. »Na schön: Alles einsteigen zur Ministerfahrt!«




Zwei



1878





Georg Grasmuck war 1840 als Sohn eines Großbauern in Radensleben geboren worden. Nahebei, in Wustrau, lag das Schloss des legendären Reitergenerals Hans Joachim von Ziethen, der Friedrich dem Großen zu manchem Sieg verholfen hatte. So zog es denn auch Grasmuck zu den Husaren, und während seines Militärdienstes entdeckte er seine Liebe zu den Pferden. Er pflegte, streichelte und liebkoste sie weit mehr, als es zu seinen Pflichten gehörte, und er besaß das, was die Leute einen Pferdeverstand nannten. Es gab kein Trinkgelage, bei dem nicht darüber gespottet wurde, dass er es gelegentlich sogar mit seiner Lieblingsstute triebe wie mit einem Weibe. Das mit der Sodomie war zwar nichts weiter als üble Nachrede, aber Grasmuck begriff schnell, dass er sich dagegen nur wehren konnte, wenn er zum einen heiratete und zum anderen seinen Mitmenschen verständlich machte, dass ein Pferd für ihn nichts anderes sei als ein Gegenstand, mit dem sich Geld verdienen ließ. So stürzte er sich in die Pferdezucht und schaffte es nach einigen Jahren, ein Gestüt in der Nähe von Neuruppin und eines im Dorf Lübars im Norden Berlins sein Eigen zu nennen. Aber damit nicht genug, er erwarb Anteile an den Pferdebahnen, die ab 1865 überall in Berlin und seinen Vororten gegründet wurden.



Kurzum, Georg Grasmuck war so gut im Geschäft, dass es zu einem stattlichen Haus am Kupfergraben gereicht hatte. Zu dem, was er mit Pferden und Pferdebahnen verdiente, kamen noch die Einnahmen aus einem Fuhrgeschäft, und wenn sich die Dinge weiter so entwickelten wie bisher, konnte er durchaus damit rechnen, an seinem fünfzigsten Geburtstag zum Kommerzienrat ernannt zu werden. Aber schon heute hatte er allen Grund, mit stolzgeschwellter Brust Unter den Linden zu flanieren. Er war halt wer.



Seine Frau war seit Ostern zur Kur in Karlsbad, um ihre chronisch werdende Bronchitis auszukurieren, und Grasmuck nutzte ihre Abwesenheit, um wie ein Junggeselle durch die Stadt zu schlendern und nach hübschen weiblichen Wesen Ausschau zu halten.



Doch wem lief er gegenüber der russischen Botschaft in die Arme? Keiner der

marchandes d’amour

, sondern seinem Intimfeind Germanus Cammer. Seit Jahren schon kämpften sie um die Vorherrschaft im Berliner Musikantenbund »Äolsharfe«. Jeder wollte das Sagen haben, und ihr Streit war bereits so weit eskaliert, dass sie sich in aller Öffentlichkeit Prügel androhten. Man hatte sie auch flüstern hören, den anderen eines Tages umbringen zu wollen. Sie hätten sich längst duelliert, wäre das noch möglich gewesen.



»Sie hier?«, fragte Grasmuck. So einfach aneinander vorbeigehen konnte man auch nicht, die Form musste schließlich gewahrt werden.



»Ich konnte doch nicht wissen, dass Sie auch …« Cammer war sichtlich verlegen und fürchtete, sich lächerlich zu machen, wenn er jetzt die Flucht ergriff.



»Kommen Sie nächsten Dienstag zur Chorprobe?«, fragte Grasmuck, denn ein wenig Konversation gehörte dazu, wenn gebildete Menschen sich trafen. Früher hatte man sich geduzt, dann aber in kurzen Briefen den anderen gebeten, bitte wieder zum Sie zurückzukehren.



Cammer verbeugte sich mit leichter Selbstironie. »Ja, selbstverständlich. Ich kann doch die ›Äolsharfe‹ nicht ihres besten Tenors berauben.«



Schon fühlte sich Grasmuck getroffen. »Wer der beste Tenor ist, sollten wir die Fachleute beurteilen lassen, und ich glaube, die sprächen sich einvernehmlich …«



Weiter kam er nicht, denn drüben auf der anderen Straßenseite wurden Hochrufe laut. Kaiser Wilhelm I. fuhr in einem offenen Wagen vorüber. Beide rissen ihre Hüte hoch, um in den Jubel der anderen Passanten einzustimmen.



Da fielen plötzlich Schüsse. Dreimal knallte es kurz und trocken. Alles schrie auf: »Der Kaiser!«



Doch der war nicht getroffen worden, und trotz des unbeschreiblichen Getümmels hatte man den Attentäter schnell ergriffen. Schutzleute stürzten herbei.



Auch Grasmuck und Cammer waren schockiert. Jeder wurde augenblicklich in den Strudel der Emotionen gerissen.

 



»Dass es dazu kommen musste!«, rief Grasmuck.



»Man darf es nie so weit kommen lassen, dass man den anderen derart hasst«, sagte Cammer. »Wir beide sollten das als Zeichen des Himmels nehmen und zusehen, dass wir unseren Frieden miteinander machen.«



Gottfried Ruppin fragte sich immer wieder, ob es wirklich eine kluge Entscheidung gewesen war, von Wolfshagen nach Berlin zu gehen. Als Kossät hatte er in der Prignitz ein elendes Leben geführt – zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel –, aber wenigstens hatte er in frischer Landluft schuften dürfen, während es in Berlin mit dem Mief immer schlimmer wurde, seit die Fabriken wie Pilze aus dem Boden schossen. Das wäre nun das Letzte für ihn gewesen, bei Schwartzkopff oder Borsig Tag für Tag in der Fabrikhalle zu stehen – dann schon lieber Straßen- oder Hochbau.



Mit seinem Kollegen Carl Eichstädt kniete er an diesem Tage am Droschkenhalteplatz vor dem Stettiner Bahnhof, um Schäden im Pflaster zu beseitigen. Sie hatten ihren Arbeitsplatz auf Geheiß eines Schutzmannes mit einigen Dachlatten ordnungsgemäß abgesperrt, bildeten aber gerade dadurch für alle Fußgänger ein erhebliches Hindernis und wurden von den Gepäckträgern und ankommenden Reisenden teils übel beschimpft.



»Passt bloß uff, ihr …!«, drohte Carl. »Sonst begehe ick heute noch mein ersten Mord!«



Gottfried Ruppin machte eine Handbewegung, die seinen Kollegen beschwichtigen sollte. »Nich so laut!« Der andere hatte nämlich schon einige Male wegen verschiedenster Roheitsdelikte im Zuchthaus gesessen, und bei der letzten Verhandlung hatte der Richter ihm angedroht, ihn für immer einzubuchten, sollte er sich noch einmal etwas zuschulden kommen lassen.



»Ach, halt’s Maul!« Carl warf eine schwere Gehwegplatte so heftig in den lockeren weißen Sand, dass diese viel zu tief einsackte und er sie wieder anheben und neuen Sand aufschütten musste, um den Schaden zu beheben.



Gottfried Ruppin konzentrierte sich auf sein kleinteiliges Pflaster. So einfach, wie es den Eindruck machte, war es nämlich gar nicht, einen Bürgersteig so herzurichten, dass er halbwegs glatt aussah. Nicht jede Unebenheit ließ sich später mit einer Walze oder einem Stampfer wieder ausgleichen. Und waren die Fugen zwischen den Steinen zu groß, kippten die Steine, wenn sie stark belastet wurden, zur Seite, und es gab bald ein großes Loch, denn kein richtiger Junge ließ sich die Gelegenheit entgehen, Steine aufzuklauben, wenn sie locker waren. Man konnte mit ihnen etwas bauen, man konnte sie als Wurfgeschosse benutzen. Dies ging Ruppin durch den Kopf, während er nach passenden Steinen suchte und sie dann mit einem leichten Hammerschlag zu den anderen in den Boden versenkte, immer abgelenkt durch die Menschen, die an ihm vorübereilten: Männer, die sich wichtig machten, Frauen, die zu schön waren, als dass er sie nicht bestaunt hätte. Wer auf dem Stettiner Bahnhof ankam und viel Gepäck bei sich trug, musste sich bei einem Schutzmann eine Droschkenmarke aus Blech beschaffen. Ohne Gepäck hatte man eine Marke 1., mit Gepäck eine 2. Klasse zu verlangen. Das aufgegebene Gepäck besorgte dann der Gepäckträger und rief am Droschkenhalteplatz laut die Nummer der Droschke. Die Marke hatte man dem Kutscher nach Besteigen des Gefährts auszuhändigen.



»Mistsau, du!«, fluchte Carl, denn eines der Droschkenpferde hatte, bevor es lostrottete, noch schnell abgeprotzt und eine fette Ladung Mist neben ihm aufs Pflaster gesetzt. Es spritzte bis zu seinen Hosenbeinen.



»Wenn die richtigen zu teuer sind, bleiben uns nur die Pferdeäppel«, sagte Gottfried Ruppin und legte dann, indem er sich ein wenig aufrichtete, die Hand an den Mützenschirm, denn den jungen Bankangestellten, der da aus der Bahnhofshalle kam, kannte er gut. »Hallo, Herr Bernstein!«



Eduard Bernstein, der später als Theoretiker des revisionistischen Flügels der SPD bekannt werden sollte, freute sich über das Echo der arbeitenden Masse und grüßte zurück.



Gottfried Ruppin hatte ihn im Frühjahr als Dozenten im Arbeiterbildungsverein in der Seydelstraße 8 erlebt, gleich am Spittelmarkt. Der Verein der Freunde der Gerechtigkeit, den die meisten als Mohren-Club kannten, weil er in einem Bierlokal in der Mohrenstraße tagte, hatte ihn gegründet, durchweg linksliberale Studenten und Referendare.



Schon früh tauchte der Name Gottfried Ruppin in den Akten der Abteilung VII auf, der politischen Polizei, genauer gesagt am 31. Juli 1872. Damals war er, gerade siebzehn Jahre alt geworden, im Berliner Osten im wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden gegangen. Er hatte in der Kleinen Andreasstraße gewohnt und wie alle Arbeiter ringsum unter den elenden Wohnungen, dem Mietwucher und den Zwangsräumungen gelitten. An der Ecke Blumen- und Krautstraße hatten sich viertausend Arbeiter zusammengefunden – »zusammengerottet«, wie es in den Polizeiberichten hieß –, um gegen die Hauswirte zu protestieren. Als man einigen von denen die Scheiben eingeworfen hatte, war die Polizei angerückt – und mit einem Steinhagel empfangen worden. 159 Demonstranten waren durch Säbelhiebe verletzt, 80 verhaftet worden, unter den Letzteren auch Gottfried Ruppin. Vor Gericht war er nicht gekommen, aber ein Stellmacher, ein Droschkenkutscher, ein Maurer, ein Schlosser und ein Appreteur waren zu je viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden.



Glück hatte er auch am 18. März 1873 gehabt, dem 25. Jahrestag der Berliner Märzrevolution. Damals war er zusammen mit zwanzigtausend Lassalleanern vom Gartenlokal der Aktienbrauerei Friedrichshain zum Friedhof der Märzgefallenen gezogen und hatte mit entblößtem Haupt die »Arbeiter-Marseillaise« gesungen. Da die Obrigkeit die Demonstration nicht genehmigt hatte, gab es am Landsberger Thor eine Säbelattacke der berittenen Polizei. Die Arbeiter flüchteten zwar, konnten aber die Polizisten mit einem Steinhagel in Schach halten. »Ich bin jetzt mehr Steinwerfer als Steinsetzer«, sollte Gottfried Ruppin am Abend erklären.



Sein drittes großes Recontre mit der Polizei hatte er am 19. März 1877 an der Landsberger, Ecke Lichtenberger Straße. Angefangen hatte alles am Alexanderplatz, wo polnische Arbeiter dabei waren, zu Niedrigstlöhnen die Schienen der neuen Pferdebahn zu verlegen. Das wollten sich die Berliner Arbeitslosen nicht gefallen lassen. Etwa zweitausend von ihnen, darunter auch Gottfried Ruppin, besetzten den Platz, um die Gleisbauarbeiten zu verhindern. »Wir wollen Arbeit haben!«, riefen sie. »Lieber lassen wir uns einsperren, als dass wir verhungern!« Wieder war die berittene Polizei zur Stelle und trieb die Menge vor sich her.



»Feierabend!«, rief Carl Eichstädt und machte sich daran, die Gerätschaften in eine kleine Bude zu tragen und einzuschließen. »Kommste mit, ’n Bier saufen?«



»Nee danke, ich treff mich mit Paula.«



Carl lachte. »Steck ’n schönen Gruß mit rein!«



Gottfried Ruppin wusste darauf nichts zu erwidern, zog seine Jacke über und machte sich auf den Heimweg. Der Stettiner Bahnhof war von der Parochialstraße nicht so weit entfernt, als dass er den Weg nicht zu Fuß geschafft hätte. Das Geld für die Pferdebahn sparte er gern. Das Haus, in dem er Stube und Küche gemietet hatte, war ein schmales Handtuch, hatte nur einen winzigen, lichtlosen Hof und hätte eigentlich schon längst abgerissen werden müssen. So ärgerte er sich auch über den Sonntagsmaler, der vor seiner Haustür hockte und versuchte, die Parochialstraße mit der Nikolaikirche im Hintergrund auf die Leinwand zu bringen.



»Wir müssen hier in den Rattenlöchern vegetieren, und Sie kommen her und …« Die richtigen Worte fehlten ihm an dieser Stelle, und er hoffte, dass sie ihn und einige begabte Genossen im neuen Arbeiterbildungsverein auch schulen würden, um bessere Redner aus ihnen zu machen. »Rhe … Rhe …?« Er kam nicht darauf, wie der Fachbegriff dafür hieß.



Der Maler, offenbar ein Lehrer, ließ sich nicht davon abbringen, für sein Motiv zu schwärmen. »Das müssen Sie verstehen, mein Herr, das ist doch hier viel schöner als auf dem Montmartre mit seiner Kirche Sacré-Cœur.«



Gottfried Ruppin ging weiter, freute sich aber, dass die wackere Mutter Scholz mit ihrem Krückstock in einen frischen Haufen Hundekacke fuhr und ihn dem Kunstmaler vor die Nase hielt: »Kacke am Stock is ooch ’n Bukett. Det malen Se mal!«



Er wollte gerade in seine Haustür treten, als er Paula die Straße heraufkommen sah, einen Einkaufskorb in der Hand. Mit beiden Armen winkte er ihr zu. »Das ist ja eine Überraschung!«



Paula Plötzin stammte aus einer zwölfköpfigen Familie und war in einem Hinterho